FrÜhförderung
Englisch für Babys und Rhetorik in der Kita? Die Entwicklung der Neugier kommt da zu kurz, so Experten
"Now it's time for English", ruft die Lehrerin und tippt sich dann auf Nase, Mund und Schultern, um die englischen Begriffe dafür zu erklären. Ihre acht Schüler schauen mit großen Augen zu. Zum Mitmachen brauchen sie die Hilfe ihre Eltern, die hinter ihnen im Kreis sitzen: Filias, Solveig und die anderen Kinder sind zwischen zwölf und 18 Monate alt. Sie bekommen Englischunterricht im Berliner Helen-Doron-Sprachzentrum, das Kurse bereits für drei Monate alte Babys anbietet.
Wie Filias und Solveig lernen rund 23.000 Kindern in Deutschland auf diese Weise Englisch. Und die Schülerzahl wächst stetig.
Der private Bildungsmarkt boomt. Das Spektrum der Frühförderung reicht von Kursen, in denen Eltern lernen, sich via Zeichensprache mit ihren Babys zu verständigen, über Englisch- oder Französischunterricht bis hin zu Wellness-Angeboten wie Yoga. Auch die Zahl privater Kindergärten und Vorschulen mit entsprechenden Angeboten steigt: In der Berliner Vorschule "Fastrackids" stehen sogar Ökonomie und Rhetorik auf dem Stundenplan, der Potsdamer Privatkindergarten "Villa Ritz" setzt weniger auf freies Spiel als auf Unterricht: Spanisch und Chinesisch, dazu Klavierstunden und Reitunterricht.
Doch was versprechen sich Eltern davon, ihre Kinder bereits im Babyalter zu speziellen Förderkursen zu bringen? Für den Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann ist dies Ausdruck der Angst vieler Eltern in der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. "Sie glauben, wenn sie nicht alles dafür tun, dass ihr Kind eine gute Ausgangsposition im Leben hat, drohe der Absturz." Filias Mutter hofft, dass es ihr Sohn später in der Schule leichter hat. "Ich erwarte ja nicht, dass er bald fließend spricht", beteuert sie. Aber dass er kürzlich auf seinen blauen Ball zeigte und "blue" sagte, freut sie schon. Entscheidend sei der Langzeit-Effekt der Kurse, sagt Barbara Kirmis, die die Helen-Doron-Sprachschule leitet. Wichtig sei, dass die Kinder nicht nur kontinuierlich zum Kurs kämen, sondern auch täglich die dazugehörenden CDs zu Hause hörten. "Interne Studien zeigen, dass die Kinder so leichter eine Fremdsprache in der Schule lernen und eine bessere Aussprache haben."
Kontrollierte, wissenschaftliche Studien gibt es nicht, die dies überprüfen. Sprachforscher halten die Effekte solcher sprachlicher Frühförderung aber für vernachlässigbar. "Natürlich lernen Kinder leichter eine neue Sprache, wenn sie regelmäßig Kontakt mit ihr haben", sagt die Anglistik-Professorin Rosemarie Tracy, die in Mannheim Forschungsprojekte zur Mehrsprachigkeit leitet. Doch es gäbe keine Garantie für den langfristigen Erhalt. "Das kindliche Gehirn ist kein Schwamm, der beliebig alles aufsaugt", gibt sie zu Bedenken. Kinder seien wählerisch und griffen auf, was sie für relevant hielten. Ob Kurse einen großen Wortschatz oder Grammatik vermittelten, bezweifelt Tracy daher. Es fehle die Alltagsrelevanz. Die Begriffe, die Kinder dort lernten, seien nicht unbedingt eine Leistung: "Auch clevere Hunde können Wörter verstehen." Die Sprachwissenschaftlerin empfiehlt dagegen, viel mit Kindern zu sprechen. "Wenn sie das Interesse an Kommunikation bei ihnen wecken, dann haben sie viel erreicht", sagt Rosemarie Tracy. "Eltern versäumen nichts, wenn sie ihr Kind nicht in private Förderkurse bringen".
Als Lerntherapeut begegnet Wolfgang Bergmann privater Frühförderung sogar mit Skepsis: Mit ihrer Fixierung auf Leistung zerstörten die Eltern oft "Neugier und Mut" ihrer Kinder - und damit die wichtigsten Vorraussetzungen für das Lernen überhaupt, warnt er. Der Mensch brauche Freiheit, um sich zu entwickeln. Würden Kinder ihre Freizeit jedoch in Kursen mit vorgegebenen Zielen verbringen, hätten sie nicht die Chance, sich selbst und andere kennen zu lernen. Ein Kind, das gewohnt sei, Aufgaben gestellt zu bekommen, lerne nicht, sich selbst zu beschäftigen: "Ohne sie fühlt es sich leer".