FamilienRituale
Über die Kunst, die richtige Kombination von Freiheit und Verbindlichkeit zu finden
Seit ich selbst eine Familie habe, liebe ich Sonntage. Mein Konzept eines perfekten Sonntags sieht etwa so aus: ein langes Frühstück, dann gemeinsamer Gottesdienstbesuch, gefolgt vom gemeinsamen ziellosen Herumhängen bis zum späten Mittagessen und anschließend einer abermals nicht verplanten Nachmittagszeit. Es kann zusammen gespielt werden, man kann sich aber auch je nach Laune zum Lesen oder einsamen Herumbasteln zurückziehen. Abends wird dann gemeinsam ein Film angesehen. Vor dem Schlafengehen bekommen die Kinder - drei Töchter zwischen zehn und sieben Jahren - etwas vorgelesen, oder man spricht noch über dies und das Wichtige, was im Wochenalltag untergegangen ist.
Sonntage dürfen für meinen Geschmack nicht allzu aufregend sein, damit ich sie genießen kann. Ich hasse es, wenn wir am Sonntag zuviel vorhaben. Familien- oder Freundesbesuche sind in Ordnung, aber bitte nicht unbedingt an jedem Sonntag. Wenige verlässliche Rituale - das ist mein Ideal - sollen eine ansonsten möglichst freie Zeit strukturieren.
Ich hätte das früher womöglich als spießig empfunden. Heute aber brauche ich den Sonntag schlichtweg, und es ist mir ziemlich egal, ob irgendjemand dieses Bedürfnis biedermeierlich findet. Muss ich aus beruflichen Gründen mehrere Wochen ohne die sonntägliche Mischung aus wiederkehrendem Ritual und unstrukturierter Zeit auskommen, werde ich erst unzufrieden, dann unleidlich - und schließlich krank.
Was ich als Heranwachsender als Inbegriff der Öde und Unfreiheit empfunden habe - die Wiederkehr des Immergleichen am Wochenende - erscheint mir heute umgekehrt als ein Element meiner Freiheit. Meine Kinder wollen zwar manchmal mehr Action - Bowling, Kartfahren, Spaßbad - , und oft haben sie auch keine Lust, mit in den Gottesdienst zu kommen. Aber wenn alle unsere eingefahrenen Rituale ausfallen, kommen auch sie aus dem Gleichgewicht. Später, als Jugendliche, werden sie sich wohl daraus befreien wollen, um ihre eigenen Rhythmen zu finden. Aber einstweilen ist das Familienritual am Wochenende eine Kraftquelle für uns alle.
Vielleicht ist das aber nicht nur mein privater Wertewandel. Mir scheint, es gibt einen gesellschaftlichen Gezeitenwechsel im Blick auf klassische Familienrituale. Die Zeiten, da man in einer kulturrevolutionären Diktion die Strukturen und Gewohnheiten des Familienlebens attackiert hat, sind gründlich vorbei. Die meisten von uns haben heute schließlich nicht mehr das Problem, aus den überlebten Formen auszubrechen, als deren Sinnbild einst der Sonntag zwischen Kirchgang und Kaffee bei Tante Martha galt. Im Gegenteil: Es gibt eine neue Sehnsucht nach Form und Verlässlichkeit. Es stellt sich vielen Eltern, die in den 70er-Jahren groß geworden sind, die bange Frage, ob man überhaupt die Kraft hat, alte Rituale neu zu beleben oder gar selber neue zu erfinden, die an deren Stelle treten könnten.
Es geht dabei eben nicht einfach um eine reaktionäre Rückkehr zum Bewährten. Vielmehr ist so etwas wie die Instandbesetzung bürgerlicher Formen im Gange, ganz ähnlich wie es mit den heruntergekommenen bürgerlichen Altbauwohnungen geschehen ist, die auch eine Zeitlang niemand mehr haben wollte, bis man ihren Charme und ihre Großzügigkeit wiederentdeckte. Rituale und Formen, die heute in einer Familie funktionieren sollen, müssen sich mit dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung vertragen. Natürlich liegt da eine innere Spannung vor - denn an Ritualen und Formen kann dem Wesen nach nicht alles frei sein, weil sie sonst ja eben nicht verbindlich wären. Doch es ist heute gerade unsere weitgehende Freiheit, das Familienleben nach Gusto zu gestalten, die eine neue Sehnsucht nach Verlässlichkeit inspiriert.
Noch etwas kommt hinzu: Rituale stehen unter dem Druck einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Erosion des arbeitsfreien Sonntags durch immer flexiblere Ladenöffnungszeiten ist nur das geläufigste Symbol dieser Entwicklung. Sie zeigt sich auch darin, dass oft für die gemeinsame Mahlzeit kaum Platz bleibt in den gefüllten Terminkalendern heutiger Familien mit Doppelverdienern als Eltern.
