G8-Abitur
Hohe Stundenbelastung und inhaltliche Defizite
Es ist ruhig geworden rund um das Turbo-abitur. Die Öffentlichkeit hat zur Kenntnis genommen, dass die Schüler latent überfordert sind, und dass es schwieriger geworden ist, nachmittags zur Klavierlehrerin oder zum Training zu gehen. Aber die TV-Aufregung von Beckmann bis Plasberg hat müde gemacht und zurück blieb die Erkenntnis, dass es letztlich kein generelles Zurück zum 13-jährigen Abitur geben wird. Selbst die bayerischen Eltern, die so vehement gegen die Überforderung ihrer Kinder gekämpft hatten, wollten in der Mehrheit an den zwölf Jahren festhalten. Jedenfalls gab es kein erfolgreiches Volksbegehren für die Langversion.
Inzwischen hat sich auch die Hoffnung vieler Eltern zerschlagen, dass sich die Kultusminister auf eine Reduzierung der Pflichtstunden einigen könnten. Deshalb bleibt den einzelnen Ländern nur ein sehr geringer Spielraum, wenn es darum geht, die rein zeitliche Belastung der Schüler zu senken. Den größten Schwung legt in dieser Hinsicht zurzeit Niedersachsen an den Tag, das seinen Schülern in jedem Jahr bis zum Abitur gern zwei Stunden pro Woche erlassen würde. Sie hätten dann nicht jeden Tag bis 15 oder 16 Uhr Unterricht.
Allerdings stößt das "Entrümpeln" auch an seine Grenzen. Schon jetzt kommen viele Inhalte zu kurz. Bestes Beispiel: Die großen Defizite beim Geschichtswissen der Heranwachsenden. Obwohl Deutschlands Schüler bis zum Ende der zehnten Klasse einen Überblick über die gesamte deutsche Geschichte bekommen sollten, schaffen es viele Lehrer nicht, über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinauszukommen. Von diesem Missstand her rührt unter anderem die Unkenntnis über die DDR-Geschichte.
Aber auch andere Bereiche kommen zu kurz: So bewegen sich die Schüler zu wenig, weil die zwei oder drei Stunden Sportunterricht nicht ausreichen, sie wissen oft zu wenig über wirtschaftliche Zusammenhänge und kennen die Standardwerke der deutschen und der Weltliteratur nicht. Vor diesem Hintergrund wehren viele Bildungspolitiker das Ansinnen, Stunden zu kürzen, kategorisch ab.
Es sieht also so aus, als müssten sich die deutschen Schüler mit dem Stundenquantum abfinden. Nicht abfinden müssen sie sich aber damit, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn an den Rahmenbedingungen lässt sich einiges verbessern. Dazu gehört etwa, dass ein Bundesland entscheiden kann, parallel auch einen 13-jährigen Bildungsgang zum Abitur anzubieten. Hamburg etwa hat das vor mit der geplanten Stadteilschule, die es neben dem Gymnasium geben soll. Auch Berlin bietet weiterhin parallel ein 13-jähriges Abitur an und zwar an Gesamt- und berufsbezogenen Schulen. Da man es in Berlin aber allen Schülern bis zur zehnten Klasse offen halten will, schon nach zwölf Jahren fertig zu werden, müssen alle die hohe Stundenbelastung ab Klasse 5 in Kauf nehmen. So ist das in fast allen Bundesländern.
Deshalb kommt man nicht an der Frage vorbei, wie man den Schülern die hohe Stundenbelastung in der Praxis erträglicher machen kann. Es gibt dafür mehrere Möglichkeiten, darunter kostspielige und kostenneutrale. Kostenneutral etwa ist es, Doppelstunden einzuführen. Das würde bedeuten, dass Kinder nicht mehr acht Einzelstunden hätten, also acht verschiedene Fächer und Hausaufgaben pro Tag, sondern nur vier Fächer.
Was einleuchtend klingt, ist aber umstritten: So halten es viele Fremdsprachenlehrer für effektiver, wenn ihre Schüler mehrmals pro Woche mit der Fremdsprache zu tun haben. Zudem gibt es Fächer, die ohnehin nur einstündig unterrichtet werden. Daher suchen viele Schulen jetzt Kompromisse: So gibt es Gymnasien, die erstmal nur die dritte und vierte Stunde im Doppelpack anbieten. Anschließend haben sie dann mehr Zeit für eine längere Mittagspause.
Da allerdings tut sich gleich ein weiteres großes Problem auf: Die meisten Schulen haben keine Kantinen, die groß genug wären, um für alle Mittagessen anzubieten. Überwiegend gibt es kleine Räume, in denen nur ein paar belegte Brötchen oder Kuchen angeboten werden. Die Länder tun sich aber aus finanziellen Gründen schwer damit, ihren Schulen geräumige Essensbereiche auszubauen.
Froh wären die weiterführenden Schulen, wenn es abermals ein Investitionsbauprogramm vom Bund gäbe wie vor Jahren, als die Bundesregierung über vier Milliarden Euro für Schulkantinen bereitstellte. Die meisten Länder gaben dieses Geld ausschließlich für die Grundschulen aus, obwohl schon damals bekannt war, dass das Turboabitur kommen würde.
Eine Neuauflage eines Schulbauprogramms vom Bund ist nicht in Sicht, weil es inzwischen die Föderalismusreform gegeben hat, die die Schulkompetenzen des Bundes noch weiter beschnitt. Wenn es nach dem Berliner Bundestagsabgeordneten Swen Schulz (SPD) ginge, "müsste man in das Grundgesetz schreiben, dass Bund und Länder in Fragen der Schulpolitik kooperieren können". Schulz fordert den Senat auf, in dieser Hinsicht "aktiv zu werden oder selbst Geld für die Schulkantinen zur Verfügung zu stellen". Die Bundestagsabgeordnete und Bildungspolitikerin Monika Grütters (CDU) bedauert zwar, "dass im Rahmen der Föderalismusreform eine große Chance verpasst wurde". Eine Korrektur nach so kurzer Zeit hält sie aber "nicht für realistisch".
Die Autorin ist beim Berliner "Tagesspiegel" für Schul- und Bildungsfragen zuständig.