Sein Saisonziel? Der Tennisprofi Nicolas Kiefer musste bei dieser Frage Anfang des Jahres nicht lange nachdenken. Im Fokus hatte er vor allem die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking, für die er sich zuvor im Herbst schon qualifiziert hatte. Kiefer hat vor vier Jahren in Athen die Silbermedaille im Doppel gewonnen und war damals nur knapp an der Erfüllung seines Kindheitstraumes gescheitert. Mit seinem Partner Rainer Schüttler hatte er sich im Finale vier Matchbälle erspielt, aber die beiden Deutschen hatten keinen nutzen können.
Die bitteren Tränen, die Kiefer damals weinte, sind längst getrocknet, und nun will der Hannoveraner unbedingt noch einmal zu Olympischen Spielen, "und wenn ich hin schwimmen müsste". Die ganze Atmosphäre habe ihn völlig begeistert, das Zusammentreffen mit den vielen anderen Sportlern. Als Tennisspieler wisse er schließlich, dass er zu den bevorzugten Sportlern gehöre, die bei der Ausübung ihres Sports viele Annehmlichkeiten wie Fahrdienste oder exzellente Hotels in Anspruch nehmen könnten. Auch deshalb sei es so besonders reizvoll, einmal den Alltag der anderen Sportler zu erleben.
Olympische Spiele - der Alltag der anderen Sportler? Nichts ist von der Realität wohl weiter entfernt als diese Annahme. In Wahrheit sind diese knapp zwei Wochen der absolute Ausnahmezustand, und je unbedeutender die Stellung der Sportart im wirklichen Alltag ist, desto größer ist dieser Ausnahmezustand. Für die meisten Randsportarten sind Olympische Spiele die einzige Möglichkeit, im Erfolgsfall mit hundertprozentiger Sicherheit auf sich aufmerksam zu machen und in eigener Sache zu werben. Während Olympischer Spiele geraten schließlich auch Judoka oder Sportschützen in den Fokus der Öffentlichkeit, sobald sie es schaffen, in die Medaillenränge zu kommen. Und kleine Helden für kurze Zeit werden gar geboren, wenn sie die erste Goldmedaille für Deutschland gewinnen. Denn je länger die ungeduldige Heimat auf diesen ersten Olympiasieg wartet, desto größer wird daheim das mediale Echo auf dieses große Ereignis ausfallen und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der mit dieser Goldmedaille verbundene Name einen Erinnerungswert besitzt, der über diese zwei Wochen hinausgeht.
Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass sich diese Medaille für jeden Einzelnen auch in klingende Münze umwandeln lässt, in Mannschaftssportarten verschärft sich diese Schwierigkeit noch. Bei den vergangenen Olympischen Sommerspielen in Athen etwa schrieben die deutschen Hockeydamen ein Sommermärchen, gegen das jede noch so erfolgreiche Geschichte deutscher Fußballspieler bei der Weltmeisterschaft 2006 eigentlich hätte verblassen müssen. Den unmittelbaren Kontakt zur Weltspitze hatte die Mannschaft damals längst verloren, was sich ein Jahr zuvor trotz eines kurzfristigen Trainerwechsels vor der Europameisterschaft gezeigt hatte. Platz fünf war das Ziel aller Träume in Griechenland gewesen, weil das den Zugang zur höchsten Förderstufe ermöglicht hätte. Vor dem letzten Gruppenspiel indes hätten die deutschen Damen im ungünstigsten Fall bei einer Niederlage noch Letzte des Turniers werden können, was eine unweigerliche Etatkürzung des Verbandes zur Folge gehabt hätte. Der Sieg aber katapultierte die Mannschaft urplötzlich durch eine glückliche Fügung des Schicksals ins Halbfinale, und nach einem Erfolg im Siebenmeterschießen fanden sich die Deutschen plötzlich im Finale wieder. Dort hieß der Gegner Niederlande, und die Aussichten auf die Goldmedaille waren ähnlich vielversprechend wie ein deutscher Sieg im legendären Finale der Fußball-WM von 1954. Der Abend in Athen endete ähnlich wie jener 50 Jahre zuvor in Bern. Die deutschen Damen gewannen sensationell 2:1, tanzten bei der Siegerehrung voller Glückseligkeit Sirtaki und lieferten aus deutscher Sicht das Bild der Olympischen Spiele von 2004, das mit Abstand den höchsten positiven Erinnerungswert lieferte.
