Am 25. September 2005 fand in der Stadt Antakya, dem alten Antiochien, in der türkischen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien die "I. Hatay-Zusammenkunft der Zivilisationen" statt. Der Gouverneur hatte eingeladen, und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hielt die Eröffnungsrede. Auch Papst Benedikt XVI. und Samuel P. Huntington, Autor des vielzitierten Clash of Civilizations, waren nach Hatay gebeten worden. "Wenn der Papst wirklich kommt, sieht er, wie friedlich in Hatay die Angehörigen der Religionen miteinander leben", hatte schon zwei Monate zuvor die Zeitung "Hürriyet" geschrieben. Sollte er die Einladung annehmen, würde Huntington klar werden, hieß es auch in der "Sabah", dass seine These, die Türkei passe nicht nach Europa, widerlegt sei.
Zwar folgten weder der Papst noch Huntington der Einladung, doch die Häupter der einheimischen Kirchen und Religionsgruppen saßen auf dem Podium: der Präsident der staatlichen Religionsbehörde Ali Bardakoglu, der Ökumenische Patriarch der Griechisch-Orthodoxen Kirche Bartholomäus I., der Patriarch der Gregorianischen Armenier Mesrop Mutafyan, Oberrabbiner Izak Haleva, Bischof Yusuf Çetin von der Syrisch-Orthodoxen Kirche und Edmont Farhat, der Botschafter des Vatikans in der Türkei. Selbst die kleinen Gemeinden der Chaldäer und Nestorianer hatte ihre Priester geschickt. 1
Das Treffen war keine Eintagsfliege. Ähnliche Zusammenkünfte gibt es immer wieder. Bereits am 15. Januar 2004 hatte in Istanbul mit nahezu denselben Teilnehmern eine Art Generalprobe für Hatay stattgefunden, und im Dezember 2007 trafen sich die lokalen Religionsführer in der türkischen Mittelmeerstadt Mersin. 2 Was will man mehr, als dass sich der Regierungschef, die Spitzen der örtlichen Verwaltung und das staatliche Haupt der Mehrheitsreligion, des sunnitischen Islams, für Religionsvielfalt und Toleranz aussprechen? Doch es gibt eine zweite Seite der Medaille.
Am 3. März eines jeden Jahres feiert der Landkreis Askale in der ostanatolischen Provinz Erzurum seine Befreiung von der "armenischen Besatzung". 3 Wie jedes Mal zu diesem Tag seit nunmehr 20 Jahren wurde auch am 3. März 2008 den Kindern Askales die Schlechtigkeit und Grausamkeit der Armenier als Straßentheater vorgeführt: Nachdem sie sich betrunken haben, stecken armenische Banden erst die Moschee in Brand, dann erhängen sie den Imam und ermorden schließlich mit dem Seitengewehr das Baby in der Wiege. Endlich tauchen die türkischen Milizen auf, töten alle Armenier und machen dem Spuk ein Ende. Der Bürgermeister von Askale sagt, die Armenier hätten damals 600 Menschen ermordet, darunter 106 Frauen und 63 Kinder. Er lobt die Darstellung, die der Jugend die nationalen Werte einimpfe, und behauptet, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK bestehe letztendlich aus Armeniern. 4 Ein Hauptmann der Armee ergreift das Wort, pflichtet dem Bürgermeister bei und sagt, die Armenier schrieben den Türken heute die Taten zu, die sie damals selbst begangen hätten. 5
Wie Askale gedenken viele türkische Städte jährlich ihrer "Befreiung" vor nun fast 90 Jahren im Rahmen des Unabhängigkeitskriegs. Im Süden feiert man den Sieg gegen französisch-armenische Truppen, im Westen die Abwehr der griechischen Invasion. Zwar wird nicht überall blutiges Geschichtstheater aufgeführt, doch dass der Feind noch heute lauert, wird überall betont, und immer ist auch eine der einheimischen christlichen Gemeinden, Armenier oder Griechen, Teil des Feindbilds. 6
Im Hinblick auf die religiösen Minderheiten in der Türkei spiegeln die beiden Szenen vollkommen konträre Vorstellungswelten wieder, die doch beide gleichzeitig Realität sind. Mehr noch, idealtypisch betrachtet stehen die Grundaussagen beider Szenen für zwei gegensätzliche Auffassungen von Geschichte und Religion. Doch bevor darauf eingegangen werden kann, muss zugestanden werden, dass die Szene friedlichen Nebeneinanders der Religionen selbstverständlich auch Teil einer gezielten Propaganda der Regierung ist, welche nach dem 11. September 2001 sowie den Terroranschlägen von Madrid und London 2004/05 dem wachsenden Widerstand gegen eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union begegnen will. Die Regierung Erdogan macht aus der Not eine Tugend. Sie präsentiert die Mitgliedschaft eines muslimischen Landes in der EU als Chance für den interreligiösen Ausgleich und will damit Bedrohungsängste aushebeln. "Unser Islam ist anders", lautet die Botschaft; "seht nur, wie wir mit Minderheiten umgehen."
