ECVET
Mit einem Punktesystem sollen Ausbildungsgänge aller EU-Mitglieder vergleichbar werden. Bedenken aber gibt es viele
In Flensburg lässt sich schon heute beobachten, wie sich Politiker den europäischen Arbeitsmarkt der Zukunft vorstellen: Nur fünf Kilometer sind es bis zur dänischen Grenze und im Nachbarland winken attraktive Jobs. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der Grenzpendler deshalb mehr als verdoppelt. Auf diese Entwicklung müsse die Berufsbildung reagieren, sagt Bernd Börensen, Schulleiter der Städtischen Handelslehranstalt Flensburg. Im Verbund mit anderen Berufsschulen bietet er grenzübergreifenden Unterricht an. Speditionskaufleute aus Deutschland und Dänemark können zum Beispiel gemeinsam das Modul Gefahrgutverkehr belegen. In Modulen im Einzelhandel wird das Verkaufsgespräch in beiden Sprachen trainiert. "Wir versuchen die Leute so auszubilden, dass sie sowohl nördlich als auch südlich der Grenze arbeiten können", nennt Börensen als Ziel.
Das Flensburger Projekt ist ein kleiner Schritt im so genannten Kopenhagen-Prozess. In der dänischen Hauptstadt haben sich die Bildungsminister der EU-Staaten geeinigt, ähnlich wie in der Universitätsausbildung auch in der Berufsbildung auf einen Nenner zu kommen. Der "europäische Hochschulraum" - der im Rahmen des Bologna-Prozesses bis zum Jahr 2010 mit einheitlichen, gestuften Studiengängen umgesetzt sein soll - wird deshalb langfristig zum einheitlichen "europäischen Bildungsraum" ausgeweitet werden. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg.
Während sich an den Hochschulen über Jahrhunderte ähnliche Strukturen in den Ländern herausgebildet haben, gibt es bei der Ausbildung einen bunten Flickenteppich aus unterschiedlichen Traditionen und Abschlüssen. Das duale System aus Ausbildung im Betrieb plus Berufsschule steht neben der rein schulischen, der rein betrieblichen oder auch der Hochschulausbildung. Eine Krankenschwester, die in Deutschland schulisch ausgebildet wird, würde in anderen Ländern eine Hochschule besuchen.
Noch komplizierter wird es, wenn man ins Detail geht: Die grenzübergreifenden Module in Flensburg sind ein Spagat zwischen den Systemen. In Deutschland verbringen die Speditionskaufleute zwei Tage pro Woche in der Berufsschule, das sind umgerechnet auf die ganze Ausbildung 1.440 Stunden Unterricht. Dänische Auszubildende hingegen leisten in drei Jahren zehn Module à zwei Wochen, also nur 800 Stunden Berufsschule ab. Bernd Börensens Traum von einem gemeinsamen Bildungsgang mit Praktika und Abschlussprüfung lässt sich daher nur schwer realisieren.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) formuliert als Ziel des Kopenhagen-Prozesses deshalb nicht eine "Harmonisierung", sondern die "Gestaltung von Vielfalt". Das bedeutet konkret: Weil es unmöglich ist, die unterschiedlichen Systeme zu vereinheitlichen, muss eine Vergleichsbasis für Bildungsabschlüsse und Qualifikationen her. EQF, European Qualifications Framework, - oder auf deutsch Europäischer Qualifikationsrahmen (EQR) -heißt das Raster, an dem sich die Mitgliedstaaten bis 2010 ausrichten sollen. Die Aufgabe der Bundesbehörden ist es nun zu entscheiden, welchem der acht EQF-Niveaus Qualifikationen vom Facharbeiter bis zum Doktorgrad zuzuordnen sind. Nur bei den oberen drei Niveaus gibt es schon Anhaltspunkte, denn sie sind an den europäischen Hochschulrahmen und damit an Bachelor, Master und PhD oder Doktor gekoppelt. Bei der Zuordnung der rund 350 Ausbildungsberufe gilt es eine harte Nuss zu knacken. Damit auch mitten in der Ausbildung ein Wechsel in ein anderes Land möglich ist, will die EU Anfang nächsten Jahres über ECVET entscheiden, das "European Credit System for Vocational Education and Training", zu deutsch "Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsbildung". Es wurde in Anlehnung an das ECTS-Punktsystem entwickelt, mit dem Bachelor- und Master-Studenten an der Universität ihre Fortschritte nachweisen.
Für die einzelnen Module an der Universität gibt es eine bestimmte Punktzahl. Genauso sollen sich auch in Zukunft Ausbildungen in verschiedene Einheiten untergliedern lassen, die mit Punkten belohnt werden. Vorgesehen ist, dass 60 solcher "Credits" einem Jahr formaler Vollzeitausbildung in Bezug auf eine bestimmte Qualifikation entsprechen sollen. In der Theorie sollen sie dann als eine Art "Bildungswährung" überall in Europa übertragen und angerechnet werden können.
