Menschenbild
Über den Dialog zum Weltbürgertum - ein Plädoyer
Mit vollem Mund soll man nicht reden. In diesem Satz versteckt sich nicht nur eine gutbürgerliche Verhaltensnorm; er kann auch Schlüssel für kulturelle Entwicklung sein. So etwa in dem alten Schlager "The Reluctant Canniba" des britischen Pop-Duos Flanders and Swann. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Kannibalen, der eines Tages vom Mittagstisch aufsteht und voller Inbrunst ausruft, dass er in Zukunft kein Menschenfleisch mehr essen wolle. Sein Vater ist entsetzt. Bei dieser Weigerung handelt es sich schließlich nicht um Appetitlosigkeit, es ist die Infragestellung von Sitte und Ordnung. Schon immer hätten Menschen Menschen gegessen, erwidert der Alte daher empört; und: "Wenn der Juju gewollt hätte, dass wir keine Menschen essen, dann hätte er uns nicht aus Fleisch gemacht." Doch alle Gegenrede hilft nicht. Am Ende des Lieds wird der Sohn den Sieg davontragen. Was mit Diskurs begann, das gipfelt in der Erfüllung des ersten Menschheitstraums: Make Cannibalism History!
Nicht immer funktionieren die Dinge so schnell wie in der Garküche der Kannibalen. Dennoch haben in den letzten Jahrzehnten namhafte Philosophen immer wieder darauf verwiesen, dass Normen und Werte nicht gott- oder kulturgegeben sind; sie verändern sich im Prozess von Gespräch und Diskurs. Von Karl Otto Apel bis zu Jürgen Habermas hat sich die so genannte "Diskursethik" als kognitivistische Sittenlehre durchgesetzt. Einen Anhänger hat sie auch im amerikanischen Philosophen Kwame Anthony Appiah. In seinem aktuellen Buch "Der Kosmopolit" indes geht es ihm um weit mehr als um menschenfressende Leben in kleinen lokalen Stammesgesellschaften. Längst nämlich hat sich die Menschheit zu einem "globalen Stamm" weiterentwickelt. Zu einem Stamm, dessen Bewohner täglich einen Widerspruch aushalten müssen zwischen lokaler Parteilichkeit und universeller Moral.
Appiah spürt diesen Antagonismus in der eigenen Biografie. Als Sohn eines ghanaischen Politikers und einer englischen Schriftstellerin verbrachte er seine Kindheit zunächst in London, zog dann aber mit seinen Eltern in die Hauptstadt der ghanaischen Ashanti-Region Kumasi. Später studierte er in Cambridge und beschäftigt sich heute an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton mit Problemen interkultureller Philosophie. Zu gut weiß er also, dass moderne Identitäten gebrochen sein können und dass sie sich zuweilen mehrfach überlappen. Die Idee von kultureller Reinheit - sollte es sie je gegeben haben - ist daher nicht nur Albtraum einer verkuschelten Multikulti-Fraktion, sie ist vor allem anachronistisches Konzept, das nicht taugt zur Beschreibung kosmopolitischer Gegebenheiten.
Doch auch Gegebenheiten brauchen Struktur und Ordnung. In Zeiten, in denen die zusammengeschrumpfte Welt nicht nur bei religiösen Fundamentalisten, sondern auch bei einer wachsenden Zahl von Globalisierungsverlierern Magenschmerzen auslöst, geht es darum, welche Einheit die Welt der Dutzend kleinen Unterschiede noch zusammenhält. Diese Frage ist es, die Kwame Anthony Appiah in seinem unterhaltsam geschriebenem Buch letztlich umtreibt.
Die Antwort findet er im Gespräch. In einem Gespräch, dass mehr ist als Konversation, sondern dass sich als Metapher versteht "für das Bemühen, sich auf die Erfahrungen und Ideen anderer Menschen einzulassen". Ziel dieser unentwegten kosmo- politischen Unterhaltung ist indes nicht der Konsens über Normen und Werte. Es ist der schlichte Versuch der Kulturen, sich aneinander zu gewöhnen. Für Appiah ist Gespräch ein Wert an sich. Es hilft nicht nur, Unterschiede zu überbrücken, es dient vor allem dabei, sie auszuhalten. Nicht das schweigsame Dulden ist der Königsweg zwischen den globalen Dörfern; es ist die unentwegte Neugier aufeinander. Dieser Kosmopolit stimmt optimistisch. Indes: In seinem Konzept klafft eine Lücke. Was nämlich mit den Wortlosen und Maulfaulen ist, mit denen, die lieber erst schießen, bevor sie reden, darüber schweigt sich der Philanthrop aus. Dabei gehört Diskursverweigerung längst zu den Modekrankheiten. Die Guerilleros einer islamistischen Heilsfront beweisen dies ebenso wie die Kulturkämpfer des Westens.
Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums.
C.H. Beck Verlag; München 2007; 222 S., 19,90 ¤