Das harmonische Bild ist Ausdruck einer spezifischen Lesart der türkischen Geschichte, nach der das Osmanische Reich, der Vorgängerstaat der Republik Türkei, als ein für seine Zeit mustergültiger Hort von Toleranz und religiöser Vielfalt aufscheint. Ein prominentes Beispiel dafür liefert der Historiker Kemal Karpat: "Der Osmanische Staat war vielleicht der perfekteste islamische Staat, der je bestand. Sein Streben war darauf gerichtet, mit Hilfe des religiösen Rechts (Scheriat) einen homo islamicus hervorzubringen, während die Nichtmuslime über die liberalen Vorschriften des Millet-Systems in der Lage waren, ihren Glauben und ihre Identität zu bewahren." 7
Karpat ist einer der angesehensten Historiker des Osmanischen Reichs und lehrt in den USA. Mit dieser Einschätzung steht er auch international nicht allein. 8 In der Türkei wird diese Ansicht mit Nachdruck vertreten, und selbst Sprecher der christlichen Minderheiten beziehen sich positiv auf die historische Erfahrung der türkischen Gesellschaft mit Multikulturalität. 9 Das von Karpat angeführte Millet-System ordnete alle Untertanen des Reiches Religionsgruppen, so genannten Millets, zu, die ihre religiösen, schulischen, sozialen und juristischen inneren Angelegenheit selbstverantwortlich regeln durften. An der Spitze stand die herrschende muslimische, danach kamen die griechisch-orthodoxe, die armenisch-gregorianische und dann die jüdische Millet. Auch wenn dieses "System" zeitlich und geographisch große Unterschiede aufwies, sicherte die ihm zugrunde liegende Haltung, dass die christlichen Völker des Balkans und Anatoliens mehrere hundert Jahre osmanischer Herrschaft mit ihrem Glauben, ihrer Sprache und ihrer Sozialorganisation überdauert haben. 10 Gleichheit implizierte dieses System ebenso wenig wie die Verhältnisse im vormodernen Europa, doch kennt die Geschichte des Osmanischen Reichs keine Pogrome gegen Angehörige anderer Religionen, wie sie beispielsweise im christlichen Abendland gegen Juden verübt wurden. 11
Der wirtschaftliche Aufstieg Europas sowie die Nationalbewegungen des Balkans brachten das Millet-System allmählich zum Erliegen. Letztere führten zunächst zur Ausweitung der Zahl der Millets: Es kamen die bulgarische, die rumänische, die protestantische und die (römisch-)katholische Millet hinzu. Die Idee des Nationalstaats und die Gründung von Staaten christlicher Völker auf altem osmanischem Territorium verwandelten die früher "beschützten nichtmuslimischen Untertanen" (dhimmî) zuerst in Gegner des Reiches und später in Feinde der neuen türkischen Nation. Das Reich versuchte mit "Neuordnungen" (tanzimat) eine politische Modernisierung, die auf die Schaffung einer osmanischen Staatsnation gerichtet war, deren Mitglieder unabhängig von der Religion die gleichen Staatsbürgerrechte haben sollten. Doch die Reformen konnten die Frontenbildung zwischen Muslimen und Christen nicht aufhalten, denn die "Neuordnungen" stellten Nichtmuslime den Muslimen rechtlich gleich und machten aus ihnen zuerst politische und wirtschaftliche Konkurrenten und dann "Fünfte Kolonnen" der europäischen Kolonialmächte. Das Bild der friedlichen, wenngleich hierarchischen Ordnung der Religionen, welches in Hatay beschworen wurde, wich dem Bild von der Frontstellung zwischen Christen und Muslimen, wie es uns im Befreiungstheater von Askale entgegentritt.
