WAHL
Nach den Parteitagen stehen die Präsidentschaftskandidaten fest - die Schlachtordnung auch
Ein erstaunliches Wahljahr in den USA strebt seinem Höhepunkt zu. Nicht einmal mehr zwei Monate bleiben bis zum Tag der Entscheidung am 4. November. Nach dem bisherigen Verlauf zu urteilen, darf man sich noch auf einige überraschende Wendungen gefasst machen. Wenig blieb in dieser Kampagne so, wie es sich angelassen hatte.
Das belegen nicht zuletzt die Nominierungsparteitage der Demokraten in Denver (Colorado) und der Republikaner in St. Paul (Minnesota). In beiden Parteien gewannen Moderate das interne Rennen um die Präsidentschaftskandidatur. John McCain und Barack Obama versprachen gleichermaßen, sie wollten auch mit Abgeordneten der anderen Seite zusammenarbeiten, zum Wohl der USA. Der Sommer der Überparteilichkeit ist vorbei. Spätestens die Reden von John McCain und, mehr noch, von Sarah Palin in St. Paul haben die alte Schlachtordnung aus den Bush-Jahren wieder hergestellt: zwei Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, die soziologisch wie kulturell zwei verschiedene Amerikas repräsentieren und sich im Grunde gar nicht verstehen wollen.
Die Demokraten zeigten sich in Denver einladender und versöhnlicher gegenüber Andersdenkenden - freilich nur, was potenziell wechselwillige Wähler betrifft. Gegenüber der scheidenden Regierung Bush und ihrer Politik zogen sie eine scharfe Kante. Sie wollen die verbreitete Enttäuschung über die Bilanz des abtretenden Präsidenten für sich nutzen.
Vom Stil her erinnerte Denver mehr an ein Polit-Happening. St. Paul dagegen an eine Heerschau mit Ansprachen zur Festigung der Schlachtordnung. Zwei Generationen, zwei Kulturen und zwei Weltanschauungen trennten die beiden Conventions: Junge Gesichter und Minderheitenvertreter (Afroamerikaner, Hispanics, Asiaten) dominierten in Denver. Weißhaarige Herren, Uniformen und stark geliftete Blondinen prägten das Bild in St. Paul.
Alle diese Entwicklungen haben ihre speziell amerikanische Färbung. Schon die Entscheidungen über das Spitzenpersonal 2008 waren nicht vorhersehbaren Bahnen gefolgt. Beide Präsidentschaftskandidaten sind nicht die erste Wahl ihres jeweiligen Parteiestablishments. Obama wie McCain setzten sich nur dank des amerikanischen Vorwahlsystems durch. In keiner anderen Demokratie der Welt haben Bürger ein ähnliches Mitspracherecht bei der Auswahl des politischen Spitzenpersonals - und hat der Parteiapparat infolgedessen so wenig Einfluss. Bei den Demokraten war Hillary Clinton zu Jahresbeginn noch die Favoritin gewesen. Barack Obama schlug die angeblich eingespielteste Politikmaschinerie des Landes durch bessere Organisation, die größere Begeisterung seines Teams sowie das Versprechen eines Generations- und Stilwechsels.
McCain hatten die meisten Kommentatoren im Sommer 2007 bereits abgeschrieben. Seine Kampagne war pleite - auch, weil er sich für die unpopuläre Truppenverstärkung im Irak stark machte. Er hielt durch, und wurde ab dem Winter als Held gefeiert, denn gerade rechtzeitig zum Beginn der Vorwahlen besserte sich die Lage im Irak leicht. McCain galt nicht mehr als störrischer greiser Dickkopf, sondern als weiser Held, der lieber eine Wahl verliert als vom Kurs abzuweichen.
Auch die Vizekandidaten waren nicht die naheliegendste Wette. Beide verdanken ihre Ernennung dem Impuls des Augenblicks. "Georgia on his mind", kann man im Rückgriff auf den Ray-Charles-Hit das Motiv beschreiben, warum Obama Joe Biden wählte. Angesichts des russischen Einmarschs in Georgien und der Krise in Pakistan nach dem erzwungenen Rücktritt des langjährigen Machthabers Pervez Musharraf wurde sein außenpolitisches Erfahrungsdefizit im Vergleich zu McCain Mitte August zu sichtbar. Er konnte nicht tun, was sonst naheliegend gewesen wäre: einen jüngeren Gouverneur aus einem wertkonservativen Staat ernennen, um das Signal des Generationswandels zu verstärken und um Mitte-Rechts-Wähler anzusprechen. Joe Biden gehört seit 36 Jahren dem Senat an. Und er hat das Gespür für die Arbeiterklasse nie verloren. Damit deckt er zwei wichtige Lücken für Obama ab. Sarah Palin war die noch größere Überraschung. Es bereitete McCain eine diebische Freude, dass fast niemand die 44-jährige Gouverneurin von Alaska auf der Rechnung hatte.
