Nach der Niederlage der preußischen Armee gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 schien Preußen am Ende zu sein. Zu offenkundig für jedermann war, dass das vom Sieger zutiefst gedemütigte, in seinem Territorium nahezu halbierte Land nur durch grundlegende Reformen wieder auf die Beine kommen konnte. Und in der Tat erstaunt bis heute, mit welcher Energie diese in den folgenden Jahren eingeleitet wurden - mit einer Energie, die sich abseits der starren Systeme des Hofes und der Armee aufgestaut hatte, sei es in Staat und Verwaltung (Heinrich Friedrich Karl vom Stein/Karl August von Hardenberg), im Militärwesen (Gerhard von Scharnhorst/August Neidhardt von Gneisenau) oder im Bildungsbereich (Wilhelm von Humboldt).
"Als Poesie gut" - unter diesem Titel hatte der Schriftsteller Günter de Bruyn im vergangenen Jahr ein umfangreiches Buch veröffentlicht, in dem er rund 50 "Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807" - so der Untertitel - schilderte. Neben jenen von Johann Gottfried Schadow, Carl Gotthard Langhans, Friedrich Gilly, Wilhelm von Humboldt, Henriette Herz und Rahel Varnhagen beleuchtet de Bruyn zahlreiche weniger bekannte Biographien aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. In der Summe zeigen diese, in welch ungewöhnlich intensiver Aufbruchstimmung sich die Stadt um die Jahrhundertwende befand und welche außerordentlichen kulturellen Leistungen diesem damals in Deutschland einzigartigen Milieu entsprangen.
Was der seit langem zur preußischen Kulturgeschichte arbeitende Schriftsteller gewissermaßen als "Einzelkämpfer" mit großem Einfühlungsvermögen zusammengetragen hat, das versucht die Wissenschaft - ebenfalls in Berlin - nun schon seit mehreren Jahren systematisch zu erforschen. Seit dem Jahre 2003 gibt es an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) das Projekt "Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800". Es soll Quellen und Archivalien zu eben dieser Zeit erschließen, vor allem aber in geschichtskritischer Absicht anschaulich machen, dass es um 1800 nicht nur ein herausragendes kulturelles Zentrum in Deutschland - Weimar - gegeben hat, sondern eben zwei, die natürlich teils ähnlich, teils aber auch ganz unterschiedlich strukturiert waren.
Angeregt hat das Projekt der Literaturwissenschaftler Conrad Wiedemann, Emeritus der Technischen Universität Berlin. Nach einer dreijährigen Vorbereitungsphase wurde das Vorhaben im Jahre 2003 formal institutionalisiert, und zwar als Langzeitprojekt der Union der Wissenschaftsakademien in Deutschland, in der alle sieben Akademien (Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz und München) zusammengefasst sind. Derzeit arbeiten drei Wissenschaftler zu unterschiedlichen Themen; für weitere zehn Untersuchungen wurden Forschungsaufträge vergeben. Bis zum Jahr 2011 soll das Projekt laufen, möglicherweise sogar bis 2014.
Die genaue "Geburtsstunde" des Vorhabens vermag Wiedemann gar nicht mehr genau zu nennen. Möglicherweise war es um das Jahr 1999, als die Feiern zum 250. Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes für das wieder vereinte Deutschland auch so etwas wie eine Selbstvergewisserung seines klassischen, in Weimar repräsentierten Erbes wurden. Es war ja längst bekannt, welche große Anzahl geistreicher Persönlichkeiten und welche Fülle kultureller Einrichtungen die preußische Residenzstadt um 1800 beherbergte. Nirgends war die Zahl intelligenter Köpfe größer als hier, wovon ein kurzes Nachdenken zugleich überzeugt: Gelehrte: die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, der Altertumswissenschaftler Reinhold Niebuhr, der Jurist Friedrich Carl von Savigny, der Gymnasialdirektor und Schulreformer Friedrich Gedike; Politiker und Militärs: Heinrich Friedrich Carl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August Fürst von Hardenberg, August Neidhardt von Gneisenau, Gerhardt von Scharnhorst und Carl von Clausewitz; Philosophen: Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher; Bildende Künstler: Johann Gottfried Schadow, Christian Daniel Rauch, Vater und Sohn Gilly, Carl Gotthard Langhans (Erbauer des Brandenburger Tores), Karl Friedrich Schinkel; Schriftsteller: Karl Philipp Moritz, Ludwig Tieck, Wilhelm Wackenroder, Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, E.T.A. Hoffmann; Theater und Musik: August Wilhelm Iffland, Karl Friedrich Zelter, Johann Friedrich Reichardt; Bedeutende Frauen: Henriette Herz, Rahel Levin-Varnhagen, Caroline von Humboldt, Bettina von Arnim, Königin Luise.