Eine weitere Chance von ECVET liegt in der besseren Verzahnung von Berufs- und Hochschulbildung. Schavan wünscht sich mehr Durchlässigkeit, weil Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhinkt. Während in Vorzeigeländern wie Finnland 70 Prozent eines Jahrgangs die Uni besuchen, liegt die Studierquote in Deutschland nur bei 37 Prozent. Wer sich erst im Berufsleben für die akademische Laufbahn entscheidet, hat es im Ausland leichter. In Frankreich kann ein Hochschulzeugnis im Extremfall vollständig durch den Nachweis von Kompetenzen erlangt werden, die im Beruf oder an anderen Bildungsorten erworben wurden. In Deutschland hingegen ist die Anrechnung der Berufsausbildung auf das Studium bisher so gut wie unmöglich. Erste Pilotprojekte der ANKOM-Initiative des Bundesforschungsministeriums ("Anrechnung beruflicher Kompetenzen an Hochschulstudiengänge") prüfen zurzeit denkbare Verfahren. Die sind jedoch kompliziert und nicht allgemein übertragbar. ECVET könnte eine Lösung sein. Denn über die Nähe zu ECTS ließe sich ein Umrechnungskurs von der Berufs- zur Hochschulbildung berechnen.
Hier kommt es jedoch zu Interessenkonflikten. Die Orientierung an Lernzeit und -aufwand, die gut zur universitären Bildung passt, wird der beruflichen Bildung nicht gerecht. In Deutschland bewerben sich auf Lehrstellen Hauptschüler genauso wie Gymnasiasten. Die betriebliche Ausbildung reicht vom Speiseeishersteller bis zum mathematisch-technischen Software-Entwickler. Beide durchlaufen formal das gleiche System, verlassen es aber mit Kompetenzen auf ganz unterschiedlichem Niveau. Deshalb haben die Sozialpartner Wert darauf gelegt, dass sich der Europäische Qualifikationsrahmen an Lernergebnissen orientiert. "ECVET ist ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung und somit inkonsequent", kritisiert Susanne Müller, Bildungsreferentin der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Kritisch wird auch die Zergliederung der Ausbildung gesehen. In Großbritannien etwa ist es möglich, eine Qualifikation durch mehrere kurze, berufsbegleitende Lehrgänge nachzuweisen, ohne eine Abschlussprüfung zu absolvieren. Grob vereinfacht hieße das: Wenn ein Anlagenmechaniker für Sanitär, Heizung und Klima einen Schweißerschein und verschiedene Schulungen zur Wartung von Gasthermen nachweisen kann, prüft niemand mehr, ob er in der Lage ist, ein Leck zu finden. Dieses Konzept kommt für die BDA nicht in Frage. Auch Hans-Detlev Küller, Referent des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sieht dadurch die Ganzheitlichkeit der Berufsbilder in Gefahr. "Breite Berufsprofile" würden durch ein "schmales Bündel von Fähigkeiten" ersetzt.
Hinter dieser Diskussion verbirgt sich nicht zuletzt die Angst, dass das deutsche Ausbildungssystem bröckelt, weil es im Vergleich scheinbar schlecht abschneidet. "Das, was bei uns Beruflichkeit ausmacht, wird durch ECVET nicht abgebildet", meint Professor Georg Spöttl, Direktor des Instituts für Technik und Bildung an der Universität in Bremen. "Wie messen Sie zum Beispiel die Diagnosefähigkeit eines Kfz-Mechatronikers?" Mit der Praxisorientierung des dualen Systems geht Deutschland einen Sonderweg. 90 Prozent aller Lehrstellen sind so organisiert, dass ein Ausbildungsvertrag zwischen einem Jugendlichen und einem Unternehmen geschlossen wird. Die Kombination von betrieblichem und schulischem Lernen existiert in dieser Breite allerdings nur in Österreich, Luxemburg, Dänemark und einigen Kantonen der Schweiz. In allen anderen europäischen Staaten besucht die überwiegende Zahl der Auszubildenden eine Berufsschule. Als Alternative besteht Training on the job, es kommt aber nur für Schüler mit unterdurchschnittlichen Leistungen in Frage, weil Einkommen, Aufstiegschancen und Sozialprestige gering sind. Angesichts dieser Image-Probleme ist unklar, ob sich Qualifikationen aus der deutschen betrieblichen Ausbildung international gleichwertig in ECVET-Punkten niederschlagen werden.
Zuletzt stellt sich die Frage, ob bei ECVET Aufwand und Ergebnis in einem sinnvollen Verhältnis stehen. "Wir befürchten, dass hier ein kompliziertes und bürokratisches System etabliert werden soll", sagt BDA-Referentin Susanne Müller. Was nützt eine Bildungswährung, wenn für eine deutsche Bürokauffrau in der Praxis kein Lehrbetrieb im Ausland zur Verfügung steht?
Auch im Hochschulbereich, gibt Georg Spöttl zu bedenken, hat die Vereinheitlichung der Abschlüsse bisher nicht zu einem verlässlichen Ergebnis geführt. Er kennt den Fall einer Bremer Studentin, die sich mit ihrem Abschluss an einer Business School in Gent bewarb, aber nicht angenommen wurde, weil dort ein Bachelor von sieben statt sechs Semestern vorausgesetzt wird. "Die Schwierigkeiten sind die gleichen geblieben", meint Spöttl, "es bleibt bei Einzelfallentscheidungen."