Wichtige Zwischenschritte im Übergang von einem zum anderen Bild waren der osmanisch-russische Krieg von 1879, die Balkankriege 1912/13 sowie der Unabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg. Die Niederlagen der Osmanen auf dem Balkan führten zur Massenflucht von mehreren Hunderttausend Türken und Muslimen in die Gebiete Anatoliens und transportierten das Bild vom aggressiven Christen. 12 Das Gegeneinander von Christen und Muslimen wiederholte sich im türkischen Unabhängigkeitskrieg (1918 - 1923), als sich die türkischen und kurdischen Muslime im Namen der Rettung von Reich und Kalifat gegen die christlichen Besatzer (Italiener, Franzosen und Griechen) erhoben. "Amtlich" und international "gerechtfertigt" wurde die Gleichsetzung von religiöser und nationaler Zugehörigkeit durch den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der 1923 auf Vorschlag des griechischen Ministerpräsidenten Elefthérios Venizélos abgeschlossen wurde. Rund 1,2 Millionen "Griechen" mussten damals die Türkei, etwa 400 000 "Türken" Griechenland verlassen. Das Kriterium für die Volkszugehörigkeit war nicht die Sprache, sondern die Religion. Über 400 000 weitere Muslime kamen zwischen 1923 und 1939 im Rahmen ähnlicher Verträge aus Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien nach Anatolien. 13
Dieser auf zwischenstaatlicher Abmachung beruhenden, "zivilen" ethnischen Säuberung von Griechenland, Teilen des Balkans und der Türkei war bereits während des Ersten Weltkrieges die Auslöschung armenischen Lebens in Anatolien vorausgegangen. Die offizielle Türkei bestreitet noch heute, dass die "Deportationen" von rund 800 000 Armeniern auf die Vernichtung des armenischen Volkes zielten, und erhält dabei von einigen westlichen Akademikern Unterstützung. 14 Gleichzeitig sind jedoch in den vergangenen Jahren erstmals auch in der Türkei diejenigen zu Wort gekommen, die von einer von langer Hand vorbereiteten Ausrottung der Armenier sprechen. 15
Zwei Dinge stehen im Zentrum dieser gewaltsamen Konflikte zwischen Christen und Muslimen: zum einen das Aufkommen des modernen Nationalstaats in Europa, zu dessen Credo es gehört, dass er nur einer kulturellen Gruppe, seiner Nation, verpflichtet ist; zum zweiten die Entwicklung nationaler Identität aus religiöser Zugehörigkeit. Auf dem Balkan und auch bei den Armeniern waren die Kirchen und ihre Schulen Keimzellen des Nationalgedankens und die ersten nationalen bzw. nationalistischen Institutionen. 16 Die Türken übernahmen dieses Konzept von Staatsbürgerschaft, das auf der Deckungsgleichheit von Religion und Nation und damit auf der ausschließlich kulturellen Begründung von Staatszugehörigkeit und Staatsbürgerrechten beruht. Für die Nichtmuslime der Türkei bedeutete dies freilich, dass sie in eine so verstandene moderne türkische Nation im Grunde genau so wenig integrierbar sind wie Muslime in die christlichen Nationen des Balkans.
