Künstliche Befruchtung
Für viele Paare wird die Prozedur zu einer Belastungsprobe
4150 Gramm schwer, 53 Zentimeter groß und kerngesund - Oliver Wimmelbacher kam als normales Baby auf die Welt. Dennoch berichteten sämtliche Medien, als die Erlanger Universitätsklinik 1982 seine Geburt verkündete. Der Junge war das erste Kind in Deutschland, das nicht im Mutterleib, sondern außerhalb des Körpers im Reagenzglas gezeugt wurde (in-vitro, abgekürzt IVF). Vergeblich hatte seine Mutter versucht, auf natürliche Weise schwanger zu werden.
Was damals als Sensation galt, ist heute in den mehr als 100 reproduktionsmedizinischen Praxen in Deutschland tägliche Routine. Allein hierzulande wurden bislang mehr als 150.000 IVF-Kinder geboren, weltweit mindestens zwei Millionen. Ungewollte Kinderlosigkeit hat sich zu einer stillen Volkskrankheit entwickelt. Bei rund zehn Prozent aller Paare erweist sich mindestens ein Partner als unfruchtbar.
Die Gründe dafür sind vielfältig. So gibt es Indizien dafür, dass zum Beispiel die Spermienqualität gesunken ist. Wissenschaftlich bewiesen ist diese These bislang jedoch nicht. Unbestritten dagegen ist der Einfluss der späten Familienplanung auf die Unfruchtbarkeit. Wenn Paare sich erst ab Mitte Dreißig für ein Kind entscheiden, wird das biologische Zeitfenster einer erfolgreichen Zeugung insbesondere für Frauen schmal. Denn nicht nur die Menge der befruchtungsfähigen Eizellen sinkt, sondern ebenso die Qualität.
Die Fortpflanzungsmedizin kann den Mangel ausgleichen, indem sie mit Hormongaben die Zahl der Eizellen pro Einsprung erhöht. Trotz aller Fortschritte ist die Technik jedoch kein Kinderspiel. Wer sich auf eine Kinderwunschbehandlung einlässt, muss noch immer mit einem Dutzend Arztbesuchen, täglichen Spritzen und einem operativen Eingriff rechnen. Die injizierten Hormone können starke Stimmungsschwankungen und Unterleibsschmerzen bei den Frauen verursachen. Gravierender sind die seelischen Folgen. Das Auf und Ab der Gefühle stellt das Paar auf eine schwere Belastungsprobe. Denn bei jedem Schritt der Prozedur heißt es warten und hoffen: Warten, dass die entnommenen Eizellen und die vom Mann gewonnenen Spermien sich vereinen. Warten auf den Schwangerschaftstest. Warten auf den nächsten Versuch, wenn es wieder nicht geklappt hat. "Man plant alles nach diesen Versuchen", sagt eine Betroffene, "Job und Freizeit, Hausarbeit, Sex." Durchschnittlich ist nur jeder sechste Versuch erfolgreich.
Seit 2004 müssen sich IVF-Patienten zur Hälfte finanziell an allen Eingriffen und Medikamenten beteiligen. Im Schnitt kostet sie damit ein Zeugungsversuch im Labor 1.500 Euro. Nach dem dritten Versuch stellen die Kassen jede Beihilfe ein. Seit der Reform 2004 führen die Fortpflanzungsmediziner rund 40 Prozent weniger künstliche Befruchtungen durch als vor der Reform - dadurch "fehlen" 8.000 künftige Beitragszahler den Sozialkassen, die jährliche Neugeborenenzahl einer deutschen Großstadt.
Drei Jahrzehnte nach der ersten erfolgreichen künstlichen Befruchtung in England sind viele Befürchtungen nicht eingetreten. Kritiker prophezeiten, die technische Zeugung außerhalb des Mutterleibes werde Spuren an Körper und Seele der geborenen Kinder hinterlassen. Bislang jedoch müsse man feststellen, dass die "eklatanteste Auffälligkeit" von IVF-Kindern und IVF-Paaren in ihrer Unauffälligkeit bestehe - so fasst Detlev E. Gagel vom Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland seine Erfahrung zusammen. Auch die Befürchtung, die Kinder würden sich als bindungsschwache Außenseiter erweisen, erwies sich als falsch. Die "Europäische Gesellschaft für menschliche Reproduktion und Embryologie" lässt in einer Langzeitstudie 400 ehemalige Retortenbabies regelmäßig untersuchen. Das bisherige Fazit: Die "generell emotional gesunden Kinder" würden "unter der Obhut stabiler und liebender Eltern gedeihen".
Der Autor arbeitet als Redakteur bei der "Zeit". Von ihm stammt das Buch "Wie weit gehen wir für ein Kind? Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin".