Die PlÄne von Union und SPD
Der Kampf gegen Kinderarmut bestimmt die politische Agenda
Die Erkenntnis kam spät, aber doch: Immer mehr Kinder in Deutschland leben in Armut. Wie viele es sind, wurde von Statistikern in den vergangenen Jahren so oft erhoben, dass es nun mehrere Antworten darauf gibt. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und Unicef haben 2,4 Millionen Kinder in Armut gezählt, das Deutsche Kinderhilfswerk 2,5 Millionen. Kinderhilfswerk-Präsident Thomas Krüger schätzt, dass es inzwischen, zwei Jahre nach der Erhebung, sogar drei Millionen und mehr sein könnten. Wenig Mut macht vor allem die steigende Tendenz: Seit den 60er-Jahren hat sich die Zahl der Kinder, deren Familien mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens leben, alle zehn Jahre verdoppelt.
Nun widmen sich auch die großen Koalitionäre den Bedingungen, unter denen ein großer Teils der jungen Generation heranwächst. Rechtzeitig vor der Sommerpause präsentierten sie ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Kinderarmut - allerdings nicht gemeinsam, sondern getrennt. Die CDU legte ein Konzept namens "Chancen für Kinder verbessern, Familien stärken, Familien und Bildungspolitik als Zukunftsaufgabe" vor, die SPD konterte mit einem Zehn-Punkte-Plan unter dem Slogan "Gleiche Lebenschancen für jedes Kind, Kinderarmut bekämpfen." Dort wo die Programme sich unterscheiden, tun sie das an einer bekannten Trennlinie: Die SPD setzt - aber nicht ausschließlich - auf mehr staatliche Obhut, die CDU - aber nicht nur - auf die Stärkung der Familie.
Die Union will vor allem kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Familien nichtdeutscher Herkunft besser stellen. Kinderreichtum dürfe "nicht zur Armutsfalle werden", konstatiert Familienministerin von der Leyen und setzt sich für eine gestaffelte Erhöhung des Kindergelds ab dem dritten Kind ein. Derzeit gibt es für die ersten drei Kinder jeweils 154, ab dem vierten Kind 176 Euro im Monat. Profitieren könnten geschätzte 400.000 Kinder bundesweit. Zu wenig, moniert die SPD. Eine Kindergelderhöhung nur für Kinderreiche sei eine "öffentlichkeitswirksame Maßnahme, die wenig kostet und wenig bringt", konstatiert Caren Marks, familienpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag. Neun von zehn Familien, rechnet Marks vor, hätten ein bis zwei Kinder im Haushalt und damit nichts von der Ausweitung. In der überdurchschnittlich von Armut betroffenen Gruppe der allein erziehenden Mütter und Väter hätten sogar lediglich sechs Prozent drei und mehr Kinder.
Den Alleinerziehenden will die Koalition mit einem Ausbau der Betreuungsplätze die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. Wem der Plan bekannt vorkommt, der irrt nicht: Der Ausbau der Kinderbetreuung ist bereits vom Kabinett beschlossen. Bis 2013 sollen bundesweit 750.000 Kita-Plätze für unter Dreijährige geschaffen werden. Der Haken an der Sache: Mit der Regelung der Kinderbetreuung wagt sich die Bundesregierung weit in den Zuständigkeitsbereich von Ländern und Kommunen vor. Wie bereits beim Ganztagsschulprogramm wurde die Zustimmung der Länder mit einer Beteiligung an den Kosten gewonnen: Vier Milliarden Euro schießt der Bund bis 2013 für Bau- und Betriebskosten zu.
Weil der Fokus auf externe Kinderbetreuung unter Christdemokraten traditionell nicht unumstritten ist, enthält das Gesetz außerdem eine Forderung nach einem Betreuungsgeld für zu Hause erziehende Mütter. Dieses soll 2013 gezahlt werden - ab demselben Jahr, in dem auch ein Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz eingeführt werden soll.
Bildungsministerin Annette Schavan will Kinder nicht deutscher Herkunft künftig mit vier Jahren einen verbindlichen Sprachtest absolvieren lassen. Auch hier stößt der Bund an die Grenzen seiner Kompetenz. Laut dem jüngst vorgestellten Nationalen Bildungsbericht gibt es Sprachtests inzwischen in den meisten Ländern; allerdings mit erheblichen Unterschieden im Umfang des anschließenden Förderunterrichts. Den Ländern ihre Zuständigkeit streitig machen will die Bundes-CDU nicht. Benötigt würden aber "gemeinsame Zielvorgaben und eine Vergleichbarkeit der Deutschförderung", erklärt Ilse Aigner, bildungspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion. "Wer mit schlechtem Deutsch in die Schule kommt kann sein Potenzial nicht voll entfalten," sagt Aigner, "die Bedeutung der frühkindlichen Bildung ist immens".
Die SPD nimmt sich in ihrem Zehn-Punkte-Plan das deutsche Steuerrecht vor: Mit einer Reform des Familienlastenausgleichs will sie dafür sorgen, dass Kinder reicher Eltern nicht länger ein - faktisch - höheres Kindergeld bekommen. Dazu kommt es, wenn gut verdienende Eltern über die Kinderfreibeträge einen Steuervorteil von bis zu 230 Euro erzielen können. Begegnet werden könnte dieser von den Sozialdemokraten beklagten Ungerechtigkeit auf zwei Wegen: Entweder man hebt das Kindergeld für alle von 154 auf 230 Euro an. Das würde allerdings etwa 15 Milliarden Euro kosten und ist schon deswegen kaum realistisch. Oder, und das dürfte das für Herbst angekündigte Konzept aus dem Finanzministerium wohl fordern, man ändert die Steuergesetze so, dass Wohlhabende nicht mehr bevorteilt werden. Der familienpolitische Sprecher der CDU Johannes Singhammer hält dieses Vorhaben für einen "programmierten Verfassungsverstoß" - das Bundesverfassungsgericht verpflichtete den Gesetzgeber nämlich erst in den 90er-Jahren zur Einführung des Kinderfreibetrags. Caren Marks hält eine Neuregelung dennoch für aussichtsreich. Karlsruher Urteile berücksichtigten immer auch gesellschaftliche Entwicklungen; dass die Richter heute anders entschieden, sei nicht ausgeschlossen.
Die SPD setzt sich außerdem für ein kostenfreies Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule ein. Weil das zumindest in der frühkindlichen Bildung ein hehres Ziel ist, sind Zwischenschritte vorgesehen: Der Kindergartenbesuch soll nach und nach kostenlos werden - was der Tatsache Rechnung trägt, das auch SPD-regierte Länder über die Kostenübernahme für das letzte Kita-Jahr bisher nicht hinauskommen. Außerdem will die SPD in von ihr regierten Kommunen allen Kindern ein Mittagessen "zu sozialen Preisen" anbieten.
Welche der versprochenen Entlastungen Familien am Ende tatsächlich zu Gute kommen, wird die Große Koalition frühestens im Herbst entscheiden. Ein großer Wurf gilt als unwahrscheinlich - ihr letztes Amtsjahr ist schließlich auch großes Wahljahr. Verständigen könnten sich die Koalitionäre wohl über eine moderate Kindergelderhöhung; zehn Euro sind hinter vorgehaltener Hand bereits im Gespräch.
Auch eine Einigung über ein kostenloses Schulessen ist möglich: Denn das wollen auch die CDU-geführten Länder. Saarland und Nordrhein-Westfalen haben erst jüngst eine Bundesratsinitiative zur Übernahme des Schulessens durch den Bund auf den Weg gebracht. Hintergrund ist, dass insbesondere in Ganztagsschulen der Großstädte Kinder häufig nicht essen, weil ihre Eltern das nicht bezahlen können. Ein Schulessen kostet, je nach Bundesland, zwischen 1,30 und mehr als vier Euro. Ein Kind unter 14 Jahren, das von Hartz-IV lebt, hat aber nur 2,56 Euro täglich zum Essen zur Verfügung.
Ein Blick in die Schule lohnt nicht nur durch das Schlüsselloch der Kantine. Eine der erschütterndsten Erkenntnisse der vergangenen Jahre lautet: Armut ist erblich - und das Bildungssystem tut wenig, um das zu ändern: Mehr als jeder dritte Schüler, der keine Armut kennt, besucht das Gymnasium; acht von zehn der Armen maximal die Realschule. Der Nationale Bildungsbericht fasst zusammen: "Ein Leben unter der Armutsgefährdungsgrenze führt zu deutlich schlechteren Bildungschancen." Für Bildung wird dabei immer weniger Geld ausgegeben: Zwischen 1995 und 2006 sank ihr Ausgaben-Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 6,9 auf 6,2 Prozent. Auch auf dem Qualifizierungsgipfel von Bund und Ländern im Herbst sollte Kinderarmut ganz oben auf der noch nicht geschriebenen Agenda stehen.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.