Christian Pfeiffer
Der Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen über Jugendkriminalität. Die Gesetze reichen völlig aus, sagt er
Herr Professor Pfeiffer, wird Deutschlands Jugend immer gewalttätiger, immer krimineller? Wer täglich die Zeitung liest, muss diesen Eindruck bekommen.
Der Eindruck trügt. Die Gewalt an Schulen zum Beispiel ist rückläufig, die Zahl der Raubdelikte auch. Die Zahl der Tötungsdelikte bei Jugendlichen ist seit 1993 um 40 Prozent zurückgegangen. Das sind erfreuliche Entwicklungen. Gelöst ist das Problem der Jugendgewalt dadurch aber nicht.
Warum werden Jugendliche gewalttätig? Aus Langeweile?
Da kommt ein Bündel von Faktoren zusammen. Bei den Mehrfachtätern ist entscheidend, wie viele kriminelle Freunde sie haben. Wenn man in ein Netzwerk eingebunden ist, in dem Gewalt und Einschüchterung völlig normal sind, dann passt man sich den Gepflogenheiten an. Man will kein Softie sein, kein Weichei sein, kein Loser.
Wie geraten Jugendliche in solche Netzwerke hinein?
Innerfamiliäre Gewalt spielt eine große Rolle, vor allem, wenn der Vater brutal auftritt. Je mehr ein Junge sich zu Hause ducken muss, desto eher wächst die Bereitschaft, außerhalb der des Elternhauses nach unten zu treten. Ein weiterer Faktor ist die Machokultur, also die Akzeptanz von Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen.
Was ist das?
Wenn man klassischen Machosprüchen wie "Wenn mich einer beleidigt, muss ich zurückschlagen" uneingeschränkt zustimmt. Hier gibt es gravierende Unterschiede nach ethnischen Gruppen, nach sozialen Lagen, nach dem sozialen Netzwerk in dem man aufwächst. Von den Türken bei uns unterschreibt fast jeder vierte männliche Jugendliche, dass solche Machosprüche richtig sind. Von den Deutschen nur vier Prozent. Auch bei jungen Russen, Jugoslawen oder Albanern ist die Machoquote viel höher als bei den Deutschen.
Insofern haben Leute wie Hessens Ministerpräsident Koch ja Recht, wenn sie sagen, das Thema Jugendgewalt sei in erster Linie ein Migrantenproblem.
Relativ betrachtet dominieren ganz klar die jungen Migranten. Die Türken sind dreimal so häufig gewalttätig wie die Deutschen, die jungen Russen mindestens doppelt so oft. Wenn wir beim Vergleich aber bestimmte Faktoren konstant halten, wenn wir zum Beispiel Realschüler betrachten, die nicht von Armut betroffen sind, deren Eltern ein mittleres Bildungsniveau haben und die von ihrem Wertekonzept ähnlich eingestellt sind, dann zeigt sich auf einmal, dass Türken nicht gewalttätiger sind als Deutsche. Es sind also nicht die Türken das Problem, sondern die Lebensumstände.
Wie müsste man die Lebensumstände denn ändern?
Entscheidend ist die schulische Integration. Spannend ist hier der Vergleich zwischen München und Hannover. Die Intensivtäterrate der jungen Türken in Hannover ist in den letzten zehn Jahren von 15 Prozent auf 7,5 Prozent zurückgegangen. In München dagegen ist sie von sechs auf zwölf Prozent gestiegen.
Was macht Hannover denn besser als München?
Dort hat man begriffen, wie wichtig das soziale Umfeld der Jugendlichen ist. Das größte Problem ist heute die Hauptschule. In Hannover waren vor zehn Jahren noch knapp 50 Prozent der türkischen Jugendlichen in der Hauptschule, inzwischen sind es nur noch 32 Prozent. Der Anteil der Gymnasiasten stieg bei ihnen dagegen von 8 auf 15 Prozent. In München ist die Quote der Gymnasiasten dagegen von 18 Prozent auf 12 Prozent gesunken und immer noch besuchen 61 Prozent die Hauptschule. Der typische Hannoveraner Türke kommt in andere Netzwerke und Freundschaftscliquen rein, als der Münchner Türke.
Am besten wäre es demnach, die Hauptschulen abzuschaffen?
Ja. Wichtig ist, dass Kinder nach der Grundschule in einem schulischen Milieu aufwachsen, das nicht von sozialen Randgruppen dominiert wird und in dem die große Mehrheit an den schönen Satz glaubt: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Beides ist in den meisten Hauptschulen nicht mehr gegeben. Unter Gewaltgesichtspunkten herrscht dort höchste Ansteckungsgefahr.
Wie wirkt sich Armut auf die Gewaltbereitschaft aus?
Dadurch wächst der Anteil derjenigen, die in sozialen Randgruppen aufwachsen und massive Bildungsnachteile haben. Zum Beispiel verlassen mehr als 20 Prozent der männlichen Ausländer die Schule ohne jeden Abschluss. Da züchten wir ein Potenzial von Außenseitern heran, die ein hohes Kriminalitätsrisiko beinhalten.
Wenn Jugendliche erst einmal zu Straftätern geworden sind, gehen wir dann richtig mit ihnen um?
Nein. Es vergeht viel zu viel Zeit zwischen der polizeilichen Vernehmung und dem Gerichtstag. Wenn da ein halbes Jahr ins Land zieht, sind die Schuldgefühle des Täters meist längst verflogen. Wenn die Strafe viele Monate nach der Tat erfolgt, ist das pädagogischer Unsinn.
Müsste es auch härtere Gesetze geben?
Das Jugendstrafrecht reicht sogar im Umgang mit besonders brutalen Straftätern völlig aus. Es erlaubt Richtern, Jugendliche die volle Gesetzeshärte spüren zu lassen.
Das Interview führte Markus Feldenkirchen.
Er ist politischer Journalist in Berlin.