Sie alle sind längst keine Unbekannten mehr, über fast jede und jeden gibt es eine umfangreiche Literatur und sorgfältige Werkausgaben. Aber auffallend ist, so sagt Conrad Wiedemann, dass dies fast immer Einzelforschung geblieben ist, so wie auch Günter de Bruyns großes Buch die Personen eher aneinander reiht als dass Querverbindungen und Zusammenhänge sichtbar würden. Das aber sei doch der entscheidende Punkt: Die außerordentliche kulturelle Vielfalt, die Quantität von Personen, Ideen und Einrichtungen schlug ganz offensichtlich in Qualität um. Wiedemann: "Realiter ist das klassische Berlin das erste deutsche Versuchslabor urbaner Modernisierung." Anders gesagt: Im Berlin um 1800 zeigt sich die erste großstädtische Bürgerkultur in Deutschland.
Immer wieder müssen sich die Berliner Wissenschaftler die Frage gefallen lassen, ob es ihre Intention sei, Weimar und damit die Weimarer Klassik mit ihren großen Namen zu relativieren. Und ebenso beharrlich weisen sie diesen Verdacht immer wieder zurück. "Goethe ist konkurrenzlos", sagt Wiedemann, "das ist gar keine Frage." Im Rechenschaftsbericht 2007 der Berliner Akademie, der dieser Tage erschienen ist, schreibt er dazu:
"Weimars soziokulturelle Einzigartigkeit verdankt sich zweifellos der Entscheidung Goethes, sein künstlerisches Schicksal nicht an eine der größeren Bürger- oder Residenzstädte des Reiches, sondern eines der landestypischen und politisch unbedeutenden Kleinfürstentümer zu binden (...) Alles weist darauf hin, dass Goethe der personellen und machtfernen Intimität der kleinen, dynastisch regierten Landschaft die größte kulturelle und moralische Kraft zugestand, die das in Auflösung begriffene Reich zu bieten hatte. An eine Rückzugsbewegung zu denken, wäre jedenfalls falsch. Zwar gleicht seine Weimar-Vision einem kulturellen Reservat, doch ist von Beginn an eine exemplarische Außenwirkung im Spiel. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den nationalen und sogar europäischen Führungsansprüchen, die um 1800 vom klassischen Weimar und idealistischen Jena erhoben wurden... Es ging, wenigstens temporär, um nichts Geringeres als die Ersetzung des Staates durch die Kulturnation. Es zeigt aber auch, dass der Adressat dieser Vision nicht die Zivilgesellschaft, sondern eine sehr spezifische kulturelle Elite war, die sich ihrerseits in Weimar und Jena figuriert sah. Impulse für eine moderne Umbildung der Gesellschaft sind von dort jedenfalls kaum ausgegangen." 1
Genau diese aber - Visionen für eine bürgerliche Zivilgesellschaft - seien von Berlin ausgegangen; keine weltbürgerliche Absicht habe dahinter gesteckt, sondern einfach die Tatsache, dass nach 1786, nach dem Tod Friedrich des II., das bis dahin gefesselte Emanzipationsbedürfnis der Berliner Intelligenz geradezu "explosionsartig" freigesetzt worden sei. In der Tat gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür, wie sehr das Regierungssystem Friedrichs in dessen letzten Lebensjahren mehr und mehr erstarrte. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II öffnete, ohne es wohl dezidiert gewollt zu haben, durch größere Liberalität die Schleusen für eine bis dahin gänzlich unbekannte bürgerliche Geselligkeit, die in den folgenden Jahrzehnten das Bild der Stadt prägte, die ihr Ideal in einer konsequenten Ich-Verwirklichung sah und in ihrer sozialen und intellektuellen Ausstrahlung nichts Vergleichbares hatte.
Nicht irgendwelche Animositäten gegenüber Weimar oder gar "Berliner Großmannssucht" bestimmten also die Überlegungen zu diesem Projekt, sondern eben das Erstaunen, wie wenig die bekannten Einzelphänomene bisher zusammengesehen wurden. In der Vorbereitungsphase hatte sich Wiedemann mit zahlreichen Akademiemitgliedern aus anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Klassen beraten, um die "dem disziplinären Tunnelblick weitgehend verborgene Fülle synchroner innovativer Ideen und Experimente" für die Forschung zu entdecken. Gleichsam als Fazit wird auf der Website der Akademie festgehalten:
"Da es markante ideen- und kunstgeschichtliche Gemeinsamkeiten zwischen Weimar und Berlin gibt, mussten die Kriterien der Berliner Anders- und Eigenwertigkeit zunächst aus dem Vergleich heraus entwickelt werden. Dabei traten in der Tat zwei völlig konträre Kulturtypologien zutage. Während die Weimarer Klassik` sich nur am äußersten Rande der Zeitgeschichte bewegt, bleibt die Berliner Klassik` getreu ihrer friderizianischen Vorgeschichte dramatisch in sie verwickelt. Während in Weimar ein kleiner, relativ homogener und immobiler Personenkreis in einem fast gesellschaftslosen Raum agiert, herrscht in Berlin das Stimmen- und Interessengewirr einer multiplen Kulturlandschaft. Während in Weimar ausschließlich das Medium Literatur und die integrative Gestaltungskraft einer Ausnahmepersönlichkeit (Goethe) bestimmend ist, sind in Berlin mehr oder minder alle Künste, Disziplinen, Stände und Geistesrichtungen der Zeit prominent vertreten und die traditionellen Grenzziehungen, nicht zuletzt die sozialen, weitgehend dispensiert. Weimar stellt sich somit als soziales Kunstgebilde (ein zusammengerufener Musenhof) und als Wunschbild einer machtgeschützten deutschen Provinzialkultur dar, während Berlin aus der gewachsenen Tradition einer höfisch-bürgerlich-deutsch-französisch-jüdischen Aufklärung schöpfen kann und seine auffällig pragmatischen Emanzipationsentwürfe in Kunst, Wissenschaft und Politik im kulturkämpferischen Klima einer vitalen Stadtgesellschaft hervorbringt." 2
Die Berliner Wissenschaftler ziehen daraus die Schlussfolgerung: "Berlin ist um 1800 eine genuine Parallele und Alternative zum Geist von Weimar/Jena, in vielem verwandt, in vielem konträr. Im Hinblick auf seine Institutionen und normenbildende Kraft (Universität, Salon, Kunst- und Wissenschaftsautonomie), seine praktizierte Toleranz, seine juden- und frauenemanzipatorischen Erfolge und seine experimentelle Kunstpraxis ist es zweifellos moderner." 3 Welches könnten nun die soeben erwähnten "Ideen", vor allem aber die konkreten "Experimente" sein, die sich an dieser kulturellen Gemengelage festmachen lassen? Im Akademiebericht werden als Beispiele genannt: - der Philosoph (und Lessingfreund) Moses Mendelssohn für die beginnende Emanzipation der Juden in Berlin, was sich in den Salons oder besser: in den Personen der Henriette Herz und Rahel Levin-Varnhagens fortsetzt und am deutlichsten manifestiert. Der Schlusspunkt war dann das Gleichstellungsgesetz für die Juden von 1812. - die Herleitung der bürgerlichen Selbstbestimmung aus der athenischen polis`, wie sie im Bildungsbereich von Wilhelm von Humboldt für ein humanistisches Gymnasium und 1810 in der Gründung der selbstbestimmten Berliner Universität verwirklicht und wie sie in der Bildenden