SCHULVERWEIGERER
Praxisklassen haben in Hessen Erfolg
Sie sind schulmüde, stören den Unterricht, schwänzen und gelten schon während ihrer Schulzeit als nicht vermittelbar. 20 Prozent der hessischen Hauptschulabgänger haben nach Angaben des Kultusministeriums in Wiesbaden kaum eine Chance auf einen Ausbildungsplatz. So genannte SchuB-Klassen ("Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb") sollen diese Jugendlichen doch noch zum Schulabschluss führen und den Weg ins Berufsleben ebnen.
"Viele haben das Bewusstsein: das ist meine letzte Chance", sagt Charlotte Emmert, die in den beiden SchuB-Klassen der Wiesbadener Heinrich-von-Kleist-Schule als Sozialpädagogin arbeitet. Die Schülerinnen und Schüler, die Emmert unter ihre Fittiche nimmt, sind in der Regel schon einmal sitzen geblieben, ihre Leistungen sind im Keller und das familiäre Umfeld ist oft schwierig. Die Klientel bestehe, so die Sozialpädagogin, aus einer bunten Mischung aus 40 Nationalitäten. 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. In der siebten Klasse können sich die Kinder - auch aus anderen Schulen - für die SchuB-Klasse bewerben, die sie dann im achten und neunten Schuljahr besuchen. Voraussetzungen sind Freiwilligkeit, Belastbarkeit für einen normalen Achtstunden-Arbeitstag und berufs- orientiertes Denken. Um eine individuelle Förderung sicher zu stellen, umfasst eine SchuB-Klasse nicht mehr als 15 Schüler. Neben den SchuB-Lehrern, die berufsbegleitend fortgebildet werden, kümmert sich eine Sozialpädagogin wie Charlotte Emmert um die Schüler, führt viele Gespräche und erarbeitet Zielvereinbarungen mit ihnen, stellt die Kontakte zur Wirtschaft her und moderiert, wenn es Probleme gibt.
SchuB-Schüler besuchen die Schule nur an drei Tagen in der Woche. An den anderen beiden lernen sie als Praktikanten meist in kleinen und mittelständischen Unternehmen den Arbeitsalltag kennen. In mindestens drei Berufsfelder sollen die Schüler während ihrer SchuB-Zeit hinein schnuppern. Auch der theoretische Unterricht in der Schule ist auf die besondere Klientel abgestimmt. Neben den Kernfächern Mathematik und Deutsch steht das Erlernen von Methoden- und Sozialkompetenz im Vordergrund. Wichtiger Bestandteil des Schulalltags ist auch die Reflexion über die Arbeitswelt in der Gruppe.
"Die SchuB-Klassen haben sich eindeutig bewährt", sagt Hessens Kultusminister Jürgen Banzer (CDU). 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben nach seinen Angaben im Jahr 2007 den Hauptschulabschluss geschafft, davon 32 Prozent den qualifizierenden Hauptschulabschluss. 35 Prozent der Absolventen hatten einen Migrationshintergrund. Diese Bilanz spiegelt sich auch in der Wiesbadener Heinrich-von-Kleist-Schule wider. Von den 15 Schülern, die vor zwei Jahren gestartet sind, sind zwei bereits in der Orientierungsphase ausgestiegen. Die anderen haben entweder eine Lehrstelle gefunden, wechseln auf die Berufsfachschule oder werden von der Ausbildungsagentur weiter betreut.
Zum Schuljahr 2008/2009 wird es in Hessen 123 Schulen mit einem SchuB-Angebot für rund 2.400 Schülerinnen und Schüler geben. Neben Hauptschulen auch Kooperative- und Integrierte Gesamtschulen sowie Förderschulen. Für die Praxis-Klassen stellt das Land zum kommenden Schuljahr rund 230 zusätzliche Lehrkräfte ein. Langfristig strebt Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) den flächendeckenden Ausbau von Praxisschulen nach dem Vorbild der jetzigen SchuB-Klassen an.
Auch die beteiligten Unternehmen sind von dem Modell überzeugt. "Die Kinder haben eine ganz andere Möglichkeit, sich darzustellen", berichtet etwa Sascha Kunkel vom Wiesbadener Unternehmen Kasstone. In dem auf Kunststoffverarbeitung spezialisierten Zehn-Mann-Betrieb arbeitet seit neun Monaten ein SchuB-Schüler. Der Schüler gewinne an Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit, der Betrieb könne eine potenzielle Arbeitskraft viel besser einschätzen als nach einem sonst üblichen Kurzpraktikum, ist Kunkel überzeugt.
Gute Chancen auf eine Ausbildungsstelle hat auch der 16-Jährige Halil. "Ich war der Schlimmste in der Schule", erzählt der Schüler aus dem mittelhessischen Breidenbach. Die Zeiten als Klassenclown sind für ihn vorbei, seit er die SchuB-Klasse der Grund- und Hauptschule Perftal besucht. In einer Sanitärfirma hat Halil gelernt, einen Arbeitstag durchzustehen. Jetzt macht auch ein guter Schulabschluss wieder Sinn. Ohne den, weiß Halil, wird sein Chef ihm den Ausbildungsplatz nicht geben.
Doch trotz solcher Erfolgserlebnisse ist das SchuB-Projekt nicht unumstritten. So sieht die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine Ursache für eine gescheiterte Schulkarriere in der frühen Auslese. Auch Helena Pößler sieht zwar durchaus die positive Entwicklung ihrer SchuB-Schüler, hält das Projekt aber nicht für eine endgültige Lösung. Aber die Rektorin der Heinrich-von-Kleist-Schule verweist auch auf die Gesamtsituation. Ein Ende der frühen Selektion, mehr Ganztagsschulen und kleinere Klassen an allen Schulstandorten sind für sie der Schlüssel zum Erfolg, SchuB-Klassen jedoch nur "eine Schublade mehr", in die man Schüler hineinstecken könne. "Wenn wir diese grundsätzlichen Probleme ab dem Beginn der Schulzeit lösen würden", ist die Rektorin überzeugt, "bräuchten wir am Ende keine SchuB-Klassen".