Schweden
Bislang hat das Land großzügig Irak-Flüchtlinge aufgenommen. Nun fühlt es sich überfordert.
Die Kirchbänke sind bis auf den letzten Platz besetzt. An einem Sonntagmorgen findet man auch in den umliegenden Straßen vor der "Katolska Kyrkan" in der schwedischen Kleinstadt Södertälje keinen Parkplatz mehr. In der weiß getünchten katholischen Kirche, die so hell strahlt, als wollte sie auch nachts den Weg weisen, wird keine übliche schwedische Messe gelesen: Der Gottesdienst findet auf Arabisch statt, die Kirchgänger sind irakische Christen. Heute beten sie gemeinsam in dem kleinen Saal, fromm und ehrfürchtig; vor allem Familien mit Kindern und junge Männer sitzen hier eng beieinander.
Der Platz von Hossam ist sonntags immer im Kirchenchor. Zusammen mit seinen Cousins und Freunden stimmt der 23-jährige Student aus Bagdad das "Ave Maria" an, räumt nach der Messe die Bibeln von den Bänken und hält nachher vor der Eingangstür ein Schwätzchen. Die Stimmung ist ausgelassen, man umarmt und begrüßt sich, lacht miteinander. Auch Hossam ist ein lebensfroher, stets zu Scherzen aufgelegter junger Mann. "Humor ist unsere große Stärke", sagt er von sich und seinen Landsleuten, "und eine großartige Art, Mensch zu sein, in einem freien, demokratischen Land - in Schweden". Es klingt pathetisch, aber für den jungen Iraker haben diese Worte von Demokratie und Freiheit einen gewichtigen Wert angesichts der tagtäglichen Gewalt, die sich im Irak ereignet.
Hossam hat seine Heimat vor einem Jahr verlassen, eine Heimat im Chaos, in der das tägliche Überleben mühselig zu organisieren war, wenn wieder einmal kein Wasser floss oder der Strom ausblieb; wo ständig Autobomben Menschen in den Tod rissen, weil sie "am falschen Ort zur falschen Zeit waren", wie es Hossam nennt.
Auch einige seiner Freunde kostete ein solcher "Zufall" ihr Leben. "Ich habe versucht zu helfen, soweit ich das konnte und gehofft, dass es schon irgendwann besser wird", sagt der große, schlanke Iraker mit den fröhlichen dunklen Augen. Er klingt dabei wie ein kleiner Junge, der sich gerade schmerzhaft am Knie verletzt hat und fest daran glaubt, dass morgen alles verheilt sein wird. "Aber irgendwann habe ich gemerkt: Es wird nicht besser, du musst hier weg, bevor es dich und deine Familie tötet."
Im Irak wurde Hossam nicht nur bedroht, weil der Informatik-Student nach dem Sturz Saddam Husseins als Übersetzer für die US-Streitkräfte in Bagdad arbeitete. Er und seine Familie gerieten ins Visier islamischer Extremisten, weil sie Chris-ten sind. Anschläge auf Kirchengebäude oder auf Pries-ter sind keine Seltenheit.
Die Flucht war mühevoll und gefährlich. Wie die meisten irakischen Flüchtlinge reiste Hossam über Syrien und die Türkei zunächst nach Südeuropa. Und dann ging es weiter nach Schweden. Bei den Irakern hat sich herumgesprochen, dass das skandinavische Land (noch) großzügig bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist und ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt.
Mehr als 20.000 irakische Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr Zuflucht in den Ländern der Europäischen Union gesucht, davon allein 9.000 in Schweden. Bislang wurden die meisten Asylanträge problemlos bewilligt. Die Flüchtlinge bekamen eine finanzielle Unterstützung, konnten Schwedisch lernen und sich beruflich fortbilden.
Wie Hossam leben viele irakische Christen in der Kleinstadt Södertälje, rund 70 km südlich von Stockholm entfernt. Södertälje ist bekannt wegen des legendären Tennisspielers Björn Borg, der hier aufwuchs. Ein kleiner Park auf einer Anhöhe der Stadt ist nach dem einstigen Weltstar benannt. Viele Sprachschüler, die meisten von ihnen Mig-ranten, benutzen den Park als eine Abkürzung zum "Komvux", der staatlichen Bildungseinrichtung für Erwachsene, wo sie Schwedisch lernen.
Södertälje hat heute noch einen anderen Klang - in den Medien nennt man die Stadt wegen seiner vielen neuen irakischen Bewohner auch "Little Bagdad". Nach dem zweiten Golfkrieg von 1991 und dem aktuellen Konflikt im Irak, flohen besonders viele Iraker hierher und holten nach und nach auch ihre Familien und Freunde nach Södertälje, denn das schwedische Asylrecht gewährt eine freie Wohnortwahl.
