Christina Jüttner
Erziehung ist für die Kita-Leiterin »Arbeit im ganzheitlichen Sinn«. Dazu gehört auch, Grenzen zu definieren
Immer häufiger wird der Ruf laut, die Ausbildung von Erzieherinnen in Deutschland müsse dringend verbessert werden, um den Ansprüchen, die unsere Gesellschaft an die Erziehung und Bildung von Kindern stellt, gerecht zu werden. Ist die Forderung berechtigt?
Kindertagestätten haben neben dem Erziehungs- und Betreuungsauftrag auch einen Bildungsauftrag. Deshalb ist es wichtig, dass Erzieherinnen einen guten Schulabschluss vorweisen. Seit circa zwei Jahren gilt im Land Berlin - so wie in vielen EU-Staaten übrigens auch - als Zugangsvoraussetzung für eine Ausbildung das Abitur oder Fachabitur, was ich grundsätzlich begrüße. Aber allein das Abitur macht noch keine gute Erzieherin aus. Neben den kognitiven Fähigkeiten ist es auch wichtig, sich in das Kind hineinfühlen zu können und so soziale Kompetenz und Herzensbildung zu vermitteln.
Finden Sie solche Erzieherinnen?
Es wird schwerer, gute Erzieher zu finden. Viele sind wenig belastbar und wenig flexibel. Das ist sicher auch ein Ergebnis der eigenen Erziehung, nicht gefordert worden zu sein. Als Erzieher muss man sich in die Kinder einfühlen können. Oft fehlt es den Erzieherinnen an elementaren Kenntnissen. Gerade im freien Spiel oder bei Fingerspielen können alle Sinne angesprochen und gefördert werden: Dazu gehören Sprachbildung, mathematische Grundkenntnisse durch Abzählreime und Umweltkenntnisse, aber auch Freude und soziales Miteinander.
Woran liegt es, dass Erzieherinnen dieses Wissen nicht mehr mitbringen?
Häufig ist die Motivation, mit der sie in den Beruf starten, zu oberflächlich: Ich spiele gerne mit Kindern und deshalb erlerne ich den Beruf - das reicht als Begründung und Haltung bei Weitem nicht aus. Erziehen ist "Arbeit" im ganzheitlichen Sinn. Es bedeutet, Kindern mit allen Sinnen das Leben zu erschließen, Freude am Leben zu wecken und die Kinder stark zu machen für das Leben in der Welt.
Wie machen Sie das?
Wir haben in der Kindertagesstätte viele Rituale, bei denen die Sinne angesprochen werden. Im Morgenkreis steht beispielsweise eine Kerze in der Mitte als sichtbares Zeichen für die Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Wenn wir eine Geschichte, ein Märchen erschließen, und es darin heißt, das Herz war schwer wie Stein, haben wir im Kinderladen ein Herz aus Stein. Das Herz können sich die Kinder auf die Brust legen und die seelische Last körperlich erfahren.
Sie sind die Leiterin einer katholischen Kindertagesstätte im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Was ist bei Ihnen anders als in anderen Kinder- gärten?
Die katholische Kirchengemeinde Heilige Familie hat dieses Haus 1995 vom Bezirksamt übernommen - samt der Erzieher und Kinder. Vorher war dieser Kindergarten staatlich und so waren viele Eltern und Erzieherinnen zunächst verunsichert. Eine gewisse religiöse Ungebildetheit bestimmte das Klima. Das hat mich damals sehr erschreckt. Nach und nach wuchs jedoch das Vertrauen in unsere Arbeit. Wir feierten gemeinsam die religiösen Feste im Jahreskreislauf und die Eltern spürten, dass unser religiöses Leben ein Angebot ist und wir sie als einzigartige Personen vorbehaltlos annehmen. Inzwischen sind wir ein gutes Team von Erziehrinnen aus den neuen und alten Bundesländern mit verschiedenen Konfessionen.
Private und kirchliche Träger werden bei Eltern immer beliebter. Wie erklären Sie sich das?
Ein Grund ist sicher, dass wir den Eltern mit Achtung begegnen, uns Zeit nehmen für jedes einzelne Kind. Bei uns erfahren Eltern und Kinder eine werteorientierte Erziehung aus dem Glauben. Aber nicht nur das: Die Kinder erfahren, dass unser religiöses Leben eng verbunden ist mit dem Jahreskreis in der Natur. Nach einer stillen Zeit bricht im Frühjahr und Sommer alles auf, neues Leben entsteht und auch die religiösen Feste spiegeln diesen Kreis wider.