Für die politische Kultur der Republik Türkei ist noch ein weiterer Aspekt wichtig. Riza Nur, der bei den Verhandlungen von Lausanne 17 im Ausschuss "Minderheitenfragen" die Türkei vertrat, schreibt in seinen Erinnerungen: "Die Europäer unterscheiden bei uns drei Arten von Minderheiten: rassisch, sprachlich und religiös. Das ist für uns äußerst gefährlich." Nur zählt dann die verschiedenen von Europäern genannten Minderheiten auf und kommt zu dem Schluss: "Praktisch heißt das, dass sie [die Europäer] uns in alle Winde zerstreuen werden. (...) Wir müssen daraus die Lehre ziehen, dass es für uns nur darum gehen kann, im Vaterland keinen Menschen anderer Rasse, anderer Sprache und anderer Religion zu dulden." 18
Damit war nicht die Ausmerzung von "rassischen" und sprachlichen Minderheiten gemeint, sondern ihre Assimilation mit dem Türkentum. Als Bedingung für erfolgreiche Assimilation galt die Zugehörigkeit zum Islam. Musterhaft zeigte sich dies im "Siedlungsgesetz" von 1926, welches drei Gruppen von Einwohnern unterschied: 1. Türken und Türkischsprachige; 2. Nichttürkischsprachige mit Nähe zur türkischen Kultur; 3. Gruppen nichttürkischer Kultur. 19 Kultur diente als Deckwort für Islam. Der Staat hatte seine Säkularisierungspolitik aufgenommen und konnte deshalb den Islam, den er gleichzeitig zurückdrängen wollte, nicht offen zum Kriterium für den Staatsbürger machen. Das Siedlungsgesetz ermächtigte das Innenministerium, Angehörige der Gruppen 2 und 3 umzusiedeln oder des Landes zu verweisen. Zudem wurde verboten, Gruppen von Nichtmuslimen kollektiv die Staatsbürgerschaft zu verleihen.
Zwar wurden die Staatsbürgerrechte offiziell nie an die Religionszugehörigkeit geknüpft, doch die entsprechende Haltung zieht sich durch die Stellungnahmen von Politikern, durch Gerichtsurteile und indirekt auch durch Gesetze und Erlasse. In den 1920er Jahren wurden Privatfirmen gezwungen, den Großteil ihrer nichtmuslimischen Angestellten zu entlassen, und das Beamtengesetz von 1926, welches bis 1965 in Kraft war, machte nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die Eigenschaft "Türke" zur Voraussetzung für die Beschäftigung im öffentlichen Dienst. 20 Noch heute findet sich in der Spitzenbürokratie und in den Offiziersrängen kein einziger Nichtmuslim. Im Jahre 1974 klassifizierte der Kassationsgerichtshof die Stiftungen der religiösen Minderheiten, die Staatsbürger der Türkei sind, als "Stiftungen von Ausländern", 21 und noch 2006 nahm die "Staatsprüfungsbehörde", die dem Staatspräsidenten untersteht, die nichtmuslimischen Stiftungen in ihrem Bericht über den Immobilienerwerb von "Ausländern" in der Türkei auf. 22 Der damalige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer weigerte sich ein Jahr später, die Neufassung des Stiftungsgesetzes zu unterzeichnen, weil das Gesetz den Minderheitenstiftungen angeblich über den Vertrag von Lausanne hinausgehende Rechte einräume, was "den Interessen der türkischen Nation sowie den historischen und moralischen Werten des Türkentums" widerspreche. 23 Politiker der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) fordern heute, eine Gleichbehandlung der nichtmuslimischen Minderheiten von der Lage der muslimischen Türken im griechischen Westthrazien abhängig zu machen, "und nehmen auf diese Weise die nichtmuslimischen Staatsbürger der Türkei für die Lage der türkisch-muslimischen Artgenossen' (in Griechenland) als Faustpfand". 24
Die eben beschriebene Haltung und kein religiöses Dogma liegt dem langsamen Sterben nichtmuslimischer Gemeinden in der Türkei zugrunde. Die Zahl der Nichtmuslime für das Gebiet der heutigen Türkei nahm im Laufe der vergangenen hundert Jahren immer mehr ab (siehe die Tabelle). 25
Der große Einschnitt von 1914 bis 1927 ist Folge der armenischen Katastrophe, des Bevölkerungsaustauschs mit Griechenland und der muslimischen Einwanderung aus dem Balkan. Die weitere Abnahme der Nichtmuslime seit 1927 hängt mit verschiedenen Maßnahmen zusammen, die aus der Vorstellung einer kulturell homogenen Nation herrühren. Zu den wichtigsten zählen: die Verweigerung der Rechte aus dem Lausanner Vertrag für die ostanatolischen Gemeinden der Syrischen und Nestorianischen Kirche seit der Gründung der Republik; die willkürliche Beschränkung des nichtmuslimischen Wirtschaftslebens durch Einschränkung der Freizügigkeit und der Beschäftigung sowie durch Ausgrenzung der Nichtmuslime aus dem öffentlichen Dienst in den 1920er Jahren; 26 staatlich initiierte Übergriffe gegen Juden in Ostthrazien und ihre Vertreibung nach Istanbul im Jahr 1934; 27 Einberufung aller nichtmuslimischen Männer zwischen 20 und 44 Jahren zum Militärarbeitsdienst im Jahr 1941; Einführung einer Sondersteuer für "Kriegsgewinnler" 1942, die zur Enteignung von nichtmuslimischen Geschäftsleuten genutzt wurde; staatlich initiierte Pogrome gegen nichtmuslimische Geschäfte und Wohnungen in Istanbul im Rahmen der Zypernkrise 1955; willkürliche Ausweisungen griechischer Staatsbürger im Rahmen der Zypernkrise 1964 und Schwächung der griechischen Gemeinde Istanbuls; seit 1974 die schleichende Enteignung der Kirchen-, Schul- und Krankenhausstiftungen der nichtmuslimischen Minderheiten.
