wirtschaft
Die Nachfrage aus Asien beflügelt die Märkte
Lateinamerika befindet sich in einer anhaltenden Boomphase. Ende 2007 war das kombinierte Bruttoinlandsprodukt der Region mit 3 Billionen US-Dollar etwa so groß wie das Deutschlands oder Chinas. 2008 ist zum fünften Mal hintereinander mit einem Wirtschaftswachstum von mehr als fünf Prozent zu rechnen. Somit wird Lateinamerika in nur fünf Jahren ein kumuliertes Wachstum von 30 Prozent erreicht haben. Als Folge dieses Booms entsteht in vielen lateinamerikanischen Ländern eine neue Mittelschicht, deren wirtschaftliche Basis der Markt und nicht der Staat ist.
Allerdings hängt das Wachstum Lateinamerikas nach wie vor stark von der Entwicklung der Weltwirtschaft ab. Der südliche Teil der Region profitiert jedoch davon, dass sein Außenhandel geografisch stärker diversifiziert ist als der Mexikos und Zentralamerikas. Somit sind die südamerikanischen Länder weniger von der Konjunkturabschwächung in den USA betroffen. Als Folge der US-Hypothekenkrise gerieten aber auch dort die Börsen in den Strudel der weltweiten Baisse-Bewegung. Dieser Abwärtstrend hielt aber nicht lange an. Inzwischen haben die Börsen vieler südamerikanischer Länder ihren Hausse-Kurs aufgenommen und neue Rekorde erzielt. Das Vertrauen der Anleger in die Robustheit des Wirtschaftsaufschwungs ist zurückgekehrt. Damit hat Lateinamerika seine erste Feuertaufe in diesem Jahrhundert bestanden. Die kräftig expandierenden Volkswirtschaften in Asien, deren Nachfrage zu einem starken Anstieg der Exportpreise geführt hat, sind neben der Binnenkonjunktur zum Wachstumsmotor Lateinamerikas geworden. Auf einen Nenner gebracht kann man sagen: Fast alles, was Asien für den weiteren Aufschwung benötigt, kann Lateinamerika längerfristig liefern.
Dies ist eine gute Basis für eine dauerhafte strategische Zusammenarbeit. Die Region profitiert auch von den steigenden Überweisungen der im Ausland lebenden Lateinamerikaner, aber auch von den Auslandsinvestitionen im produktiven Bereich, im Dienstleistungssektor und auf den Finanzmärkten, ferner von den wachsenden Einnahmen aus dem Tourismus, der anhaltend hohen internationalen Liquidität und dem relativ niedrigen Zinsniveau in den Industrieländern. Nach vier Jahren Wirtschaftsboom ist die Resistenz Lateinamerikas gegenüber externen Verwerfungen gewachsen. Gleichzeitig hat sich die Volatilität der Volkswirtschaften auch unter zum Teil komplizierten innenpolitischen Bedingungen verringert. Der Reichtum der Region an Bodenschätzen, Energieressourcen und landwirtschaftlichem Potenzial spielt eine zunehmend wichtige Rolle bei der Positionierung in der Weltwirtschaft. Entsprechend wächst die Zahl lateinamerikanischer Großunternehmen, die in der Weltliga mitspielen.
Gleiches gilt für die lateinamerikanischen Auslandsinvestitionen. Allein brasilianische Unternehmen haben inzwischen mehr als 100 Milliarden US-Dollar jenseits der Grenzen angelegt. 2006 überstiegen Brasiliens produktive Investitionen im Ausland mit 27 Milliarden US-Dollar erstmalig den Direktinvestitionszufluss, der bei 18 Milliarden US-Dollar lag. Und die starke Zunahme der Importe Lateinamerikas wird im Gegensatz zu früher nicht mehr mit Verschuldung, sondern mit den wachsenden Exporten bezahlt.