Wir wollen Kinder sensibel machen für ihre Umwelt, ihre Kultur, ihre Mitmenschen. Wir bemühen uns, Kinder anzunehmen wie sie sind und auch die Eltern ernst zu nehmen. Ich verstehe mich als "Dienstleister". Einen "Dienst tun" hat für mich nichts Negatives. Zu dienen heißt, für den Anderen da zu sein.
Haben Eltern in den vergangen 15 Jahren ihren Erziehungsstil verändert?
Viele Eltern sind verunsichert. Sie haben Schwierigkeiten, klare Regeln aufzustellen, und diese dann auch mit liebevoller Konsequenz durchzusetzen, dem Kind etwas zuzutrauen und Forderungen an das Kind zu stellen. Auch sind viele Eltern gerade durch die Pisastudie sehr leistungsorientiert und vergessen die Bedeutung der sozialen Kompetenz. Zum Teil erleben wir, dass Kinder von einer zur anderen Veranstaltung gefahren werden: Sportverein, Musikschule, Ballett. Oft bleibt den Familien wenig Zeit, gemeinsam etwas zu unternehmen, den Alltag im Alltäglichem zu gestalten. Häufig wird dann das Wochenende so vollgepackt, dass das Kind am Ende überfordert ist. Kinder brauchen nicht ständig Action. Für sie ist es wichtig, dass ihre Eltern teilhaben an ihrer Welt, an dem, was sie bewegt.
Welche Ratschläge würden Sie Eltern geben?
Neben dem respektvollen Umgang ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen und diese nicht ständig zu diskutieren. Das verunsichert das Kind. Je jünger Kinder sind, um so eindeutiger müssen diese Grenzen sein. Eltern sollten ihre Kinder ermutigen, an einer Sache dranzubleiben, auch wenn es Schwierigkeiten gibt. Dadurch lernen Kinder, eine gewisse Anstrengungsbereitschaft zu entwickeln, die ihnen später hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Außerdem sind Verbindlichkeiten sehr wichtig. Dazu gehört, eine Entscheidung zu treffen und sie dann auch zu tragen. Kinder wollen und sollen ernst genommen werden. Eltern dürfen sich von den vielen Angeboten, die es gibt, nicht erdrücken lassen. Es gibt immer mehr Eltern, die wollen alles für ihr Kind und tragen selbst immer weniger dazu bei.
Dann finden Sie es nicht richtig, wenn Zusatzkurse wie Englisch für Dreijährige, Sport oder Ballett angeboten werden?
Gegen einzelne Bildungsangebote ist überhaupt nichts zu sagen. Frühkindlicher Erwerb einer Fremdsprache ist sehr sinnvoll, weil die Kinder in diesem Alter leicht lernen. Aber wenn man immer mehr Angebote von außen nutzt, wird man als Kita leicht zur Bewahranstalt. Dann muss ich nur noch organisieren: Wann kann der Englischkurs stattfinden? Wann das Schwimmen? Wann musikalische Früherziehung und Yoga? Als Kindergarten sind wir aber vor allem für eine ganzheitliche Bildung und Erziehung zuständig. Auf unseren Ausflügen lernen Kinder ja nicht nur, wie man sich im Straßenverkehr verhält, sondern auch, Verantwortung füreinander zu übernehmen. So bereiten wir sie nicht nur auf die Schule, sondern auf das Leben vor.
Wie werden aus Kindern glückliche, verantwortungsvolle Erwachsene?
Oh, da muss viel zusammen kommen. Aber eins ist neben Wissensvermittlung, der Fähigkeit zur Einfühlung und einer liebevollen Konsequenz ganz wichtig: Man muss Kindern auch vertrauen und ihnen zutrauen, Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Unsere Aufgabe ist es, die Kinder nicht vor dem Leben zu beschützen, sondern sie zum Leben zu ermutigen und sie nicht zu entmündigen, ihnen respektvoll zu begegnen, sie zu begleiten und zu unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen. "Hilf mir, es selbst zu tun", das sollte unser Erziehungsziel sein.
Das Interview führte Annette Rollmann
Christina Jüttner (48) wuchs in Sachsen-Anhalt auf. Ihre Ausbildung zur Erzieherin an einer katholischen Fachschule wurde zu DDR-Zeiten von den staatlichen Institutionen nicht anerkannt, so dass sie ausschließlich in Einrichtungen der katholischen Kirche arbeiten konnte. Vor 13 Jahren übernahm sie die Leitung der Kita "Heilige Familie".