ARBEITSZEIT
Europaparlament lehnt Kompromissvorschlag mit großer Mehrheit ab
Der Streit um einheitliche maximale Wochenarbeitszeiten in Europa geht weiter. Die Reform der seit 2003 gültigen Arbeitszeitrichtlinie war nötig geworden, weil mehrere Schichtarbeiter, darunter deutsche Krankenhausärzte, mit Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen geklagt hatten, dass ihre Bereitschaftsdienste nicht auf die Wochenarbeitszeit angerechnet wurden. Die maximale Wochenarbeitszeit darf laut EU-Norm durchschnittlich 48 Stunden in sieben Tagen nicht überschreiten. Dieser Durchschnitt bezieht sich auf einen Zeitraum von drei Monaten. Da dieser Standard sehr streng ist, hatten zahlreiche Mitgliedstaaten in der Vergangenheit Ausnahmen von der Richtlinie beantragt - und auch erhalten.
Ziel der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Reform war es, die Richtlinie zu lockern und im Gegenzug nach einer Übergangszeit sämtliche nationalen Sonderregeln zu verbieten. Erst die Slowenische Ratspräsidentschaft fand nach Jahren im Juni einen Kompromiss, der allerdings weiterhin viele Schlupflöcher offen lässt und die Wochenarbeitszeit auf maximal 65 Stunden begrenzt. Doch auch diese Obergrenze kann noch ausgehebelt werden, wenn beide Tarifpartner einig sind.
Das EU-Parlament lehnte am 17. Dezember mit großer Mehrheit diesen Kompromiss ab. Er hätte eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden bezogen auf einen Zeitraum von drei Monaten zwar theoretisch weiterhin zum EU-Standard erklärt. In der Praxis aber wären die Schlupflöcher erhalten geblieben. Denn nationale und tarifvertragliche Sonderregeln hätten es erlaubt, "inaktive Phasen" beim Bereitschaftsdienst von der Arbeitszeit abzurechnen und einen verlängerten Bezugszeitraum von bis zu einem Jahr für die Berechnung der Wochenarbeitszeit zu Grunde zu legen.
Vertreter fast aller politischen Richtungen im EU-Parlament stimmten stattdessen für Änderungen, die der Beschäftigungsausschuss eingebracht hatte. Demnach soll es den Mitgliedstaaten oder den Tarifpartnern zwar möglich sein, den Bezugsrahmen auf zwölf Monate zu erhöhen. Dafür sollen alle anderen nationalen Sonderregeln nach einer Übergangszeit von drei Jahren auslaufen. Freizeitausgleich muss unmittelbar im Anschluss an die Arbeitszeit gewährt werden. Bereitschaftszeit soll ohne Ausnahme als Arbeitszeit gelten, wenn sich die Arbeitnehmer einer Branche nicht ausdrücklich für eine andere Lösung entscheiden.
Mit dieser Ausnahme wollen die Abgeordneten den Bedürfnissen von Berufsgruppen Rechnung tragen, die einen großen Teil ihrer Arbeitszeit damit verbringen, auf einen möglichen Einsatz zu warten wie beispielsweise bei der Feuerwehr.
Krankenhausärzte hingegen wehren sich vehement dagegen, dass ihre Bereitschaftsdienste nicht auf die Arbeitszeit angerechnet werden. "Ich habe zwei Nachtdienste im Krankenhaus mitgemacht", sagte der konservative Abgeordnete Thomas Mann am 15. Dezember in der Debatte über die Neuregelung der Arbeitszeitrichtlinie. "Die Aufteilung der Bereitschaftszeit in aktive und inaktive Phasen ist völlig realitätsfremd."
Auch die Sozialdemokratin Karin Jöns plädierte dafür, an dem Grundsatz "Bereitschaftszeit ist Arbeitszeit" festzuhalten. Die Details allerdings sollten den Sozialpartnern überlassen bleiben. "Das schafft genügend Flexibilität für Feuerwehr, Krankenhäuser und Wachdienste." Den Mitgliedsländern, allen voran Großbritannien und Deutschland, geht diese Flexibilität nicht weit genug. Am 10. Juni schrieb der deutsche Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) den deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments einen Brief. "Die (geplanten) Regelungen versetzen viele Mitgliedstaaten in die Lage, auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Bereitschaftsdienst zu reagieren. Der EuGH hat entschieden, dass der Bereitschaftsdienst in vollem Umfang als Arbeitszeit zu werten ist. Dem widerspricht die Arbeitszeitgesetzgebung der meisten europäischen Länder." Deutschland dagegen habe die Rechtsprechung des EuGH bereits zum 1. Januar 2004 in nationales Recht umgesetzt. Zu jeder Ausnahme von der 48-Stunden Regelung müsse der Arbeitnehmer seine Zustimmung geben. Die meisten Abgeordneten überzeugte das nicht. Gerade in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten, wo es immer mehr zeitlich befristete Arbeitsverträge gebe und viele Arbeitnehmer um ihre Stelle fürchten müssten, sei eine Zustimmungserklärung zu Überstunden nicht wirklich freiwillig. "Das käme einem Verrat des sozialen Europa gleich", erklärte Karin Jöns. Bereits 1919 habe die Internationale Arbeitsorganisation IAO eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden gefordert.
Die grüne Abgeordnete Jean Lambert erinnerte daran, dass die Richtlinie ursprünglich geschaffen worden sei, um Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu schützen. "Stress ist der zweitgrößte Faktor bei Krankmeldungen in Großbritannien. 13 Millionen Arbeitstage werden jährlich durch Stress, Depression und Angstzustände verloren." Und ihre Fraktionskollegin Elisabeth Schroedter fragte: "Wollen Sie etwa von einem übermüdeten Arzt behandelt werden oder ihm nach überlangen Bereitschaftsdiensten im Straßenverkehr begegnen?" Eine dreijährige Übergangsfrist für die Mitgliedstaaten sei in Ordnung, es dürfe aber keine "Lex Britannica" für alle geben.
Im Augenblick macht nicht nur Großbritannien von der Möglichkeit Gebrauch, sich aus der gültigen Arbeitszeitrichtlinie von 2003 auszuklinken. 15 Mitgliedstaaten haben nationale Regelungen, die zum Beispiel ermöglichen, dass ein Arbeitgeber mit einem Beschäftigten mehrere Verträge abschließt. Auch der Bereitschaftsdienst wird nur in einigen Mitgliedstaaten - wie zum Beispiel in Deutschland - voll der Arbeitszeit zugerechnet. In anderen Ländern zählt er nur teilweise oder gar nicht. Die sozialdemokratische Abgeordnete Karin Jöns sieht deshalb schwierige Verhandlungen mit dem Rat auf das Parlament zukommen. Sollte es innerhalb von acht Wochen keine Einigung mehr geben, gilt das Vermittlungsverfahren als gescheitert und die alte Richtlinie bleibt in Kraft - mit allen nationalen Sonderregeln.