2.500 Jahre Demokratie
Mit den Reformen des Solon und des Kleisthenes in den Jahren 594 und 508 vor Christus etablierte sich die erste Volksherrschaft der Welt. Bis heute streiten die Gelehrten, ob sie ein Vorbild ist
Oskar Lafontaine hätte sich damals vielleicht ganz wohl gefühlt auf der Agora, dem zentralen Marktplatz, als die freien männlichen Bürger Athens zur Volksversammlung zusammenströmten, um über das Schicksal ihrer Polis, ihres Stadtstaates, zu beraten. Zumindest dann, wenn man der Einschätzung von Gesine Schwan folgen möchte, dass der Vorsitzende der Linkspartei ein Demagoge ist. Und im Athen der klassischen Zeit schlug ganz ohne Zweifel die Stunde der Demagogen: der Volksführer im positiven Sinne, der Volksverführer im negativen Sinne.
Ob sich jedoch ein demokratischer Parlamentarier der Neuzeit in der "Wiege der Demokratie" - wie das antike Athen in Sontagsreden gerne bezeichnet wird - überhaupt zurechtfinden würde, darf bezweifelt werden. Schließlich wurde in Athen zwischen dem sechsten und vierten Jahrhundert vor Christus eine heute kaum mehr vorstellbare Form von direkter Demokratie praktiziert. "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" - der Artikel 20 des Grundgesetzes hätte in Athen umformuliert werden müssen: "Alle Staatsgewalt wird vom Volk ausgeübt." Dies konnte mitunter recht radikal ausfallen - wenn beispielsweise die Volksversammlung einen der führenden politischen Köpfe kurzerhand per Mehrheitsbeschluss in die Verbannung schickte. Ein solcher Ostrakismos, als Scherbengericht in die Geschichtsbücher eingegangen, konnte selbst die Helden des Stadtstaates treffen - etwa wie Themistokles, den Sieger der Seeschlacht von Salamis über die Perser.
Die athenische Demokratie ist seit jeher höchst unterschiedlich bewertet worden: mal im wahrsten Sinne des Wortes als "Herrschaft des Volkes" gelobt, mal als "Pöbelherrschaft" geschmäht. In der Neuzeit wird ihr auch gerne unterstellt, sie sei gar keine Demokratie gewesen. Die antiken Athener hätten sich an dem Vorwurf vielleicht gar nicht gestört. Sie sprachen eh' viel lieber von "isonomia" als von "demokratia" und meinten damit die Gleichheit vor dem Gesetz beziehungsweise die Gleichheit in der politischen Teilhabe.
Der Berliner Althistoriker Wilfried Nippel hat die Auseinandersetzung mit der athenischen Demokratie unter dem Titel "Antike oder Freiheit?" höchst informativ nachgezeichnet - von ihren Ursprüngen bis in die heutige Zeit. Sein Urteil fällt deutlich aus: "Wohl keine andere Ordnung in der Weltgeschichte wird mit so evident anachronistischen Maßstäben bewertet wie die athenische Demokratie. Was im Falle von Athen entweder zu Vorwürfen oder zur Werbung um Verständnis führt, wird im Hinblick auf andere Gesellschaften gelassen als historisches Faktum konstatiert."
Die moderne Kritik an den antiken Verhältnissen ist naheliegend: die fehlenden politischen Beteiligungsrechte für Frauen, für in Athen sesshafte Ausländer (Metöken) und für Sklaven sowie die fehlenden Grund- und Menschenrechte. Für den Althistoriker Nippel sind solche neuzeitlichen Bewertungskriterien ein gefundenes Fressen. Überzeugend weist er nach, wie schnell sie als Bumerang zurückkommen können. So müsste wegen des fehlenden Frauenwahlrechts Frankreich bis 1946 und der Schweiz bis 1971 das Label Demokratie aberkannt werden - gerade jenen Ländern, denen im Hinblick auf die moderne Demokratie eine "Schlüssel- und Vorreiterrolle" zukomme. "Die Geschichte der Demokratie hätte dann mit den Staaten zu beginnen, die auf gesamtstaatlicher Ebene als Erste das Frauenwahlrecht eingeführt haben: Neuseeland (1893), Finnland (1906), Australien (1908) und Norwegen (1913)."
Ähnliches gilt nach Nippel auch für den rechtlichen Status der Metöken in Athen. Auch ihren modernen Nachfahren, den Gastarbeitern, bleibe der Weg zur Wahlurne oder in politische Ämter weitgehend versperrt. Denn "in allen modernen Verfassungsstaaten gibt es eine Differenz zwischen Staatsvolk und Einwohnerschaft, sind politische Rechte an den Bürgerstatus gekoppelt, der nach Maßgabe eigener Gesetze vergeben und nicht einfach durch die bloße Tatsache der Zuwanderung erworben wird", schreibt Nippel.
Selbst das Argument der fehlenden Grundrechte ist in der Lesart des Althistorikers mit Vorsicht zu genießen. Nippel führt als Gegenargument die britische Verfassungstradition an, "die keine theoretische Schranke für die Parlamentssouveränität kennt, aber darauf vertraut, dass sie nicht missbraucht wird". Wie tief diese in der Tat verankert ist, lässt sich am strikten britischen "No" zur Europäischen Grundrechtecharta ablesen.
Selbst in den revolutionären Zeiten Ende des 18. Jahrhunderts tat man sich sichtbar schwer mit den antiken Vorfahren. "Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wäre doch immer noch jede Volksversammlung der Athener eine des Pöbels gewesen", schrieb James Madison, einer der amerikanischen Gründerväter. Und für seinen Kollegen Alexander Hamilton waren die antiken Demokratien in "ihrem Charakter nach Tyranneien". Selbst der radikale Robespierre schrieb den Franzosen ins Stammbuch, dass die Demokratie kein Staat sein, "in dem sich das Volk ständig versammelt und alle öffentlichen Angelegenheiten selbst regelt".
Einer der gängigsten Einwände, die heute gegen eine Direktdemokratie erhoben werden, ist ihre mangelnde praktische Umsetzbarkeit in Flächenstaaten. Daran hat sich auch im digitalen Zeitalter nichts geändert - auch wenn der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore meinte, das Internet ermögliche "ein neues athenisches Zeitalter der Demokratie".
Der Schriftsteller Joachim Fernau beschrieb das Verhältnis der Neuzeit zur athenischen Demokratie in seiner Geschichte der Griechen, "Rosen für Apoll", treffsicher und sarkastisch so: Die "Isonomia, das Prinzip der Bürger-Gleichheit, wird vom 20. Jahrhundert gerne als Demokratia, als echte Volksherrschaft, ausgegeben, weil es so schön wäre, wenn die moderne Demokratie eine lange Ahnenreihe hätte. Unsere Demokratie ist aber, es lässt sich nicht ändern, ein Parvenü und hat mit der Isonomie Athens nur so viel Ähnlichkeit wie ein Telefon mit dem ersten Morse-Apparat."
Antike oder moderne Freiheit?
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2008; 456 S., 11,95 ¤