Palin mindert McCains größten Nachteil: sein Alter. Mit 72 Jahren wäre er der älteste Präsident, den die USA je zu Beginn einer ersten Amtszeit hatten. Sie senkt das gefühlte Durchschnittsalter des Duos unter die rechnerischen 58 Jahre. Dank ihr hat McCain die religiöse Rechte für sich gewonnen, die ihn zuvor kritisch beäugte. Enttäuschte Anhänger Hillary Clintons wird Palin dagegen nur sehr begrenzt gewinnen. Dafür ist ihr Frauenbild zu traditionell.
So stehen sich nach den beiden Conventions zwei Amerikas gegenüber: Die Republikaner repräsentieren das religiöse Amerika, die USA der Kleinstädte und Landgemeinden sowie den weiteren wilden Westen bis hinauf nach Alaska. Sie tun so, als hätten sie Patriotismus und Moral für sich gepachtet. Der Staat gilt ihnen als ein leider unvermeidliches Übel und die Hauptstadt Washington als verkommenes Nest der Korruption - auch wenn sie dort die letzten Jahre regierten und mit Bestechungs- und Sexskandalen von sich reden machten.
Die Demokraten vertreten das urbane Milieu, die liberalen Staaten im Nordosten und die gesamte Pazifikküste. Sie verstehen sich als die weltoffenere Partei, die Religion, Fahne und Hymne auch ihren Platz lässt, aber in der Bildungs- und Klimapolitik wissenschaftlichen Erkenntnissen folgt. Und die eher auf Diplomatie als auf Militärmacht setzt.
Beide Lager haben mit ihren Conventions ihre Partei geeint und ihr Siegeszuversicht vermittelt. Angesichts der Ausgangslage war das für McCain schwieriger. Präsident Bush ist unpopulär, auch die Republikanische Partei rangiert in der Beliebtheit weit hinter den Demokraten.
Und doch ist McCain Obama in den Umfragen dicht auf den Fersen geblieben. Dabei müsste dies doch ein Jahr der Demokraten sein. Wie und wann wollen sie überhaupt das Weiße Haus erobern, wenn sie es unter den günstigen Bedingungen von 2008 nicht schaffen? Obama führt im Schnitt der Umfragen mit drei bis fünf Prozentpunkten. Das liegt im Bereich der Fehlerquote, bedeutet statistisch also ein Patt. Die Ahnung, dass der Wahlausgang offen ist, verstärkt sich noch beim Blick auf die politische Karte. Präsident wird ja nicht der Kandidat, der in der Summe aller abgegebenen Stimmen vorne liegt. Sondern ins Weiße Haus zieht ein, wer die Mehrheit der Wahlmänner gewinnt. In den 50 Einzelstaaten wird getrennt ausgezählt, der jeweilige Sieger erhält alle Wahlmänner dieses Staates. Von den Staaten, die Bush 2000 und 2004 gewann, stehen nur ganz wenige auf der Kippe.
Zwei Faktoren dürften wahlentscheidend werden, die aber beide nicht in die Umfragen einfließen: Vorurteile und Mobilisierungsgrad. Das eine sind Rassenvorbehalte gegen einen dunkelhäutigen Kandidaten, die nicht offen ausgesprochen werden. Dieser Faktor wirkt zu Obamas Lasten, der andere Faktor dagegen zu seinen Gunsten. Obama begeistert die Jugend und die Erstwähler. Mehr als eine Million Freiwillige versuchen seine potenziellen Anhänger an die Wahlurne zu bringen. Eine solche Helferarmee haben die USA noch nie gesehen.
So spannend ist Demokratie. Die Vereinigten Staaten haben die Wahl. Sie haben sie wirklich.
Der Autor ist USA-Korrespondent der Zeitung "Der Tagesspiegel" in Berlin.