Das blieb nicht ohne Echo aus der Heimat, wo während Olympischer Spiele am Fernseher ohnehin alles verfolgt wird, was eine deutsche Medaille verspricht. Unglaubliche acht Millionen Zuschauer hatten beim Halbfinalsieg über China vor den Bildschirmen in Deutschland gesessen, knapp sechs Millionen 1 dann beim Finale - eine astronomische Zahl, wenn man bedenkt, dass es Länderspiele der Hockeydamen selten überhaupt ins Fernsehen schaffen und vor Ort in der Regel meistens nur ein paar hundert Fans zuschauen. Das Wunder von Athen hinterließ Eindruck auch bei denen, die sich sonst um Damen-Hockey eher wenig kümmern. Die Olympiasiegerinnen wurden von den Sportjournalisten zur Mannschaft des Jahres gewählt - wie zwölf Jahre zuvor die Hockey-Herren, die in Barcelona 1992 die Goldmedaille gewonnen hatten. Nach ihrer Rückkehr wurden die golddekorierten Damen kurz von Sender zur Sender gezerrt, aber dann war der Rausch schnell vorbei. Ein paar Wochen später beschwerten sich die desillusionierten Olympiasiegerinnen, dass nicht allzu viel dabei herausgesprungen sei.
Warum hätten Sponsoren plötzlich auch mit Werbeverträgen auf diese goldige Geschichte reagieren sollen? Schließlich verschwinden Randsportarten in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit trotz aller Erfolge meistens wieder so schnell in der Versenkung wie sie plötzlich aufgetaucht sind, und aus dem immer wieder erhofften Boom wird nichts. Das Fernsehen hat diese ungute Entwicklung in den vergangenen Jahren noch verschärft, seitdem sich auch die öffentlich-rechtlichen Sender in erster Linie um die populären Sportarten kümmern oder groß als Promoter ins Profibox-Geschäft eingestiegen sind. So steht auf manchen Sendungen zwar "Sportschau" drauf, aber in Wahrheit ist nur Fußball drin. Vor allem die Randsportarten des Sommers sind in erster Linie nur während Olympischer Spiele herzlich willkommen, weil dann alles Quote garantiert. Im Winter sieht es für die, die eigentlich im Schatten stehen, etwas besser aus, weil ARD und ZDF am Wochenende vom frühen Morgen bis in den Nachmittag hinein das Programm mit Wintersport füllen und sich dementsprechend viel Mühe geben, diese Sendezeit auch zu promoten.
Hockey ist beispielsweise zwar seit Jahrzehnten die erfolgreichste Spielsportart in Deutschland, taucht aber verlässlich im Fernsehen nur während Olympischer Spiele auf. Von der WM 1998 der Damen und Herren in den Niederlanden, die jeweils mit dritten Plätzen der deutschen Teams endete, gab es daheim überhaupt keine Fernsehbilder zu sehen. Vier Jahre später, als die deutschen Hockeyherren in Malaysia erstmals in der Geschichte sogar Weltmeister wurden, durften zumindest die Tore des Endspiels kurz bewundert werden. Bei Olympischen Spielen hingegen nimmt die Medienpräsenz rasant zu und auch die Stiefkinder werden interessant. 53,7 Millionen Zuschauer, das sind 75,4 Prozent der deutschen Bevölkerung, haben mindestens einmal die Olympia-Berichterstattung von ARD und ZDF während der Olympischen Spiele 2004 in Athen eingeschaltet. Das sind deutlich mehr als bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea (42,92 Millionen/59,9 Prozent). Deshalb ist der Aufwand des Fernsehens schon vor Olympischen Spielen enorm. Die jeweiligen Reporter kümmern sich schon mindestens ein halbes Jahr vorher um "ihre" Sportart, pflegen Kontakte und drehen Filme für die Vorberichterstattung. Und bereiten sich wie die Athleten vor allem auf ihren großen Einsatz vor.
Es gibt seltene Ausnahmen, wie etwa die Hockey-Weltmeisterschaft 2006 in Mönchengladbach, als die Begeisterung über die Fußball-WM immer noch durch das Land ging und auch die folgende Hockey-Veranstaltung noch in diesen Sog geriet. Die deutschen Herren verteidigten ihren Titel auf begeisternde Art und Weise, aber wenn die Protagonisten eine Wertigkeits-Rangliste aufstellen müssten, dann stünden Olympische Spiele auch wegen der Medienpräsenz und der öffentlichen Wahrnehmung weit an erster Stelle. "Meine Olympiamedaille würde ich nie gegen einen der beiden Weltmeister-Titel eintauschen", sagt etwa der Hockey-Rekord-Nationalspieler Philipp Crone - dabei hatten die Hockeyherren in Athen "nur" den dritten Platz belegt.