Zu den internen Faktoren, welche die Widerstandskraft Lateinamerikas gestärkt haben, gehören der Abbau der Auslandsschulden, die Verringerung der Schuldendienstbelastung, der Staatsschulden und der Staatsdefizite, steigende Primärüberschüsse in den Staatshaushalten, die auf 440 Milliarden US-Dollar angestiegenen Devisenreserven und eine weitgehende Flexibilisierung der Wechselkurse. Die Inflationsentwicklung ist in den meisten Ländern unter Kontrolle. Der Binnenkonsum, die Investitionsrate, die Inlandssparquote und die Emissionen auf den einheimischen Anleihenmärkten haben deutlich zugenommen. Das Umlaufvolumen inländischer Anleihen liegt inzwischen bei 1,1 Billionen US-Dollar. Dadurch hat sich die Abhängigkeit von externen Kapitalzuflüssen verringert. Der Anstieg der Kreditwürdigkeit der Region spiegelt sich auch in den gesunkenen Risiko-Aufschlägen für internationale Anleihenemissionen.
Trotz des Wachstumsbooms bleibt aber die Region von Strukturproblemen geprägt. Dazu gehören ein unzureichendes Bildungs-, Ausbildungs- und Innovationsniveau, eine unterentwickelte Infrastruktur, hohe Importbarrieren in einigen Ländern und die Rechtsunsicherheit. Über neun Zehntel der 60 Millionen Mikro- und Kleinunternehmen haben bislang keinen Zugang zum Finanzmarkt.
Die offizielle Arbeitslosenrate liegt zwar bei nur acht Prozent. In den Städten Lateinamerikas muss sich aber fast die Hälfte der Beschäftigten den Lebensunterhalt im informellen Sektor verdienen, der rund einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts der Region entspricht. Dies bedeutet niedrige Löhne und kaum Zugang zu Sozialleistungen. Während in Lateinamerika nur zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den Ausbau der Infrastruktur inves-tiert werden, gibt China dafür acht Prozent aus. Die Konjunktur in einigen Ländern der Region wie Venezuela bleibt stark von der Entwicklung des Weltmarktpreisniveaus für ein einziges oder einige wenige Exportprodukte abhängig.
Das Schlüsselproblem der Region ist der krasse Unterschied bei den Einkommen. Rund 35 Prozent der Lateinamerikaner leben in Armut. Dies und die unzureichende Beteiligung der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen ihrer Länder sind der Nährboden für die Erfolge populistischer Politiker. Aber selbst die staatsdirigistischen Maßnahmen einiger lateinamerikanischer Regierungen haben bisher das Wachstumstempo der Region nicht abbremsen können, obwohl solche Eingriffe in jüngster Zeit zunahmen. Die staatliche Interventionspolitik hat vor allem Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft; der Handel ist in diesen Ländern kaum davon betroffen.
Auf die von populistischen Regimen regierten Staaten entfallen jedoch nur rund acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts Lateinamerikas. Außerdem bleibt abzuwarten, ob sich diese Regierungen alle konsolidieren können. Abgesehen davon setzt die große Mehrzahl der Lateinamerikaner weiterhin auf freie Marktwirtschaft und die Chancen der Globalisierung. Trotz der Hypothekenkrise in den USA bleibt das externe Umfeld positiv. Die Zentralbanken der Indus-trieländer haben mit umfangreichen Geldspritzen zur Aufrechterhaltung der hohen internationalen Liquidität beigetragen. Der zunehmend multipolare Charakter der Weltwirtschaft wird durch die hohen Zuwachsraten in China, Indien, Russland und anderen Ländern unterstrichen.
Ein baldiges Ende der starken Nachfrage aus Asien für lateinamerikanische Güter ist nicht abzusehen. Steigende Löhne, wachsende Privatinvestitionen und expandierende Kreditvolumina stärken die Binnenkonjunktur der Region. Das Wachstum in Lateinamerika kann also noch viele Jahre andauern. Damit ist auch eine Basis für die nachhaltige Lösung der zahlreichen Strukturprobleme gegeben.
Der Autor ist stellvertretender Geschäftsführer des Lateinamerika-Vereins in Hamburg.