Kunst durch Langhans' und Schadows Umdeutung der höfischen in einen bürgerlichen Klassizismus (Brandenburger Tor, Prinzessinnenpaar) erreicht wurde; - die Grundlegung der deutschen Romantik durch Ludwig Tieck (Geistergeschichten) und Wilhelm Wackenroder ("Herzensergießungen") schon ab 1793, was auch und gerade in einer Stadt, die in ihrer Verehrung der - klassischen - Dichtung Goethes und Schillers keine Grenzen kannte, möglich war; - moderne Verfassungskonzepte wie das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 und später die Stein-Hardenbergischen Reformen (Aufhebung der Stände und Bauernbefreiung) sowie die Militärreformen von Scharnhorst und Gneisenau (allgemeine Wehrpflicht, Offizierslaufbahnen auch für Bürgerliche, Abschaffung der Prügelstrafe); - Alexander von Humboldts wissenschaftliche Forschungsreisen nach Südamerika in weltbeschreibender und damit kosmopolitischer Absicht: eine Naturwissenschaft mit idealistischem Anspruch; - die Herausbildung einer modernen Autonomieästhetik und eine Psychologisierung des Unbewussten durch den Schriftsteller Karl Philipp Moritz, der - nicht zuletzt durch das Editionsvorhaben aller Moritz'schen Werke an der Akademie - inzwischen als einer der großen Autoren dieser Zeit wiederentdeckt worden ist; - die radikalliberalen Salons der Henriette Herz und Rahel Levin-Varnhagens als Beispiele einer neuen bürgerlichen Gesellschaftsform; - Schleiermachers philosophische Neubegründung der Religion aus dem Gefühl kosmischer Unendlichkeit, ferner seine Begründung der modernen Hermeneutik; - Ifflands Konzept eines deutschen Nationaltheaters für alle Schichten. Das Publikum "zog mit", Theateraufführungen, aber auch Klatsch und Tratsch waren Themen der ganzen Stadt, was auch zur Folge hatte, dass die Zeitungen (Vossische, Haude- und Spenersche) viel stärker als früher auf das Theatergeschehen eingingen und - ein Novum in der deutschen Pressegeschichte - fast täglich (!) Theaterkritiken brachten; - Anfänge einer bürgerlichen Konzertkultur durch die von Karl Friedrich Fasch gegründete und dann von Karl Friedrich Zelters endgültig etablierte Singakademie, die schon bald nach ihrer Gründung annähernd 200 Mitglieder aus allen Berliner Bevölkerungsschichten zählte; - Niebuhrs Begründung der Historischen Schule aus dem Geist der Quellenkritik, womit die vielgerühmte preußische Alter- tumsforschung ihren Anfang nahm. Die Antike war ohnehin schon durch Humboldts Reformen allgemeines Bildungsgut geworden, Berlin hatte sich zum sprichwörtlichen "Spree-Athen" entwickelt. - die bahnbrechende Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft durch den "alten" Wilhelm von Humboldt, die besonders die Kulturen Vorder- und Südasiens den Europäern näherbrachte.
Wie sah die städtische Infrastruktur aus, die eine solch erstaunliche "Klassik" hervorbrachte? Berlin hatte um 1800 knapp 200 000 Einwohner und stand damit an neunter Stelle in Europa. Größte Stadt war London mit über eine Million Einwohnern, gefolgt von Paris (580 000) und Neapel (440 000), dann Wien, St. Petersburg, Moskau, Amsterdam und Lissabon. Berlin bestand aus fünf Städten (Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt, Friedrichstadt) und fünf Vorstädten (Königstadt, Spandauer-, Stralauer-, Köpenicker- und Rosenthaler Vorstadt). 85 Prozent der Bevölkerung waren Zivilpersonen, 15 Prozent Militärs.