Der überwiegende Teil der irakischen Flüchtlinge sind Christen, die im Irak nur etwa drei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie gehören den Chaldäern, der syrisch-orthodoxen oder der assyrischen Kirche an. Im schwedischen Exil haben sie inzwischen zahlreiche Netzwerke und Glaubensgemeinschaften gebildet, es gibt ein erfolgreiches assyrisches lokales Fußballteam und selbst ein Satellitenprogramm in Södertälje. Während die meisten irakischen Christen in Södertälje leben, zieht es dagegen die irakischen Muslime nach Malmö.
Auf den Internetseiten der Gemeinde Södertälje verweist man stolz auf die liberale Tradition und eine multiethnische Gemeinschaft von 80 Nationalitäten. Doch es gibt auch besorgte Stimmen. Die Kapazitäten in Schulen und Unterkünften seien bald erschöpft, warnt der Bürgermeister der Stadt, Anders Lago. Mehr als 6.000 Iraker leben in Södertälje. Und es kommen immer mehr. Viele von ihnen wohnen im Stadtteil Hovsjöe, einer Hochhaussiedlung am Stadtrand, wo sich auch Hossam eine kleine Wohnung mit zwei Freunden teilt. Bisher stellen Gettoisierung, Fremdenfeindlichkeit oder Arbeitslosigkeit hier zwar noch keine ernsthaften Probleme dar.Dennoch warnen Kommunalpolitiker wie Lago oder der schwedische Migrationsminister Tobias Billström von der liberal-konservativen Sammlungspartei vor möglichen gravierenden Problemen für die Zukunft. "Schweden hat zwar derzeit eine gute Wirtschaftskonjunktur, und in einigen Fällen werden wir vielleicht in der Lage sein, die Einwanderer zu beschäftigen, aber wir müssen Instrumente finden, mit dem Zustrom umzugehen, weil es die Schulen und den Arbeitsmarkt belastet", sagt Billström gegenüber dieser Zeitung.
Inzwischen werden die Richtlinien für die Anerkennung von Flüchtlingen verschärft: Die schwedischen Einwanderungsbehörden haben vor kurzem beschlossen, Flüchtlinge unter bestimmten Umständen auch in den Südirak oder nach Bagdad abzuschieben. Ein Flüchtling muss künftig nachweisen, dass er in seiner Heimat auch persönlich bedroht ist.
"Der Irak benötigt Ärzte, Ingenieure, Krankenpersonal, Juristen und auch Politiker. Wir geben Flüchtlingen eine sichere Bleibe in Schweden, aber nur für eine bestimmte Zeit. Am Ende müssen sie zurückkehren", argumentiert Billström. Der Minister mahnte bereits mehrfach die anderen EU-Länder, die Flüchtlingslast gemeinsam zu schultern. "Das Problem ist, dass das Schengen-Abkommen im Grunde genommen nicht funktioniert. Meiner Meinung nach unternehmen viele EU-Länder zu wenig und lassen die Menschen weiterreisen, wohl wissend, dass ihr Endziel Schweden ist. Das ist es, was ich stark kritisiere. Wenn es keine gemeinsame Einwanderungsregelung gibt, können individuelle Länder sehr hart betroffen werden."
Daher setzt Billström auf Schwedens EU-Ratspräsidentschaft, die das Land im Herbst 2009 übernehmen wird. Er will eine rasche Umsetzung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik vorantreiben. Schweden habe aus der Erfahrung mit den irakischen Flüchtlingen gelernt. Das bedeute "Hilfe zur Selbsthilfe" auch außerhalb der EU-Grenzen: "Das nächste wichtige Ziel muss sein, Syrien und Jordanien zu unterstützen, denn beide Länder haben zusammen bereits mehr als zwei Millionen irakische Flüchtlinge aufgenommen. Wenn wir das nicht früher oder später leisten, wird das zu einer politischen Destabilisierung in dieser Region führen."
Ob Hossam, der jetzt die schwedische Staatsbürgerschaft besitzt, jemals wieder in den Irak zurückkehren wird, bleibt mehr als ungewiss. Für den jungen Mann ist die schwedische Kleinstadt Södertälje "das Paradies auf Erden". Ein Ort, an dem man die Menschen nicht nach ihrer Religion oder Herkunft beurteilt, ausgrenzt oder verfolgt. "Hier darf ich leben, woran ich glaube". Hossam fühlt sich integriert und möchte nach der Sprachprüfung Zahnmedizin in Stockholm studieren, arbeiten will er dann in Schweden. Denn an eine berufliche Zukunft im Irak glaubt er nicht.