Autobiografie
Das Leben einer Kurdin in Deutschland
Inci Y. hatte ihren 30. Geburtstag hinter sich, als sie begann, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Die Jahrzehnte zuvor war sie zu einem Dasein nach dem Willen ihrer Familie gezwungen: Inci Y. war eineinhalb, als ihre Eltern sie zu ihrer Oma in die Türkei schickten, elf, als sie zurück nach Deutschland geholt und 16, als sie in der Türkei verheiratet wurde. Vor und während ihrer Ehe wurde sie vergewaltigt; bis zu ihrem 29. Lebensjahr schlief sie nie freiwillig mit einem Mann. Einige Jahre später beschloss sie, koste es was es wolle, auszubrechen. Mit zwei Kindern kehrte sie nach Deutschland zurück. Immer noch unter Argusaugen ihrer Eltern, ohne Ausbildung und mit deutschen Schulzeugnissen auf denen statt Ziffern überwiegend "nf" - nicht feststellbar - geschrieben stand, suchte sie einen Platz in Freiheit.
"Erzähl mir nix von Unterschicht" ist nach "Erstickt an euren Lügen" das zweite Buch der Kurdin Inci Y.. Erneut wurde es, wohl nicht zuletzt mangels Deutschkenntnissen, von einem Freund und Journalisten aufgeschrieben. Was sich zuweilen etwas merkwürdig liest, weil der Schreiber gar nicht erst versucht, den typisch deutschtürkischen Slang zu bemühen, ist eine aufrüttelnde Anklage der deutschen wie der türkischen Gesellschaft.
Inci Y., die sich weder ihren Namen noch den ihres Wohnortes zu nennen traut, entkommt dem elterlichen und ehelichen Gefängnis - und landet in einer Realität, die ihr nichts zu bieten hat: immer an der Armutsgrenze, mit vier wechselnden Jobs, die an Sklaverei grenzen, in einer überteuerten Wohnung voller Schimmelpilze. Erst als sie einen Journalisten - den Ghostwriter - kennen lernt, bessert sich ihre Lage ein wenig. Mit einem deutschen eloquenten Mann an der Seite nimmt man sie plötzlich ernst auf ihrer Odyssee durch Ämter und Beratungsstellen.
"Erzähl mir nix von Unterschicht" ist ein erschütterndes Dokument einer Frau, die integriert werden will und nirgends einen Platz findet: die türkische Welt, aus der sie stammt, mobbt, missversteht und missachtet sie; dorthin will und kann sie nicht zurück. Die deutsche Welt, in die sie gerne möchte, nimmt sie, so wie sie ist, einfach nicht auf. Einmal ohne Ausbildung, das wird für Inci Y. nun für immer heißen: Ungelernt, unterbezahlt, unter Wert verkauft.
Erzähl mir nix von Unterschicht. Die Geschichte einer Türkin in Deutschland.
Piper Verlag, München 2007, 272 S., 16,90 ¤