Ohne Olympia ist alles nichts - das wissen vor allem die Verbände der Randsportarten. Natürlich kann es der Deutsche Fußball-Bund verkraften, in Peking mal wieder nicht dabei zu sein mit den Männern, natürlich ist es für einen Tennisprofi zwar möglicherweise ein ideeller, aber kein wirtschaftlicher Schaden, sich nicht zu qualifizieren. Für die, die aber am Tropf Olympischer Spiele und ihrer Bedeutung hängen, ist "dabei sein" schon deshalb alles, weil es teilweise von existenzieller Bedeutung ist. Denn schlechter, als eine Randsportart zu sein, die keine Gnade vor dem Internationalen Olympischen Komitee fand und nicht ins Programm aufgenommen wurde, ist nur noch, zwar eigentlich dazugehören, sich aber nicht für Olympische Spiele zu qualifizieren. Wer an Olympischen Spielen teilnimmt, ist auch ein kleiner Botschafter Deutschlands, und wird dementsprechend vom Bundesinnenministerium gefördert. Wer seine Chance zur Qualifikation aber verpasst, muss Etatkürzungen in Kauf nehmen.
Dementsprechend groß war die Aufregung beim Deutschen Hockey-Bund, als die Herren im vergangenen Jahr zwar als Weltmeister zur Europameisterschaft fuhren, dort aber als Vierter einen der drei direkten olympischen Startplätze überraschend verpassten. Über die letzte Chance auf Peking wurde ebenfalls in Asien entschieden - in einem japanischen Ort namens Kakamigahara fanden die vermutlich wichtigsten Spiele einer deutschen Hockey-Nationalmannschaft seit Jahren statt. Ein Scheitern in diesem Qualifikationsturnier wäre der sportliche GAU gewesen und hätte den Verband im Kampf um die öffentliche Wahrnehmung und im Werben um Verbandssponsoren um Jahre zurückgeworfen. Das Finale gegen Japan in Kakamigahara war deshalb vermutlich wichtiger als die beiden WM-Endspiele in Kuala Lumpur und Mönchengladbach, wofür auch die große Erleichterung nach dem Sieg spricht.
Olympia steht als Medienereignis für sich und gibt den Randsportarten für einen Moment eine extreme Bedeutung. Auch deshalb etwa ist Adidas Ausrüster von 27 der 28 Sportarten - ein Engagement, welches das Unternehmen nach Peking überdenken will, weil es auf Intervention der Konkurrenten nicht mehr mit den drei Streifen auf Hemd oder Hose werben darf. Treffen würde das wieder die "Kleinen", die sich während Olympischer Spiele im Fall von Medaillengewinnen für kurzfristige Anerkennung freuen dürfen - einerlei, ob es sich um Kanu, Rudern, Schießen oder Hockey handelt.
Wem etwa der Name von Andreas Dittmer geläufig ist, der wird vielleicht wissen, dass es sich um einen Kanu-Olympiasieger handelt. Genauer sagt um einen dreimaligen Goldmedaillengewinner - Dittmer hat 1996 in Atlanta, 2000 in Sydney und 2004 jeweils im Einer- oder Zweier-Canadier triumphiert. Das hat ihm einen gewissen Bekanntheitsgrad eingebracht, den er ohne Olympia trotz seiner sechs Weltmeistertitel nicht annähernd erreicht hätte. Deshalb werden bei den Randsportarten die Anstrengungen im Olympiajahr noch einmal deutlich erhöht und höhere Trainingsumfänge absolviert. Wer es sich leisten kann, lässt sich von seinem Arbeitgeber freistellen oder legt ein Freisemester ein, um sich ganz auf die Olympischen Spiele konzentrieren zu können. Für manchen geht die Rechnung mit einem Medaillengewinn auf, die wenigsten aber können davon wirtschaftlich profitieren. Für alle aber sind diese knapp zwei Wochen der absolute Ausnahmezustand, ehe wieder der vierjährige Alltag beginnt, in dem um jede Beachtung gekämpft werden muss - eine Olympiade der besonderen Art.
1 Nach Daten der
AGF/GfK Fernsehforschung, vgl. Camille Zubayr/Stefan Geese/Heinz
Gerhard, Olympia 2004 im Fernsehen, in: Media Perspektiven, (2004)
10, S. 466-471.