Zu den wichtigsten kulturellen und sozialen Einrichtungen zählten die Akademie der Wissenschaften, die Akademie der Künste, ein Botanischer Garten (ab 1715), die Charité (ab 1710), eine Bergakademie (ab 1770), eine Tierarzneischule (ab 1790) und eine Bauakademie. Es gab fünf Gymnasien (Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster, Französisches Gymnasium, Friedrich-Werdersches-Gymnasium, Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, Königlich Joachimsthalsches Gymnasium). Um 1800 war Berlin nach Leipzig die zweitgrößte Verlagsstadt: 27 Buchhändler, 20 Buchdrucker und 52 Buchbindereien, von denen die größten bis zu 90 Beschäftigte hatten, zeugen davon.
Der bedeutendste Wirtschaftszweig war die Textilherstellung und -verarbeitung, in der jeder achte erwachsene Berliner arbeitete. Ferner hatten Manufakturen für Metallwaren und Leder und die Königliche Porzellanmanufaktur große Bedeutung. Um 1800 waren ein Drittel aller Beschäftigten Kinder und Jugendliche. Die Niederlage Preußens gegen Napoleon und die folgende französische Besetzung bedeuteten für die Stadt eine wirtschaftliche Katastrophe; mit der Abtragung der Kriegskontributionen war sie bis 1861(!) belastet.
Bei dem Versuch, das Geschilderte zusammenzufassen, wird man gleichermaßen Aufklärung und Klassizismus, Romantik, Idealismus und erste Spuren von Biedermeier in einem anregenden Miteinander sehen können. Entsprechend der Intention, das Berliner Geschehen in Ergänzung und Abgrenzung zur Weimarer Klassik zu interpretieren, gründet das Vorhaben auf geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Philosophie, Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft. Bisher wurden drei Forschungsprojekte zu den Themen "Nationaltheater", "Geselliges Leben" und "Geschmackspolitik" eingerichtet. Ferner sind zehn Werkverträge vergeben worden, in denen teils Persönlichkeiten wie Carl Gotthard Langhans, der Fabrikant und Architekt Louis Catel oder einige Minister unter Friedrich Wilhelm II. vorgestellt, teils bestimmte Sachthemen wie das Berliner Verlagswesen, Bibliographien und Zeitschriften oder die Protokolle der Akademie der Künste behandelt werden. Es sind vor allem archivalische Forschungsprojekte und Dokumentationen, die bislang eine Fülle von Quellen und Texten erschlossen und diese zum Teil nach jahrhundertelangem "Dornröschenschlaf" wieder in die Erinnerung zurückgerufen haben.
Dabei will man ganz bewusst nicht im Elfenbeinturm geisteswissenschaftlicher Forschung bleiben. Das Projekt ist vielmehr als "work in progress" angelegt; interessierte Wissenschaftler, ja überhaupt eine interessierte Öffentlichkeit sollen laufend über den Stand der Forschung informiert werden und Zugriff auf bisher Geleistetes erhalten. Dem dient die Website der Akademie ( www.berliner-klassik.de), die inzwischen eine Fülle von Daten aufweist und ständig ergänzt wird. Deren wichtigste Angebote sollen kurz dargestellt werden.
Virtueller Stadtplan: Der Stadtplan "Virtuelles Berlin um 1800" erschließt in Text und Bildern das Berlin der Zeit zwischen 1786 und 1815. Etwa 70 Orte, Objekte und Akteure werden vorgestellt mit ausführlicher Objektbeschreibung und entsprechendem Quellenverzeichnis. Das reicht von Einrichtungen der Wissenschaft, der Kultur, der Religionsgemeinschaften und der Freimaurerei über Straßen, Plätze und Brücken bis zu Schulen und Manufakturen.
