Pflegschaft
Wenn Kindern in der eigenen Familie Gefahr droht, springen Pflegeeltern ein. Oft für immer
Familie ist, wo Kinder sind." Dieses Statement schrieb sich Rot-Grün in die Koalitionsvereinbarungen von 1998 und 2002 und sorgte so in Zeiten, in denen Patchworkfamilien keine Seltenheit mehr und gleichgeschlechtliche Partnerschaften kein Tabu mehr sind, für ein erweitertes Familienbild. Doch nicht immer ist die Definition so einfach: Für etwa 65.000 Kinder in Deutschland ist die eigene Familie kein sicherer Ort. Weil ihre Eltern sich nicht angemessen um sie kümmern können, kommen jährlich etwa 10.000 Kinder in Pflegefamilien und treffen dort auf Pflegemütter und -väter, die ihnen ein besseres Zuhause als das bisherige bieten wollen.
Einer dieser Pflegeväter ist Jürgen Zylla. Vor zehn Jahren nahmen der Dresdner Sozialpädagoge und seine Frau, eine Krankenschwester, zwei Pflegekinder bei sich auf: Marcus, damals 8, und Daniel, 5 Jahre alt. "Für uns passte das zu diesem Zeitpunkt einfach in die Familienkonstellation hinein. Meine Frau hatte zwei Kinder mit in die Beziehung gebracht, von denen eins bei uns lebte und das andere zum leiblichen Vater gezogen war. Wir haben dann überlegt, dass wir Kapazitäten für weitere Kinder hätten und dass es für unsere 11-jährige Tochter sicher gut wäre, mit weiteren Kinderen zusammen zu leben. In ihrer Position als Einzelkind in unserem Haushalt hat sie ja schon unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie war von der Idee begeistert. Und dann haben wir das eben gemacht - wahrscheinlich sehr naiv und unendlich optimistisch."
Für die Organisation der Pflegschaften sind das Jugendamt oder ihm unterstellte freie Träger zuständig. Das Jugendamt hat eine so genannten "Garantenstellung" inne - es ist verpflichtet, regelmäßig zu prüfen, ob die Kinder in den Pflegefamilien gut aufgehoben sind. Der Wechsel der Kinder aus der Herkunfts- in die Pflegefamilie erfolgt manchmal mit dem Einverständnis der Eltern, oft aber auf Verfügung eines Familiengerichts. Nach dem Gesetz nämlich endet das "Erziehungsprimat" dort, "wo das Kindeswohl gefährdet" ist - wenn alle anderen "familienunterstützenden Maßnahmen", die den überforderten Eltern angeboten werden, nicht verhindern können, dass die Kinder in Gefahr geraten, regelt das Sozialgesetzbuch VIII ihre Unterbringung außerhalb der Familie.
Marcus und Daniel waren zwei von insgesamt vier Geschwis-tern, die das Jugendamt der Obhut ihrer Mutter entzogen hatte, weil sie nicht für sie sorgen konnte. "Im Grunde waren sie während ihrer Kleinkindheit entweder aus- oder eingesperrt", erzählt Jürgen Zylla. "Dabei haben sich natürlich Verhaltensweisen entwickelt, die nicht so schnell wieder verschwanden. Wenn ein Kind aus Pfützen trinken musste, um seinen Durst zu stillen, gewöhnen Sie ihm das nicht so ohne weiteres wieder ab. Nur weil das Umfeld sich verändert, verschwinden die Probleme nicht automatisch."
Marcus, der immer für seinen Bruder sorgen musste, habe auch nach dem Einzug bei den Zyllas nicht aufhören können, Essen zu beschaffen. "Da müssen Sie schon das ein oder andere Gespräch mit den Nachbarn führen, warum das Kind, das ja regelmäßig Mahlzeiten bekommt, in der Umgebung um Essen bittet." Dabei hätten die Pflegeeltern viel Unterstützung von ihrer eigenen Tochter bekommen. "Wally bekam oft auf einer ganz anderen, kindlichen Ebene Zugang zu den Jungs", erinnert sich der Pflegevater.
Schon in der Kennenlernphase war der Funke zu den beiden Brüdern übergesprungen, und "in den ersten Wochen lief alles so prima, dass wir uns gefragt haben, warum wir dafür Geld bekommen". Die Zahlungen des Jugendamts, das für die weiterhin unterhaltspflichtigen leiblichen Eltern in Vorleistung geht, sollen die Unterhaltskosten und die "Kosten der Erziehung" der Pflegeeltern abdecken. Die konkrete Höhe des Pflegegelds ist in den Bundesländern unterschiedlich. Für Kinder zwischen ein und sechs Jahren werden etwa 650 Euro gezahlt, bei älteren Kindern erhöht sich der Satz.