Von den etwa 300 000 Armeniern, die bei Gründung der Republik noch in der Türkei gelebt haben sollen, sind heute noch rund 60 000 übrig. Nach einer Kampagne des Istanbuler Patriarchats zur Umsiedlung leben sie fast ausschließlich in Istanbul. 28 Die Istanbuler Griechen, die zusammen mit den Türken in Westthrazien von Bevölkerungsaustausch ausgenommen worden waren, zählten noch Anfang der 1940er Jahre etwa 125 000 Personen. Heute ist die Gemeinde auf weniger als 2000 Mitglieder geschrumpft und ist aus eigener Kraft nicht überlebensfähig. Obwohl die jüdische Gemeinde von allen Minderheitengruppen die besten Beziehungen zum Staat unterhält, ist ihre Zahl von rund 80 000 in den 1930er Jahren auf heute 17 000 zurückgegangen. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 200 000 Gläubige in ihren Zentren an der syrischen Grenze hatte, verfügt dort heute nur noch über rund 4500 Mitglieder. Etwa 10 000 syrische Christen leben in Istanbul. In Schweden und Deutschland leben heute jeweils etwa 60 000 Mitglieder dieser Kirche.
Die Liste der Probleme der Gemeinden ist lang, und den Bemühungen, sie zu verkürzen, war bisher nur wenig Erfolg beschieden. Obwohl der Vertrag von Lausanne allen nichtmuslimischen Minderheiten die Weiterführung und Neugründung ihrer Institutionen zusicherte, gewährt der Staat diese Rechte nur äußerst selektiv. Die ostanatolischen Kirchen (Syrer und Nestorianer) können bis heute keine eigenen Schulen betreiben, und die syrischen Christen wurden selbst für den außerschulischen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache häufig vor den Kadi gezerrt. Die protestantischen Gemeinden meist türkischer Konvertiten (etwa 5000) sind für den Staat nicht existent. Bis Juli 1990 mussten die Kinder beider Gruppen am staatlichen Religionsunterricht teilnehmen, der aus islamischer Perspektive unterrichtet wird und noch immer auch islamischen Kult lehrt und abfragt. Alle Staatsbürger zahlen die gleichen Steuern, doch nur (sunnitische) Muslime erhalten religiöse Dienstleistungen. Die Minderheiten müssen nicht nur die Kosten für Religionslehrer und Geistliche selbst tragen, der Staat erlaubt auch nicht, dass geistlicher Nachwuchs ausgebildet wird. Die Priesterseminare der Griechisch-Orthodoxen und der Armenisch-Gregorianischen Kirche (Chalki und Tibrevank) wurden in den 1970er Jahren ohne Ersatz staatlicherseits geschlossen.
