233. Sitzung
Berlin, Dienstag, den 8. September 2009
Beginn: 11.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, die nach Vereinbarung zwischen den Fraktionen erweitert werden soll, möchte ich zunächst dem Kollegen Kauder zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen gefeiert hat, und im Namen des Hauses dazu meine und unser aller herzlichen Glückwünsche übermitteln.
Heute auf den Tag genau hat der Kollege Detlef Parr seinen 67. Geburtstag. Das alleine wäre kein Grund für eine Sondersitzung des Bundestages, aber ich weiß, dass es ihm gut gefällt, dass seine voraussichtlich letzte Teilnahme an einer Sitzung des Deutschen Bundestages just an seinem Geburtstag stattfindet. Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, meine guten Wünsche mit dem herzlichen Dank für die gute Arbeit hier im Hause zu verbinden.
Wir müssen zwei Wahlen zu Gremien vornehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Für den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr schlägt die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Julia Klöckner und die Fraktion der SPD die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die beiden Kolleginnen in den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr gewählt.
Die Fraktion der SPD hat außerdem mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Klaus Uwe Benneter vorgeschlagen. Sind Sie auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Benneter zum stellvertretenden Mitglied des Vermittlungsausschusses gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die heutige Tagesordnung ergänzt werden soll. Bevor ich darüber sicherlich Einvernehmen herstelle, darf ich Ihnen mitteilen, dass auch der Kollege Gehrcke heute seinen Geburtstag feiert, der natürlich genauso herzlich beglückwünscht sei.
Es gibt eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen, die heutige Tagesordnung um die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan zu erweitern. Als weiterer Zusatzpunkt soll darüber hinaus über eine Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses ohne Debatte abgestimmt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
ZP 1 |
Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan |
Das Wort hat die Frau Bundeskanzlerin.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzte Woche Freitag hat eine der schwersten militärischen Auseinandersetzungen der Bundeswehr mit den Taliban im Rahmen des ISAF-Einsatzes in Afghanistan stattgefunden. Zahlreiche Menschen haben ihr Leben verloren. Über die Folgen, insbesondere über zivile Opfer, gibt es widersprüchliche Meldungen. Das genau zu klären, wird uns heute Morgen nicht möglich sein.
Umso mehr sage ich eines vorweg - und zwar ohne jede Umschweife -: Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel.
Wir trauern um jeden Einzelnen. Jeder unschuldig Verletzte ist einer zu viel. Wir fühlen mit ihnen und ihren Angehörigen. Unschuldig verletzte und zu Tode gekommene Menschen, auch und gerade infolge deutschen Handelns, bedauere ich zutiefst. Es ist mir wichtig, dies heute als deutsche Bundeskanzlerin vor diesem Hohen Haus und genauso dem afghanischen Volk gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Ich denke, ich sage das in Ihrer aller Namen.
Afghanistan, dieses leidgeprüfte Land, hat eine bessere, eine friedlichere Zukunft verdient. Das ist unser aller Hoffnung. Wie in einem Brennglas werden in dem Vorfall vom Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir uns seit Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder stellen müssen. Deshalb ist es richtig, und ich sage, es ist notwendig, dass wir darüber heute im Bundestag debattieren. Als deutsche Bundeskanzlerin möchte ich in diesem Hause festhalten:
Erstens. Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Die Bundeswehr wird mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen. Den Ergebnissen kann und will ich heute nicht vorgreifen. Ich stehe dafür ein, dass wir nichts beschönigen werden, aber ich stehe genauso dafür ein, dass wir Vorverurteilungen nicht akzeptieren werden.
Ich sage nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, ganz deutlich: Ich verbitte mir das, und zwar von wem auch immer, im Inland genauso wie im Ausland.
Genau darüber habe ich auch mit dem NATO-Generalsekretär Rasmussen gesprochen, und zwar sehr unmissverständlich. Eine umfassende Bewertung des Angriffs und seiner Folgen ist mir, ist dem Bundesminister der Verteidigung, ist der Bundesregierung insgesamt absolut wichtig. Auf der Grundlage aller Fakten wird sie erfolgen: offen und nachvollziehbar.
Zweitens. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr zusammen mit unseren Partnern im Nordatlantischen Bündnis in Afghanistan ist notwendig. Er trägt dazu bei, die internationale Sicherheit, den weltweiten Frieden und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen. Das stand am Anfang dieses Einsatzes, und das gilt bis heute. Das ist unsere Überzeugung. Das fand und findet die Zustimmung der afghanischen Regierung, und wir wissen, wie viele einfache Afghanen uns immer wieder bitten, sie im Kampf gegen die Taliban nicht allein zu lassen.
Drittens. Die zweite Präsidentschaftswahl in Afghanistan markiert den Beginn einer neuen Qualitätsstufe in den Beziehungen zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und dem Staat Afghanistan. Es stehen Entscheidungen über neue Schritte an, Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und zwar auch, wenn es den Vorfall vom Freitag nicht gegeben hätte. Mit der zweiten Präsidentschaftswahl muss für die Autoritäten in Afghanistan der Beginn der Übernahme eigener Verantwortung in einer neuen Qualität verbunden sein.