Wer mit Hilfe dieses Stadtplans auch nur ein wenig durch die Stadt wandert, wird schnell erfahren, dass Berlin eine - wie es damals auch hieß - "Stadt der Fabrikation" war. Die Manufakturen waren noch nicht an den Stadtrand verbannt, sondern lagen mitten in den Wohngegenden, ja in den vornehmsten Straßen wie der Leipziger Straße oder Unter den Linden. Direkt neben dem Brandenburger Tor befand sich eine Baumwollmanufaktur, und die damals berühmte musivische Stuckwarenfabrik war in der Leipziger Straße ansässig. In der Summe werden zehn Manufakturen (Eisen, Textil, Möbel, Porzellan) genannt, ferner sieben Plätze und mehrere Stadtpalais (die heute größtenteils nicht mehr stehen). Kaum eine andere Stadt wurde bislang in ihrem historischen Kern derart gründlich erschlossen.
Personendatenbank: Hierin sind rund 850 Personen aus allen beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen aufgeführt, die damals Rang und Namen hatten. Viele geläufige Namen finden sich darunter, aber in der Mehrzahl - besonders in den Bereichen Schule, Handwerk und Manufaktur - sind es Personen, die heute kaum noch bekannt sind, aber im damaligen Berlin eine wichtige Rolle spielten. Zu etwa einem Siebtel der Namen finden sich, klickt man die entsprechende Anzeige an, ausführliche Erläuterungen: Lebenslauf, Arbeiten der Betreffenden und Arbeiten über diese sowie über ihre Bekanntschaft mit anderen Persönlichkeiten werden angeführt. Den Daten ist zu entnehmen, wie sehr die meisten im gesellschaftlichen Leben verwurzelt waren. Der Benutzer spürt, in welch mühsamer Kleinarbeit alle Daten zusammengetragen wurden.
Bibliographiedatenbank: Diese Datenbank umfasst mehrere Tausend Autoren und Titel. Es sind sowohl dichterische, künstlerische und publizistische Arbeiten aus damaliger Zeit aufgeführt als auch Autoren unserer Zeit, die über eine bestimmte Persönlichkeit aus dem klassischen Berlin geschrieben haben (zum Beispiel Golo Mann über Friedrich Gentz). Jedes zitierte Werk ist einzeln bibliographiert und als Primär- und Sekundärliteratur gekennzeichnet. Manche Autoren, gerade die heute kaum noch bekannten, haben ein außerordentlich langes Schriftenverzeichnis, was den Schluss zulässt, dass sie sich mit großer Verve in den ständig schwelenden Bildungs- und Literaturstreit gestürzt haben. Der Benutzer bekommt bei dieser umfangreichen, noch immer im Werden begriffenen Datenbank nicht nur einen Überblick über die blühende Publizistik in Berlin, sondern erhält auch erste Anhaltspunkte über heutige Forschungen.
Geselligkeitsdatenbank: Diese Rubrik umfasst den vielleicht anregendsten Teil des Projektes, gibt sie doch wieder, wie vielfältig das gesellige Leben in der preußischen Residenz war. Als Jean Paul Anfang 1801 in Berlin weilte, schrieb er pikiert an Karoline Herder nach Weimar: "Hier bleib ich nicht! Der Ton übertrifft an Unbefangenheit weit den Weimar'schen. Der Adel vermengt sich hier mit dem Bürger ... Gelehrte, Juden, Offiziere, geheime Räte, Edelleute, kurz alles, was sich an anderen Orten - Weimar ausgenommen! - die Hälse bricht, fällt einander um diese, und lebt wenigstens freundlich an Tee- und Esstischen beisammen."
