Regentropfen laufen langsam die gläserne Wand hinab, der mit Laser eingravierte Text ist dennoch gut lesbar: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Diese prägnanten Sätze stellten die Väter und Mütter des Deutschen Grundgesetzes 1949 an den Beginn der Verfassung. Die dort formulierten 19 Grundrechte-Artikel hat der israelische Künstler Dani Karavan in ihrer Ursprungsversion in 19, jeweils drei Meter hohe Glasflächen eingraviert und vor dem Jakob-Kaiser-Haus platziert. Das hat Wirkung. Vor dem transparenten Hintergrund schweben die Artikel vor dem Betrachter. Und so mancher Berlinbesucher erliest sich hier vor der Spree vielleicht zum ersten Mal Wort für Wort seine Grundrechte, die ihm hier auf Augenhöhe und nicht in einem leblosen Nachschlagewerk begegnen.
"Die aktuelle Fassung dieser 19 Artikel hätte wahrscheinlich doppelt so viele Wörter", sagt Sven Hölscheidt, Leiter des Fachbereiches Verfassung und Verwaltung des Deutschen Bundestags. Fast 60 Jahre politischer Alltag und gesellschaftliche Entwicklung sind seit 1949 ins Land gegangen. "Die Verfassungsmütter und -väter konnten nicht alles prognostizieren", sagt der Jurist und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu parlaments- und europarechtlichen Themen. Änderungen folgten daher "einem ganz normalen Modernisierungsbedarf", der sich auch aus der europäischen Integration ergebe, sagt der Jurist. So sei zum Beispiel der Text des Artikel 16, der das Recht auf Asyl gewährleiste heute als Artikel 16a erheblich länger, als die Ver- sion auf Karavans Tafel. 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt, wer aus einem sicheren Drittland oder einem EU-Land einreist, kann seither in der Bundesrepublik kein Asyl mehr beantragen. Ebenso umstritten war 1968 die Verabschiedung der Notstandsgesetze, die in das Grundgesetz einflossen. 52 Mal, so erzählt Hölscheidt, sei das Grundgesetz seit 1949 verändert worden, Artikel wurden aufgehoben oder ergänzt.
Viele dieser Änderungen erschließen sich nur Experten, die in den ersten 19 Artikeln formulierten Grundrechte sind jedoch vielen bekannt. "Das Grundgesetz ist ein wichtiger Identifikationsfaktor für die deutsche Bevölkerung", sagt Sven Hölscheidt. Nicht ohne Grund werde in Deutschland von einem Verfassungspatriotismus gesprochen, einer nationalen Identifikation über gemeinsame Werte. Kritiker monieren, ein solcher Patriotismus sei ein abstraktes Konstrukt, dem die emotionale Erlebbarkeit abgeht. Karavans Werk stößt in diese Lücke: "Die zentralen Grundrechte im öffentlichen Raum so sichtbar zu machen, hat eine immense Bedeutung", sagt Sven Hölscheidt. Und in der Tat verharren immer wieder Menschen für viele Minuten vor den Tafeln und studieren sie. "Ich finde es bemerkenswert, mit welcher sprachlichen Präzision und Weitsicht die Verfasser vorgegangen sind", sagt beispielsweise ein Berliner Lehrer, der mit einigen Schülern vor den Tafeln steht. Dass nach Artikel 6 bereits 1949 uneheliche Kinder den gleichen Schutz besitzen wie in der Ehe geborene Nachkommen, findet er "bemerkenswert modern".
Für den Verfassungsexperten Hölscheidt ist das Grundgesetz hingegen Alltag. Sein zurzeit aus 5 Juristen bestehendes Referat beantwortet Anfragen von Abgeordneten rund um die Verfassung. Da geht es beispielsweise um Auskünfte zum Wahlrecht, zum Ausländerrecht oder derzeit zur Forderung, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die Frage, wie dies andere Länder handhabten, werde häufig gestellt, sagt der Referatsleiter. "Gucken wir doch mal, wie es die anderen machen im europäischen Verfassungsverbund", laute dann die Devise.
Auch aus dem Ausland erreichen Fragen zum Staats- und Organisationsrecht sein Referat. Derzeit, erzählt Hölscheidt, informiere sich eine Delegation aus Afghanistan in Berlin. Das Deutsche Grundgesetz besitze international durchaus Vorbildcharakter. Wer dafür einen Beleg sucht, wird an prominenter Stelle schnell fündig, nämlich in der Grundrechtecharta der Europäischen Union: Sie beginnt wie das deutsche Grundgesetz. "Die Würde des Menschen ist unantastbar."