Ich bin mit Staatspräsident Sarkozy und Premierminister Brown der Auffassung, dass jetzt, nach der zweiten Präsidentschaftswahl, der richtige Moment ist, um gemeinsam mit der neuen afghanischen Führung am Ende dieses Jahres festzulegen, wie diese Verantwortungsübernahme messbar geschehen kann. Wir schlagen deshalb dem Generalsekretär der Vereinten Nationen vor, noch in diesem Jahr eine Konferenz einzuberufen, bei der über Stand und Perspektiven der zukünftigen Afghanistan-Politik zu befinden sein wird. Ich erwarte auf dieser Konferenz Zielvorgaben zum politischen und wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Dabei wird die Konferenz klarzustellen haben, dass und wie die afghanischen Verantwortlichen alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um Kriminalität, Korruption und Drogenhandel zu unterbinden.
Die Konferenz wird außerdem weitere klar umrissene Zielgrößen festzulegen haben, die die nächste afghanische Regierung auf gute Regierungsführung, auf Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichten. Vor allem aber muss die Konferenz Zielvorgaben zur Zahl und Qualität der auszubildenden afghanischen Sicherheitskräfte machen einschließlich klarer Zeitvorgaben, in denen dies zu geschehen hat. Die Konferenz wird festzuhalten haben, welches der beste Weg ist, um unser Engagement gerade auch den lokalen und regionalen Gegebenheiten des Landes anzupassen und die jeweiligen Machthaber vor Ort auf die gemeinsamen Ziele verlässlich zu verpflichten.
Mit anderen Worten: Mit dieser Konferenz geht es Frankreich, Großbritannien und Deutschland darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir entschlossen eine international abgestimmte Übergabestrategie in Verantwortung entwickeln können. Denn unser übergeordnetes politisches Ziel ist und bleibt ein Afghanistan, das selbst für seine Sicherheit sorgen kann, ein Afghanistan, das wirksam verhindert, dass seine Regionen erneut Heimstatt des internationalen Terrorismus werden können.
Innerhalb der nächsten fünf Jahre - das ist die Laufzeit des nächsten AfghanistanCompact - müssen hier substanzielle, qualitative Fortschritte erzielt werden, die es den internationalen Truppen Schritt für Schritt ermöglichen, sich mehr und mehr zurückzuziehen. Das meine ich, wenn ich von einer ?Übergabestrategie in Verantwortung? spreche. Diese Worte sind miteinander verbunden: Übergabestrategie in Verantwortung. Damit erreichen wir unser Ziel.
Viertens. Unser Engagement in Afghanistan war von Anfang an auf das Miteinander von wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherheit ausgerichtet. Das eine - so unsere Überzeugung - funktioniert ohne das andere nicht. Beides muss ineinandergreifen. Deshalb beteiligt sich die Bundesregierung mit erheblichen Mitteln an Aufbau- und Entwicklungsprojekten: von der Infrastruktur über Bildungsprogramme bis hin zu Ausbildungsmaßnahmen für die Polizei. Es ist weitgehend auf das beharrliche Engagement der Bundesregierung und auch des Deutschen Bundestages zurückzuführen, dass nunmehr alle unsere Partner, auch alle in der NATO, von diesem Ansatz überzeugt sind. Wurde die Bundeswehr in der Vergangenheit oft als Brunnenbauer verspottet, so ist die Politik der vernetzten Sicherheit heute Konsens unter den Verbündeten. Das ist ein nachhaltiger Erfolg deutscher Afghanistan-Politik.
Dafür danke ich allen, die daran mitgewirkt haben. Ich danke allen in der Bundesregierung: dem Außenminister, der Entwicklungsministerin, natürlich dem Verteidigungsminister und dem Innenminister. Nur auf dieser Basis konnte die internationale Gemeinschaft in diesem Sommer wirksam Unterstützung leisten, damit die zweiten Präsidentschaftswahlen abgehalten werden konnten. Die Menschen in Afghanistan haben unter teils schwierigen Bedingungen ihre Stimme abgegeben. Sie haben damit großen Mut bewiesen, und sie haben ein Bekenntnis für Frieden, Einheit und Demokratie abgelegt. Ihnen gehört unser Respekt.
Wir verschließen dabei vor den Unzulänglichkeiten im Umfeld der Wahlen nicht die Augen. Die Überprüfung durch die Wahlbeschwerdekommission ist außerordentlich wichtig. Aber dass es - im Unterschied zu vielen anderen Staaten - eine solche Instanz gibt, zeigt den demokratischen Fortschritt, den wir in Afghanistan schon sehen können.
Fünftens. Von Beginn an haben wir uns mit unseren Partnern dafür eingesetzt, dass die Region über Afghanistan hinaus in Lösungsansätze einbezogen wird. So hat der Bundesaußenminister einen solchen Prozess mit Begegnungen der afghanischen und der pakistanischen Regierung bereits frühzeitig eingeleitet. Er ist nunmehr auch Teil der internationalen Strategie geworden.
