Energie
Der Streit um die Laufzeit von Reaktoren ist neu entbrannt
Für Angela Merkel war es eine heikle Mission: Als die Bundeskanzlerin auf dem G8-Gipfel in Japan über den Klimaschutz verhandelte, musste sie eine Position vertreten, die wohl ihrer tiefsten Überzeugung widerspricht. "Ich glaube nicht, dass sich der Klimaschutz an der Frage der Kernenergie alleine entscheidet", sagte Merkel im japanischen Toyako und verteidigte den deutschen Atomausstieg. Dabei ist die CDU-Vorsitzende und gelernte Physikerin überzeugt, dass Deutschland auch in Zukunft auf Kernenergie setzen sollte. Nur: Ihr Regierungspartner SPD ist dagegen und im Koalitionsvertrag ist geregelt, dass in dieser Legislaturperiode nicht am Atomausstieg gerüttelt werden darf. Und so bat die Kanzlerin auch im Kreise der Staats- und Regierungschefs der acht führenden Industrienationen um Zurückhaltung. Mit Erfolg: Im Schlussdokument tauchte das Thema Kernenergie nur am Rande auf.
Zu Hause in Deutschland hat die Debatte um die Kernenergie dagegen neuen Schwung aufgenommen. Seit die Energiepreise immer höher steigen und das Voranschreiten des Klimawandels immer offensichtlicher ist, werden die Stimmen, die den Ausstieg in Frage stellen, wieder lauter.
Union, FDP und Teile der Wirtschaft halten den Ausstieg aus der Kernenergie für überhastet und wollen der den Energieversorgern längere Laufzeiten anbieten. Einzelne in der Union denken auch über den Neubau von Meilern nach. Die SPD, die Grünen, die Linken und Umweltverbände dagegen stehen zum Ausstiegsbeschluss.
Der Fraktionschef von CDU und CSU im Bundestag, Volker Kauder, will den Beschluss schnellstmöglich rückgängig machen. "Wir wollen den Ausstieg vom Ausstieg", betont er. Er verweist darauf, dass Atomkraftwerke zu niedrigeren Strompreisen und zu einer Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen beitragen würden. Der CDU-Umweltpolitiker Phillip Missfelder sieht langfristig sogar die Notwendigkeit für Neubauten. Nur so könne Strom verlässlich und kostengünstig bereitgestellt werden. Unterstützung bekam die Union von FDP-Fraktionschef Guido Westerwelle. Er kritisierte, der Verbraucher werde jedes weitere Abschalten eines Kernkraftwerks auf der Stromrechnung als Aufschlag finden.
Die steigenden Energiepreise und der Klimawandel stellen die Welt vor eine gewaltige Herausforderung: Ein Barrel (knapp 160 Liter) Rohöl kostet doppelt so viel wie vor zwei Jahren. Auch die Preise für Gas und Strom steigen. In Deutschland zahlen die Verbraucher heute im Schnitt 50 Prozent mehr für Elektrizität als noch im Jahr 2000.
Vor diesem Hintergrund setzen einige Länder verstärkt auf die Kernenergie. Denn Atomstrom aus bestehenden Kernkraftwerken gilt als vergleichsweise günstig. Außerdem produzieren Kernkraftwerke weniger klimaschädigende Treibhausgase als Anlagen, die mit fossilen Energieträgern betrieben werden. Weltweit sind auch aus diesen Gründen rund 30 neue Atomreaktoren im Bau. Davon zwei in Europa: einer in Frankreich und einer in Finnland. In Deutschland dagegen ging nach dem Gesetz zum Atomausstieg im November 2003 das Kernkraftwerk Stade als erster deutscher Meiler vorzeitig vom Netz. Im Mai 2005 folgte das Kernkraftwerk Obrigheim. Die verbliebenen 17 deutschen Anlagen sollen in den nächsten fünfzehn Jahren schrittweise abgeschaltet werden.
SPD-Fraktionschef Peter Struck verteidigt diese Pläne. Angesichts der ungelösten Frage der Entsorgung von Atommüll und der immer wieder auftretenden Störfälle sei der Ausstieg aus der Kernkraft nötig. "Die Menschen wissen um ihre Verantwortung für ihre Kinder und Enkelkinder."
Bündnis 90/Die Grünen und die Linken sind derselben Ansicht. Für die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast ist die Atomkraft eine Hochrisikotechnologie: "Sie vergrößert auch die Abhängigkeit vom Ausland weil Uran importiert werden muss." Außerdem sei sie teurer als immer behauptet, weil sie sich nur bei exorbitanten Subventionen rechne. Der Energieexperte der Linken, Hans-Kurt Hill, nennt den Atomausstieg unverzichtbar: "Teurer Strom macht marode Atommeiler nicht sicherer. Einziger Garant für sinkende Strompreise ist der zügige Ausbau der erneuerbaren Energien."
Zusätzliche Brisanz hat die Debatte durch Äußerungen des SPD-Vordenkers und Umweltpolitikers Erhard Eppler bekommen. Der hatte angeregt, die Laufzeiten für einige modernere Meiler zu verlängern, wie es die Union will. Im Gegenzug will Eppler im Grundgesetz ein Neubauverbot für Kernkraftwerke verankern. Für Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ist dies ein "interessanter Vorschlag". Aus Sicherheitsgründen spreche vieles dafür, ältere und störanfälligere Anlagen früher abzuschalten und im Gegenzug neue Anlagen länger laufen zu lassen. Doch die Union ging auf diesen Vorschlag zunächst nicht ein.
Dabei sind längere Laufzeiten für Kernkraftwerke neuerer Bauart, wie sie die SPD vorgeschlagen hat, nach dem bestehenden Atomgesetz möglich. Darin ist die Möglichkeit vorgesehen, aus Sicherheitsgründen Laufzeiten von älteren Anlagen auf neuere Anlagen zu übertragen. Bislang haben die Energieversorger davon allerdings kein Gebrauch gemacht. Vielmehr wollen sie vor den Gerichten das Gegenteil erzwingen: Die Energiekonzerne wollen jene Alt-Anlagen, die in den nächsten Jahren zur Abschaltung anstehen, weiter betreiben und im Gegenzug Neu-Anlagen früher abschalten. Damit wollen sie verhindern, dass weitere Anlagen ganz vom Netz gehen.
Die Wirtschaft spekuliert darauf, dass eine neue Bundesregierung nach 2009 den Atomausstieg ganz rückgängig machen könnte. Wenn es rational zugehe, werde jede politische Konstellation zu einer Neubewertung der Kernkraft kommen, sagte der Präsident des Deutschen Atomforums, Walter Hohlefelder.
Selbst den Neubau von Anlagen wollte der Cheflobbyist der Atomwirtschaft dann nicht ausschließen. Zwar gebe es derzeit keinen Bedarf an neuen Kernkraftwerken, ab dem Jahr 2020 könne sich dies aber ändern. Zugleich dämpfte die Wirtschaft aber die Erwartungen, Gewinne aus einer möglichen längeren Laufzeit der Atommeiler könnten zur Senkung der Strompreise dienen. Der Vorstandschef der Energie Baden-Württemberg (EnBW), Hans-Peter Villis, betont, ein solches Denken habe mit Marktwirtschaft nichts zu tun.