Auf den ersten Blick viel Geld, doch Zylla warnt davor, finanzielle Aspekte zum Grund einer Pflegschaft zu machen. "Natürlich spielen auch diese Überlegungen eine Rolle, das ist ganz normal. Aber das Geld macht die Belastungen, die nach so einer Entscheidung auf eine Familie zukommen können, nicht wett."
Der Pflegevater weiß, wovon er spricht. So idyllisch, wie das Familienleben der Zyllas nach dem Einzug der Brüder startete, sollte es nicht bleiben. Marcus begann, Schwierigkeiten zu machen. "Er kam nach der Schule nicht mehr nach Hause, entsorgte seine Schulsachen. Und wenn ein 12-Jähriger Suizidgedanken äußert und dann den ganzen Tag verschwunden ist, werden die Sorgen riesengroß."
Therapie und Behandlungen brachten nichts - außer Frust: "Wir hatten ganz schnell das Gefühl, dass uns all die Fachmenschen, die Marcus helfen sollten, die Schuld an seinen Schwierigkeiten gaben - obwohl wir ja ,nur' die Pflegeeltern waren." Nach vier Jahren endete Marcus' Aufenthalt in der Familie; er wechselte in eine betreute Wohngruppe. "Das ist das Schlimmste, was man als Pflegeeltern erleben kann." Doch auch wenn das Zusammeleben nicht funktioniert hat: Zyllas Bindung an den heute 17-Jährigen, der gerade seinen Schulabschluss macht, blieb bestehen. "Natürlich haben wir auch heute regelmäßigen Kontakt. Wir sind seine Familie."
Eine andere Bindung oder gar Familie haben Marcus und Daniel nicht. Obwohl im so genannten Hilfeplan, der bei jeder Pflegschaft gemeinsam von Jugendamt, Pflegeeltern und leiblichen Eltern erstellt wird, Kontakt zur leiblichen Mutter vereinbart war, riss die Verbindung zu ihr ab. "Sie hat Termine nicht eingehalten, ist zwischenzeitlich unbekannt verzogen. Wir haben uns immer bemüht, der Frau unvoreingenommen und offen zu begegnen." Einmal habe es ein Treffen mit der leiblichen Mutter und allen Pflegeeltern ihrer vier Kinder gegeben. "Das war furchtbar. Eine der Pflegemütter hat es einfach nicht ausgehalten, mit der Frau an einem Tisch zu sitzen."
Für Daniel, der nach dem Auszug seines Bruders bei den Zyllas blieb, ist seine ursprüngliche Herkunft momentan kein Thema. "Er weiß um seine Vergangenheit und reflektiert das auch, aber er nimmt es hin. Es ist so, wie es ist." Dass er irgendwann wieder in sein altes Zuhause zurückkehren könnte, habe nie zur Debatte gestanden. Inzwischen haben Zylla und seine Frau auch Daniels Vormundtschaft, ihr Pflegesohn trägt seither den gemeinsamen Familiennamen. "Das hat er sich so gewünscht."
Fragt man Jürgen Zylla, was er sich für seine eigene Familie und andere Pflegeeltern wünscht, kommt die Antwort prompt: "Mehr Unterstützung. Meine Frau und ich waren aufgrund unserer Berufe in der Lage, mit vielen Problemen gut umzugehen. Es hat aber nicht jede Pflegefamilie eine pädagogische oder psychologische Ausbildung und ein Vorbereitungskurs reicht nicht, um sie auf die Herausforderungen vorzubereiten, die das Leben mit oft traumatisierten Pflegekindern bereithält." Regelmäßige Kurse, Supervisionen und Unterstützung bei der Kinderbetreuung seien Dinge, die dabei helfen könnten. "Leibliche Kinder können Sie, wenn Sie als Eltern mal eine Auszeit brauchen, zu den Großeltern oder Freunden geben. Bei Pflegekindern ist das anders, da gibt es diese gewachsenen Bindungen ja nicht."
Ob er sich auf das Wagnis noch einmal einlassen würde? Jürgen Zylla wird bei dieser Frage nachdenklich. "Für uns war es damals die richtige Entscheidung. Sicher waren wir in vielen Punkten furchtbar naiv, wir sind einfach davon ausgegangen, dass wir das schon hinbekommen werden. Ich weiß nicht, wie wir entschieden hätten, wenn wir vorher genau gewusst hätten, was auf uns zukommt. Trotzdem: Wir haben es nie bereut."
Man müsse sich vor so einer Entscheidung die eigene Motivation bewusst machen: "Ein Pflegekind ist kein Ersatz für ein eigenes oder ein Adoptivkind. Wer sich selbst in einem Kind sehen will, sollte diesen Schritt nicht gehen." Eines sollte immer klar sein: "Wer ein Pflegekind zu sich nimmt, trifft keine Entscheidung auf Zeit. Das ist etwas fürs ganze Leben."