In der Tat war es diese fast schrankenlose Geselligkeit, die Berlin auszeichnete. Die Salons, die Lese- und Tischgesellschaften, die Clubs und die Logen, von denen es mehrere Hundert gab, waren Orte zwanglosen Beisammenseins, in denen diskutiert wurde, in denen Dichterlesungen stattfanden und wissenschaftliche Vorträge gehalten wurden, um anschließend mitunter hitzig erörtert zu werden, wobei das Argument, nie der Stand dessen, der es vorbrachte, den Ausschlag gab. Die Salonieren Henriette Herz und Rahel Levin-Varnhagen gehören bis heute zu den bekanntesten und damals zweifellos beliebtesten Anbieterinnen; manche Vereinigungen bestanden jahrzehntelang, so die Gesellschaft der Freunde der Humanität von 1797 bis 1861, der berühmte Montagsclub gar von 1750 bis 1936. Die Gesellschaft der Freunde, die auf Nathan Mendelssohn und David Oppenheimer zurückging, wurde 1792 gegründet und erst in der NS-Zeit aufgelöst (1935); sie hatte um 1800 annähernd 200 Mitglieder. Der ebenfalls renommierten Christlich-deutschen Tischgesellschaft gehörten unter anderem Iffland, Kleist, Schinkel und Schleiermacher an, was Rückschlüsse auf die Bandbreite der Interessen und Gespräche zulässt. Im Rahmen des Klassik-Projektes sind derzeit rund 80 Gesellschaften genannt; mit Sicherheit ist das noch nicht der endgültige Stand.
Theaterdatenbank: Auch diese Datenbank ist eine wahre Fundgrube zur deutschen Kultur um 1800. Das "Königliche Nationaltheater" unter Iffland war um diese Zeit neben den Bühnen in Weimar und Wien das stilbildende Haus im deutschen Sprachraum. Die Datenbank umfasst das gesamte Repertoire von 1802 bis 1811; das große Haus am Gendarmenmarkt bediente jeden Geschmack, im Schauspiel vom ernsten Drama bis zur albernen Posse, in der Oper von Wolfgang Amadeus Mozarts und Christoph Willibald Glucks Werken bis zum heiteren Singspiel. Possen und Singspiele dominierten den Spielplan (was übrigens auch für das Weimarer Theater unter Goethes Leitung gilt), gleichwohl erreichten die höchsten Aufführungszahlen Mozarts "Zauberflöte" und Friedrich Schillers neueste Dramen.
Die Datenbank erlaubt nicht nur die Suche nach einzelnen Werken, sondern ermöglicht auch die Recherche nach Autoren, Komponisten und Bearbeitern, nach Schauspielern, nach dem Genre und nach Rezensionen. Unter den Kritiken findet sich manch treffende Formulierung, etwa wenn 1803 einem Mimen einer "Kabale und Liebe"-Aufführung attestiert wird: "Sein Kostüm war besser als seine Darstellung"! Als am Vorabend der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt Schillers "Jungfrau von Orleans" aufgeführt wurde, schlugen in der "Haude-und Spenerschen-Zeitung" die patriotischen Wogen hoch:
"Ein interessanteres Schauspiel als das alte, das auf der Bühne dargestellt wurde, bot das Publikum dar. Wichtige Nachrichten waren von unseren Brüdern im Felde angekommen. Jeder hatte dem Nachbar Neuigkeiten, Besorgnisse, Trostgründe, Hoffnungen, frohe Aussichten mitzuteilen. Die Aufmerksamkeit für die Bühnen zeigte sich nur dadurch, dass man jedem Vers, der einer patriotischen Deutung fähig war, applaudierte, und nicht selten bei Namen und Verse, die eine feindliche Idee vor die Seele riefen, pochte. Möchte man doch, bei der patriotischen Stimmung der Residenz, es zur bleibenden Sitte machen, dass jede bedeutende sichere Nachricht von der Armee gleich nach ihrer Ankunft der Versammlung im Schauspielhaus mitgeteilt wird."
Schließlich sei noch eine Besonderheit erwähnt: Goethe hat sich bekanntlich sehr für die Berliner Theaterszene interessiert So bat er seinen "Berliner Spion" Karl Friedrich Zelter, er möge ihm alle Berliner Theaterzettel schicken, was der treue Freund über Jahre hinweg auch tat. Diese Zettel mit Angaben zu Datum und Darstellern sind erhalten geblieben und stellen eine wahre theaterhistorische Fundgrube dar. Sie können inzwischen alle in der Datenbank angesehen werden.
