Dokumentation
Adrian Nicole LeBlanc porträtiert eine verlorene Generation am Rande der amerikanischen Gesellschaft
Eigentlich wollte Adrian Nicole LeBlanc nur ein Portrait über einen verurteilten, schillernden Drogenkönig der New Yorker Bronx schreiben. Im Gerichtssaal traf sie auf dessen Ex-Freundin und war von deren Präsenz derart gebannt, dass die Journalistin die folgenden zehn Jahre ihres Lebens damit verbrachte, der Geschichte der beiden nachzugehen. Was als Zeitungsportrait begann, wurde ein ganzes Buch. Und es erzählt längst nicht nur die Geschichte von Boy George, dem Unterweltler, und seiner Freundin Jessica. Adrian Nicole LeBlancs "Zufallsfamilie" dokumentiert "Liebe, Drogen, Gewalt und Jugend in der Bronx", so der Untertitel, und ist somit Abbild eines Stadtteils und seinen Bewohnern in den 1980er- und 90er-Jahren.
Es ist also kein Roman, darauf legt die Autorin Wert, sondern ein Sachbuch: Entstanden auf der Basis zahlloser Interviews, teilweise lebte LeBlanc eine Zeitlang mit ihren Protagonisten, und diese Nähe merkt man den Charakterstudien auch an. "Die Geschichte entwickelte sich wie ein Baum", sagte LeBlanc in einem BBC-Interview, "das Ganze verästelte sich immer weiter." Die Gespräche und die Transkripte waren das Rohmaterial, aus denen die Autorin den epochalen Bericht gestrickt hat. Die vielen Perspektiven auf jene Zeit und ihre Protagonisten verleihen den einzelnen Erzählsträngen eine authentische Wucht sonder- gleichen.
Kein Wunder, dass sich "Zufallsfamilie" über weite Strecken so packend liest, als sei es einer jener epochalen Familienromane, die seit ein paar Jahren so populär geworden sind, angefangen von Jonathan Franzen bis hin zu Jonathan Safran Foer. Es gehört zwar auch als Nicht-Roman definitiv in diese Riege - und ist doch so etwas wie ein Gegenentwurf. Denn wie der deutsche Titel schon impliziert, handelt es sich weniger um eine Familie herkömmlichen Typs. Es ist eher wie bei Goethes Wahlverwandtschaften: Die Bestandteile der Verbindungen sind frei flottierend und finden sich zu neuen Konstellationen zusammen. Und, diesen Aspekt transportiert der Originaltitel subtil mit, die Mitgliedschaft erfolgt unmittelbar: Man braucht nur mit jemandem schlafen, wird sofort adoptiert in die "Instant Family".
LeBlancs Werk entführt in ein sehr weit verästeltes Beziehungsgeflecht, teils sexuell, teils geschäftlich, manchmal verwandtschaftlich. Das ist so eng, dass jede Bewegung am einen Ende des Geflechts am anderen Ende bemerkt wird. Und wenn nur der Vater eines noch ungeborenen Kindes mit einer neuen Flamme gesichtet, die Sozialhilfe gekürzt oder, wie so oft, jemand im Gefängnis landet. Urteile über die Mitglieder dieser Familie werden schnell gefällt, Gut ist hier, wer die Gesetze des Respekts beherrscht; böse sind nur die Verräter.
Im Zentrum steht jene Generation, die 1990 15, 16 Jahre alt war, damals, als die Reagan-Ära in die Bush-Ära überging, als New York City noch als Verbrechenshauptstadt galt, das sich erst änderte, als Rudolph Guiliani 1993 das Bürgermeisteramt übernahm. Seine Nulltoleranz-Politik bekommen die Protagonisten wenn, dann nur indirekt mit. Für Politik interessieren sie sich nicht. Weder Jessica noch ihr jüngerer Bruder Cesar, die aufreizende Coco, die kinderlose Milagros, die die Sprösslinge der anderen unter ihre Fittiche nimmt, und die vielen Väter der vielen Kinder. Flankiert werden sie von Müttern wie Lourdes und Foxy, die ihren Kindern keine vielversprechenden Vorbilder sind; und von den buchstäblichen Kindeskindern, Little Star, Brittany, Stephanie oder Mercedes, die auf ähnlich problematische Lebensläufe zusteuern wie ihre Mütter.
"In Jessicas Augen war Liebe so etwas wie ein Club, in den man unbedingt hinein musste, und gutes Aussehen war die Eintrittskarte", heißt es etwa. Sex und Drogen sind die Waren, für die am ehesten was zu haben ist in der Bronx jener Zeit. Junge Dinger haben also Sex, um neue Sneakers zu ergattern oder nur eine frische Packung Windeln für die schreienden Bälger zu Hause. Keine Miete zu zahlen ist normal, zu Essen gibt es nur am Monatsanfang, wenn gerade Geld vom Sozialamt überwiesen wurde, Verhütung gilt nicht als akzeptables Konzept, mit 14 schwanger zu werden ist hingegen nicht verwunderlich. Die Geschichten wiederholen sich, die Kämpfe gegen den Alltag ohne Geld, die Drogen und die chronische Abwesenheit der Väter der Kinder. Die aufreibende narrative Redundanz ist Spiegel der Normalität.
Bei aller Begeisterung für diesen faktionalen Familienschinken, es gibt auch Störfaktoren: Dass der Übersetzer offensichtlich Österreicher ist - der Verlag, der die deutsche Übersetzung gekauft hat, sitzt in Wien - dürfte deutsche Leser mitunter etwas irritieren: Österreichische Begriffe wie "Trafik" für Kiosk und "Jänner" statt Januar tauchen wiederholt auf, sie wirken wie Fremdkörper, mitten in der Bronx. Und auch dass die wohl den Transkripten entnommenen Zitate regelmäßig versehen sind mit einem "erinnerte sich Coco", macht ratlos. Coco - oder Jessica und Boy George - kommentiert die Vergangenheit schließlich aus der Jetztzeit, folglich müssten diese Einschübe im Präsens stehen, um eine zeitliche Differenz zur erzählten Geschichte zu erlauben.
"Zufallsfamilie" ist eine rare Langzeitdokumentation, die einer verlorenen Generation beim Aufwachsen zuschaut. Entstanden ist so eine Art multipler Initiationsroman. Es ist bitter: Richtig erwachsen werden sie erst hinter Gittern. Der Knast wird zum Lottogewinn.
Zufallsfamilie. Liebe, Drogen, Gewalt und Jugend in der Bronx.
Deuticke, Wien 2008; 592 S., 24,90 ¤