In den Schulen der Minderheiten wird seit Jahrzehnten um Unterricht in der Muttersprache gestritten. Ein obligatorischer stellvertretender Direktor, der immer "Türke" (sprich: Moslem) ist, führt in den Schulen der Minderheiten oft das eigentliche Regiment. 29 Das finanzielle Rückgrat der Gemeinden bilden ihre Kirchen-, Schul- und Sozialstiftungen. Mit den verschiedensten Begründungen werden seit den 1960er Jahren immer wieder Immobilien beschlagnahmt und Stiftungen willkürlich dem staatlichen Stiftungsdirektorium unterstellt; die Eintragung von Schenkungen wird verhindert. 30 Insgesamt sollen 150 Milliarden US-Dollar auf dem Spiel stehen. Die bisherigen Reformen erlaubten bisher nur in einem Fünftel der Fälle eine befriedigende Lösung. 31
Es ist kein Zufall, dass das Bild religiöser Vielfalt in der Türkei, welches am Anfang dieses Beitrags steht, primär von muslimischen Kreisen geschaffen und von ihnen benutzt wird. Muslimische Zusammenschlüsse wie die "Stiftung für Schriftsteller und Journalisten" waren die ersten, die den interreligiösen Dialog betrieben, und die muslimisch-konservative AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Erdogan benutzt Auftritte wie den in Hatay für ihren EU-Kurs. Die AKP war es auch, welche die bescheidenen Verbesserungen für Nichtmuslime durchsetzte: Das 6. Anpassungspaket ersetzte im Bebauungsplangesetz (Imar Kanunu) den Ausdruck "Moschee" durch "Gebetshaus" und machte damit die formelle Gleichbehandlung und Neuerrichtung von Kirchen möglich. Die Verwaltung darf seither auch Minderheitenstiftungen Schenkungsimmobilien überschreiben. Erste Schritte zur Gleichbehandlung der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Rahmen der Lausanner Vorschriften wurden eingeleitet, und diskriminierende Nummernfolgen in den Pässen der Minderheiten fielen weg. Gleichzeitig machte die Regierung Vorstöße zur Öffnung des griechischen Priesterseminars und verabschiedete ein neues Stiftungsgesetz. Unter allen türkischen Politikern sprach sich bisher nur der Premierminister klar dagegen aus, "religiösen Nationalismus" zu betreiben, denn es sei nicht Aufgabe des säkularen Staates, den Titel " christlicher Geistlicher" zu bewerten. 32
Die Opposition sieht in alldem "Verrat" an der Türkei und eine Schwächung des spezifischen türkischen Laizismus. Denn dieser kennt keine Selbstorganisation der Mehrheitsreligion und deshalb auch keine Trennung von Staat und Religion. 33 Ein Recht der Nichtmuslime auf selbstbestimmte Ausbildung ihres geistlichen Nachwuchses, so fürchtet man, ziehe schnell ähnliche Forderungen von muslimischen Kreisen nach sich. Gleiches gilt für die Gewährung eines rechtlichen Status für die Kirchen jenseits ihrer Verfasstheit als eine Reihe von "Immobilienstiftungen".
Religion als Aufgabe der Zivilgesellschaft zu verstehen, würde ganz von selbst die Trennung von Staat und Religion, religiöse Vielfalt und rechtliche Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion bedeuten. Für die Türkei ist ein solches Konzept noch immer Neuland. Es setzt voraus, dass sich die Geisteshaltung ändert, wonach der Staat seine Nation kulturell formen darf, ja muss, weil es für den Bestand des Staats als unabdingbar gilt. Das bedeutet jedoch auch, dass sich die Republik Türkei von ihrem Misstrauen den eigenen muslimischen Bürgern gegenüber lösen müsste.
1 Vgl.
Hürriyet vom 10.7. 2005; Sabah vom 19.6. 2005; Yeni Safak vom
25.8. 2005; Radikal-Iki vom 2.10. 2005.
2 Vgl. Günter Seufert/Christopher
Kubaseck, Die Türkei, München 2006, S. 161, und
Hürriyet Çukurova vom 22.12. 2007.
3 Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten
armenische Freischärler, ein unabhängiges Armenien in
Anatolien zu gründen.
4 Vgl. Radikal vom 4.3. 2008.
5 Vgl.
www.kenthaber.com/Arsiv/Haberler/2008/Mart /03/Haber_344761.aspx
(25.4. 2008).
6 Vgl. Murat Belge, Askale zevksizligi,
in: Radikal vom 7.3. 2008.
7 Kemal Karpat, Balkanlar'da Osmanli
mirasi ve ulusçuluk, zit. nach: www.turkdirlik.com (25.4.
2008).
8 Vgl. z.B. Benjamin Braude/Bernard
Lewis (eds.), Christian and Jews in the Ottoman Empire: the
functioning of a plural society, New York 1982.
9 Vgl. Hrant Dink, Die Saat der Worte,
hrsg. von Günter Seufert, Berlin 2008 (Schiler-Verlag, i.E.),
Artikel vom 14.12. 2001.
