FACHKRÄFTEMANGEL
Qualifizierte Mitarbeiter werden dringend gesucht. Ein Leipziger Unternehmen hat jetzt sogar Ingenieure aus der Rente zurückgeholt
Jens Schreiner legt das Handy auf den lang gezogenen schwarzen Schreibtisch in seinem Büro. "Zurzeit ist es einfach nur verrückt", sagt der 44-Jährige kopfschüttelnd und lacht in sich hinein. Binnen weniger Minuten haben ihn an diesem Montagabend nach 18.00 Uhr zwei Großkunden aus Baden-Württemberg und Berlin angerufen, um jeweils mehrere tausend Metallteile zu bestellen. "Den einen musste ich leider vertrösten, weil wir ausgelastet sind, für den anderen konstruieren wir gerade eine absolute Neuheit im Leichtbau", erklärt Schreiner seine Lage.
Der Geschäftsführer des Stahl- und Hartgusswerks Bösdorf (SHB) bei Leipzig hätte sich vor einigen Jahren nie und nimmer träumen lassen, einen Auftrag auf die lange Bank schieben zu müssen, weil ihm Leute fehlen. Das mittelständische Unternehmen sucht händeringend Facharbeiter für die Stahlschmelze und die mechanische Bearbeitung von Teilen sowie Ingenieure zur Qualitätssicherung. "Acht neue Mitarbeiter könnten wir sofort einstellen, aber es fehlen geeignete Bewerber", sagt der Manager und seufzt.
Die SHB-Beschäftigten produzieren in einer 55.000 Quadratmeter großen Halle überwiegend Verschleißteile für Bagger, Raupen oder Kräne, die Kohle, Öl oder andere Rohstoffe fördern. Das Unternehmen hat eine lange Tradition. 1894 als Stahlgießerei in Bösdorf südlich von Leipzig gegründet, musste das Werk 90 Jahre später seinem Hauptauftraggeber Platz machen: Dem Braunkohletagebau. Bösdorf wurde abgerissen und 1984 einige Kilometer weiter neu aufgebaut. Heute liegt das Werk nah an dem riesigen Tagebaurestloch.
Das Geschäft bei SHB boomt: Der Umsatz der Firma stieg von 18,2 Millionen Euro im Jahr 2004 auf 38,5 Millionen Euro 2008. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs im selben Zeitraum von 170 auf 236. Ein Viertel der Lieferungen geht ins Ausland, beispielsweise nach Indonesien, Mexiko, Dubai oder in die USA. Teile mit einem Gesamtgewicht von 9.000 Tonnen sollen in diesem Jahr insgesamt ausgeliefert werden, 1.800 Tonnen mehr als 2007. "Wenn wir acht Leute mehr hätten, könnten wir 600 Tonnen zusätzlich schaffen und unsere Kapazitäten voll ausschöpfen", rechnet Schreiner vor.
Wie dem SHB geht es zurzeit vielen Unternehmen in Sachsen. "Volle Auftragsbücher, florierende Geschäfte und wachsende Produktionskapazitäten", lautet das Ergebnis einer aktuellen Befragung von 1.100 Mitgliederfirmen der sächsischen Industrie- und Handelskammern (IHK). Die Zahl der offenen Stellen stieg von 360 im Jahr 2005 auf rund 1.350 im vergangenen Jahr. Vor allem im Maschinenbau, bei Metallerzeugern, der Chemischen Industrie sowie in der Rundfunk- und Nachrichtentechnik in ländlichen Gebieten wurden Fachkräfte gesucht. Zeitarbeitsfirmen fragten besonders stark nach, fand die IHK heraus.
"Heute rächt es sich, dass in der Nachwendezeit kaum ein Betrieb in der Region ausgebildet hat", schildert Schreiner das Problem. "Keiner wusste ja nach der Wende, wie es weiter geht", sagt der gebürtige Dortmunder, dessen Betrieb derzeit 14 Jugendliche zu Industriekaufleuten und Gießereitechnikern ausbildet. Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Leipzig, Wolfgang Topf, nennt als Hauptgründe für die zunehmende Misere den Geburtenrückgang, die Abwanderung in die alten Bundesländer und die "Deindustrialisierung der Nachwendejahre". Allein im kommenden Jahr kämen in Sachsen auf 60.000 Neu-Rentner nur 32.000 Schulabgänger.
Ob Schreiner alle Lehrlinge nach der Gesellenprüfung halten kann, ist fraglich. "Es rufen vermehrt Headhunter an und werben Leute ab, zwei haben wir dadurch schon verloren", sagt der 44-Jährige. Eine "leistungsgerechte Vergütung, ein Prämiensystem sowie eine angenehme Unternehmenskultur" sollen weitere Abwanderungen verhindern.
Auf eine ungewöhnliche Personalentscheidung aber ist Schreiner besonders stolz: Vor einiger Zeit hat er zwei über 65-jährige Ingenieure aus der Rente geholt und in Vollzeit eingestellt. "Mit ihrer langen Berufserfahrung lernen sie den Nachwuchs an und kontrollieren die Produktion", sagt Schreiner. "Das klappt hervorragend." Die Fachkräftelücke wird seiner Meinung nach in den kommenden Jahren dennoch nur schwer zu schließen sein. "Wir werden wieder eine Zeit erleben, wo wieder Gastarbeiter zu uns nach Deutschland kommen", ist sich der Ingenieur sicher.
Der Autor ist Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP in Leipzig.