Leipziger Straße als Beispiel: Die drei genannten Datenbanken decken im Wesentlichen die Arbeitsgebiete der drei wissenschaftlichen Mitarbeiter ab. Inzwischen sind aber durch regelmäßige Colloquien, deren Beiträge ebenfalls abrufbar sind, durch eine auf zwölf Bände angewachsene wissenschaftliche Buchreihe und durch die schon erwähnten zehn Werkverträge zahlreiche weitere Themen erschlossen worden oder befinden sich in Bearbeitung. Welches Wissen dabei gehoben wird und welch neue Fragestellungen sich dann auftun, verdeutlicht ein Blick auf das Vorhaben "Leipziger Straße". Der Bearbeiter ging gleichsam von Haus zu Haus, konnte anhand alter Adressbücher deren zum Teil sehr prominente Bewohner ermitteln und damit den Wohnungswechsel sowie Rang und Stand der Mieter oder Besitzer; ferner wurden Zahl und Art von Gewerbebetrieben eruiert, was zum Beispiel ergab, dass es in dieser "prächtigen Straße" (Nicolai) 14 Fabriken und 13 Geschäfte ("Handlungen"), sechs Gasthäuser und so unterschiedliche Einrichtungen wie "Schulanstalten", Internate für Mädchen und eine Schlachterei gab.
Das Einzelprojekt "Leipziger Straße" ist ein Beispiel dafür, wie dieses geisteswissenschaftlich angelegte Forschungsprojekt durch seine inhärente Entwicklung allmählich über sich hinausweist und Disziplinen wie Wirtschaft, Soziologie und Demographie berührt. Wie anregend das Projekt "Berliner Klassik" schon jetzt auf die unmittelbare Umgebung wirkt, ist unter anderem daran erkennbar, dass sich an der BBAW mit ihren Einrichtungen in Berlin und Potsdam ein loses "Preußen-Berlin"-Zentrum gebildet hat, in dem die "Berliner Klassik", Akademieprojekte zu den Humboldts, zu Karl Philipp Moritz und zu Schleiermacher sowie ein neues größeres Vorhaben, das unter dem Thema "Preußen als Kulturstaat" die Geschichte der preußischen Kultusministerien und damit so große Namen wie Friedrich Althoff und Carl Heinrich Becker aufarbeiten will, vereint sind.
Wird sich die Bezeichnung "Berliner Klassik" durchsetzen? Noch lässt sich diese Frage nicht beantworten - das Vorhaben ist einfach noch zu jung. Einige umfangreichere Arbeiten stehen kurz vor dem Abschluss; erst wenn sie veröffentlicht sind, dürfte ein größeres überregionales Echo zu erwarten sein. Berlin, das für so viele glückliche und böse Entwicklungen in der deutschen Geschichte seit 1870 steht, wird vielleicht nicht leicht mit dem Begriff "Klassik" zu assoziieren sein; blickt man genauer auf die hier aufgegriffene kulturelle Glanzzeit der Stadt, die ja auch für ganz Deutschland nicht folgenlos war, so hat das Unterfangen der Berliner Wissenschaftler jedenfalls eine überaus reiche Materialbasis.
Die Verantwortlichen können einen prominenten Fürsprecher aus Weimar aufbieten. Goethe war nur einmal - im Mai 1778 - in Berlin; die Hektik der Stadt war ihm jedoch nicht geheuer (auch Schiller hat später ein Angebot des preußischen Königs abgelehnt, in Berlin sesshaft zu werden). Aber gleichwohl wollte Goethe über alles informiert sein, der treue Zelter tat sein Bestes. Kurz vor seinem Tod schrieb Goethe an den Bildhauer Christian Daniel Rauch, es gereiche ihm in mehr als einem Sinne zum Trost, Rauch wieder in Berlin zu wissen. "Ich lebe dort mehr, als ich sagen kann, und vergegenwärtige mir möglichst das mannigfache Große, was für die Königsstadt, für Preußen und für den ganzen Umfang der Kunst und Technik, der Wissenschaft und Geschäftsordnung geleistet und gegründet wird."
1 Die Akademie am
Gendarmenmarkt 2007, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften, Berlin 2007, S. 112.
2 www.berliner-klassik.de
3 Ebd.