10 Vgl. aus erster Anschauung: Charles
Eliot, Turkey in Europe, London 1900, hier: Ausgabe 1965, S.
65f.
11 Vgl. Çetin Yetkin:
Türkiye'nin devlet yasaminda Yahudiler (Juden im
türkischen Staatsleben), Istanbul 1992.
12 Von 1876 bis 1927 kamen nach
offiziellen Dokumenten 1 994 999 Muslime aus dem Balkan und dem
Kaukasus in das Osmanische Reich bzw. ab 1923 in die Republik
Türkei; vgl. Cem Behar (Hrsg.), Omanli Imperatorlugu ve
Türkiye nüfusu, Bd. II, Ankara 1996, S. 51 und S.
62.
13 Vgl. Ahmet Içduygu:
Türkiye'de uluslararasi göçün siyasal arka
plani (Der politische Hintergrund internationaler Migration in der
Türkei), erscheint auf Deutsch in: Barbara Pusch, Facetten
internationaler Migration in die Türkei, Würzburg 2008
(i.E.).
14 Darunter Norman Stone, Bernard
Lewis, Guenter Lewy und Standford Shaw.
15 Vgl. zuletzt Taner Akçam,
Ermeni meselesi hallolumustur (Die armenische Frage ist
gelöst), Istanbul 2008.
16 Für das bulgarische Bespiel
vgl. Ch. Eliot (Anm. 10), S. 314 ff.; Tobias Heinzelmann, Die
Balkankrise in der osmanischen Karikatur, Istanbul 1999, S. 36ff.
Für die Armenier vgl. H. Dink (Anm. 9), Artikel vom 14.11.
2003.
17 Der Vertrag von Lausanne,
abgeschlossen nach dem türkischen Unabhängigkeitskrieg
1923, legte die Grenzen des türkischen Staates fest.
18 Zit. nach Ayhan Aktar, Varlik
Vergisi ve Türklestirme politikalari (Besitzsteuer und
Türkisierungspolitik), Istanbul 2004, S. 111.
19 Vgl. Soner Çagatay, Kemalist
dönemde göç ve iskan politikalari (Siedlungs- und
Migrationspolitik in der kemalistischen Periode), Toplum ve Bilim,
Sommer 2002, S. 218 - 241.
20 Vgl. A. Aktar (Anm. 18), S.
119.
21 H. Dink (Anm. 9), Artikel vom 19.2.
1999.
22 Vgl. Devlet Denetleme Kurumu,
Bericht vom 6.2. 2006, S. 3; www.cankaya.gov.tr (27.9. 2007).
23 Zit. nach Baskin Oran, Vakiflar
Yasasi (Stiftungsgesetz), Serie in Radikal vom 7. bis 9.2. 2008;
hier: Ausgabe vom 8.2. 2008.
24 Turgut Tarhanli, zit. nach Baskin
Oran, Islamci laiklerimizle bir gece (Ein Abend mit unseren
islamistischen Laizisten), in: Radikal-Iki vom 24.2. 2008.
25 Vgl. A. Içduygu (Anm.
13).
26 Oran 2008, Ausgabe vom 9.2.
2008.
27 Vgl. Kurtulus Tayiz, Resmi raporda
Yahudi tehciri, in: Taraf vom 24.4. 2008.
28 Vgl. H. Dink (Anm. 9), Artikel vom
5.1. 2001.
29 Vgl. ebd., Artikel vom 6.12.
2002.
30 Vgl. Dilek Kurban, Vakiflar Kanunu
tasarisi gayrimüslim Cemaat Vakflari'nin sorunlari için
çözüm getirmiyor (Der Entwurf des
Stiftungsgesetzes löst die Probleme der Minderheitenstiftungen
nicht), TESEV-Bericht, in: Agos vom 7.12. 2007, S. 12f.
31 Oran 2008, Ausgabe vom 7.2.
2008.
32 Dabei geht es um den Titel
"Ökumenisches Patriarchat", den das Griechisch-Orthodoxe
Patriarchat beansprucht und der es zum Primus inter pares seiner
Zunft machen soll, während es für die türkischen
Behörden nur der Bischofssitz von Istanbul ist.
33 Vgl. dazu Günter Seufert, Staat
und Islam in der Türkei, SWP-Bericht, Berlin 2004.