Eine Umfrage der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) förderte in diesem Frühjahr interessante Daten darüber zutage. Die Zeit für gemeinsames Essen ist unter der Woche in vielen Familien knapp: Nur jeder Dritte frühstückt mit seinen Kindern, und lediglich 25 Prozent essen zusammen Mittag. Abends sind es immerhin noch 73 Prozent. Am Wochenende sind es 81 Prozent der Mütter und Väter, die mit ihrem Nachwuchs zusammen Abendbrot essen. Somit ist das Abendessen die wichtigste Familienmahlzeit der Deutschen.
Die Umfrage zeigt auch: Je geringer die Anzahl der Familien-Mahlzeiten, desto beliebter wird die gemeinsame Zubereitung. Familien kompensieren die Schwierigkeit, täglich Gemeinsamkeit bei Tisch herzustellen, indem sie einzelne Mahlzeiten besonders zelebrieren. Mehr als die Hälfte der Befragten schwingt mindestens einmal pro Woche zusammen mit den Kindern den Kochlöffel, 32 Prozent kochen ein- bis zweimal mit der Familie, jeder Fünfte sogar noch öfter. Am häufigsten stehen junge Familien gemeinsam am Herd. Von den 20- bis 29-Jährigen kochen 43 Prozent mehrmals wöchentlich mit ihren Sprösslingen.
Letzteres spricht dafür, dass die Jüngeren, bei denen häufig beide Elternteile berufstätig sind, ritualisierte Gemeinsamkeit wiederentdecken. Mit allen zusammen kochen macht erstens Spaß, und es ist zweitens auch eine zwanglose Form der Erziehung zu gesundem Essen.
Bei uns zuhause wünschen die Kinder sich, wenn man sie fragt, immer das Gleiche als Sonntagsessen - wohl nicht nur, weil ihnen mein knuspriges Brathuhn besonders gut schmeckt. Es steckt mehr darin als eine Geschmacksfrage: Für die Kinder ist die Wiedererkennbarkeit dieser zentralen Familienmahlzeit wichtiger als die Abwechslung der Speisen.
Ich finde es wichtig, dass bei unseren Sonntagmahlzeiten bestimmte Formen gewahrt werden, ohne das es freudlos und zeremoniell zugeht. Den Tisch ordentlich decken; das Essen zuerst an andere verteilen; abwarten bis alle etwas auf dem Teller haben, bevor man loslegt; Messer und Gabel einsetzen; den Teller selber abräumen.
Für Gastkinder ist es immer wieder interessant zu sehen, wie so etwas bei uns abläuft, und für meine Kinder vice versa. Eine Mahlzeit verrät nämlich viel darüber wie (und ob) eine Familie funktioniert. Ist ein freies, fröhliches Gespräch möglich? Schaut die Mutter nur stumm auf dem Tisch herum? Oder ergeht man sich in wechselseitiger Nörgelei, in der versteckte Aggressionen herausgelassen werden? ("Ich mag nicht mehr!" - "Iss wenigstens das Fleisch!") Darum ist das Thanksgiving-, Weihnachts- oder Sylvesteressen auch ganz zu Recht so ein beliebtes filmisches Erzählklischee.
Die erwähnte Umfrage besagt auch, dass das Achten auf Tischregeln im Trend liegt: Drei Viertel der Eltern möchten nicht, dass mit dem Essen gespielt wird. Fast genauso viele legen Wert darauf, dass das Essen gemeinsam begonnen und beendet wird. Weniger aktuell ist der Brauch, vor dem Essen einen Tischspruch oder ein Gebet zu sprechen. Nur noch jeder Fünfte praktiziert diese Regel. Aufessen, was auf dem Teller ist, müssen die Kinder nur noch in 16 Prozent der Familien. Diese geringe Zahl - wenn ich an meine eigene Kindheit denke, in der Aufessen noch ein Dogma war, mit dem die Kriegsgeneration ihre Nachkommen gerne quälte - ist ein Indiz dafür, dass es heute nicht um Rituale und Regeln per se geht, sondern um das Kunststück, die richtige Kombination von Freiheit und Verbindlichkeit zu finden. Kinder sollen lernen, den Wert des Essens zu schätzen - und darum nicht damit herumspielen. Wer sie aber zum Aufessen zwingt, macht aus dem Essen ein freudloses Zwangsritual, gegen das sie dann rebellieren müssen. (Manche tun dies dann ja auch - schlimmstenfalls sogar mit Essstörungen.)
Aber am Ende sind alle Formen und Regeln immer auch ein Angebot zur Auseinandersetzung. Dies ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt von Familienritualen: Man braucht sie einfach als Stoff für die Individuation. Wir bieten unseren Kindern etwas an, gegen das sie später mal rebellieren können. Vielleicht - das ist ein irgendwie tröstlicher Gedanke - werden sie sich aber auch gerne an manches erinnern, um es für sich selbst und ihre Kinder abzuwandeln und ihrerseits weiterzugeben.
Der Autor ist Redakteur der "Zeit". 2007 erhielt er einen Anerkennungspreis im Rahmen des Medienpreises der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns für seinen Essay "Wie unsere Kinder uns erziehen".