Editorial
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich der Westen an viele neue Ländernamen gewöhnen müssen. Kriegerische Konflikte wie in Armenien und Moldawien oder gelungene wie verpasste Revolutionen in Georgien oder Weißrussland steigerten ihren Bekanntheitsgrad. In all den Jahren aber blieb Zentralasien ein blinder Fleck. So als existiere nicht, was nicht in den Nachrichten vorkommt: Welche Länder gehören überhaupt zu Zentralasien? Wo liegt das noch einmal genau? Wer lebt da? Spätestens nach dem 11. September begann das Interesse des Westens an Zentralasien zu wachsen. Die Region grenzt an Afghanistan, Länder wie Usbekistan und Tadschikistan haben mit dem erwachenden Islam nach der Zeit der sowjetischen Unterdrückung zu kämpfen, die USA fürchten eine neue Front im Antiterror-Kampf. Steigende Energiepreise und der Wettlauf um die letzten Ölressourcen machen Kasachstan und Turkmenistan zu begehrten Partnern. Es heißt, die USA, Russland und China spielten in Zentralasien ein neues "Great Game" um Macht und Einfluss. Amerika hat die geostrategische Bedeutung der Region erkannt, Russland wärmt die alte Verbundenheit zu den ehemaligen Sowjetrepubliken auf, China überschwemmt die Märkte seiner zentralasiatischen Nachbarn mit billiger Massenware und baut Ölpipelines. Die so genannte Tulpenrevolution in Kirgisistan schließlich weckt in Europa Hoffnungen, die autokratischen Regime Zentralasiens könnten doch den Weg zu mehr Demokratie gehen. Der Bundestag debattiert über die Zukunft der Region, streitet über die wirtschaftlichen Chancen und die Bedrohung durch Unterdrückung und Islamismus. Aufgrund deutscher Initiative bemüht sich Europa um eine gemeinsame Zentralasien-Strategie, die am Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorgestellt werden soll. Sie soll der Kern einer neuen EU-Ostpolitik werden. Doch warum muss sich Europa um Zentralasien kümmern? Einmal schlicht: weil es alle anderen längst tun. Siehe USA, Russland, China. Dann aber auch, weil Europa Interessen in der Region hat: Handel und Energieversorgung, Stabilität und Drogenbekämpfung. Und nicht zuletzt, weil es ein ehrlicher Partner für die zerfaserte Region sein könnte: Der Abbau von Zöllen, die Kooperation in Fragen der Sicherheit, der Wandel von zerstrittenen Nachbarn hin zu einer stabilen partnerschaftlichen Region ist im Interesse Zentralasiens. Europa kann hier Vorbild sein und Deutschland der Animateur. Deutschland ist das einzige Land der Europäischen Union, das in allen fünf Hauptstädten Zentralasiens Botschaften unterhält, es genießt ein hohes Ansehen, sein Interesse wird als ehrlich empfunden. Genau der richtige Zeitpunkt also, um Zentralasien vorzustellen: seine Geschichte und Politik, seine Kultur und seine Konflikte. Welche Länder gehören noch einmal zu Zentralasien? Kasachstan, Kirgisis-tan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, ein Gebiet so groß wie Europa, in dem aber lediglich 60 Millionen Menschen wohnen. Zeit, ihnen einen Besuch abzustatten.