Sechstens. Unser Weg zur Erreichung unserer Ziele ist und bleibt vor allem anderen der Weg des gegenseitigen Vertrauens: des Vertrauens zwischen den Afghanen und den Bündnistruppen, des Vertrauens zwischen der afghanischen Regierung und den befreundeten Ländern der internationalen Staatengemeinschaft und eines immer stärker werdenden Vertrauens der Afghanen in ihre eigene Fähigkeit, ihre Zukunft wieder vollständig in die eigene Hand zu nehmen. Ebenso zentral gehört dazu für mich das Vertrauen der Menschen hier in Deutschland darin, dass die Regierung und das Parlament alles unternehmen, was für die Sicherheit des Landes notwendig ist, und zwar mit größtmöglicher Sorgfalt, unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und beständiger Überprüfung, ob der gewählte Weg der richtige ist.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich sagte es zu Beginn: Wie in einem Brennglas werden in den Folgen des Luftangriffs vom letzten Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir im Zusammenhang mit unserem Einsatz in Afghanistan zu beantworten haben. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wie in einem Brennglas werden uns die drei Grundprinzipien vor Augen geführt, die die deutsche Außenpolitik seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland leiten:
Deutschland ist dem Dienst für den Frieden in der Welt verpflichtet; so steht es in der Präambel unseres Grundgesetzes.
Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie; wir schützen unsere Bürger, ihr Leben und ihre Unversehrtheit mit den zu Gebote stehenden rechtsstaatlichen Mitteln.
Deutschland steht in dieser Welt in festen Bündnissen und Partnerschaften; deutsche Sonderwege sind grundsätzlich keine Alternative deutscher Außenpolitik.
Es ist Aufgabe jeder politischen Führung, diese drei Prinzipien in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit immer wieder neu zur Geltung zu bringen. Das gehört mit zu den schwersten Aufgaben. Denn letztlich geht es um den Schutz von Leben
und bei den Aufträgen der Bundeswehr auch um den Einsatz von Leben. Niemand täusche sich: Die Folgen von Nichthandeln werden uns genauso zugerechnet wie die Folgen von Handeln.
Das sollte jeder bedenken, der ein Zurseitetreten Deutschlands bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus auch und gerade in Afghanistan fordert.
Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die die Bundesregierung unter der Führung meines Amtsvorgängers und unter meiner Führung bis heute zum Afghanistan-Einsatz bewogen haben: das von den Taliban und al-Qaida beherrschte Afghanistan,
das die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001 war. Am Freitag jähren sich die Anschläge zum achten Mal. Dem 11. September 2001 folgten weitere verheerende Anschläge auch in Europa, in Madrid und London.
Auch Deutschland - das wissen wir - ist im Visier. Die Vorhaben der Sauerland-Gruppe wurden glücklicherweise vereitelt; sie hätten verheerende Folgen haben können. Die Ausbildung dieser Attentäter erfolgte in Afghanistan. Deshalb sollte niemand die Ursachen verwechseln: Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror - er ist von dort gekommen - und nicht umgekehrt.
Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringenden Interesse der Sicherheit unseres Landes. Er beruht auf Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Die Entsendung unserer Soldaten ist seit Anfang 2002 von jeder Bundesregierung verantwortet worden. Die jährlichen Anpassungen und Verlängerungen haben jeweils eine breite Unterstützung im Parlament erhalten. Das ist nicht zuletzt im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen wichtig. Ich danke ausdrücklich allen, die - auch aus der Opposition heraus - bei diesen Entscheidungen Verantwortung übernommen haben. Unsere Soldatinnen und Soldaten riskieren bei diesem Einsatz ihr Leben. Dafür haben wir ihnen zu danken, genauso wie wir unseren Polizisten und zivilen Aufbauhelfern für ihren Einsatz zu großem Dank verpflichtet sind.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Handeln Deutschlands auf der Basis der drei Grundprinzipien deutscher Außenpolitik eröffnet die Möglichkeit, dass Afghanistan ein stabiler, selbstständiger Partner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus wird und keine Verbündeten mehr im eigenen Land braucht. Das ist eine der schwierigsten internationalen Herausforderungen unserer Zeit. Sie zu meistern, ist mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung. Dafür arbeitet die Bundesregierung, und dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, auch in der Zukunft.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die nachfolgende Aussprache soll nach einer Vereinbarung unter den Fraktionen eine Stunde dauern. Ich will der guten Ordnung halber auch hierzu förmlich Einvernehmen feststellen. - Das ist offenkundig der Fall.
Erster Redner in der Aussprache ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Tatsache, dass Sie eine Regierungserklärung angesetzt haben, aber auch der überzeugende Inhalt dieser Regierungserklärung wird von den Freien Demokraten nachdrücklich unterstützt.
Wir gehen davon aus, dass diese Regierungserklärung eine Regierungserklärung der gesamten Regierung gewesen ist. Wir gehen davon aus, dass sich diejenigen - 80 Prozent, 90 Prozent in diesem Hohen Hause -, die den Afghanistan-Einsatz mit der Abgabe ihrer persönlichen Stimme beschlossen haben, hier jetzt keinen schlanken Fuß machen. Ich glaube, dass diejenigen, die den Afghanistan-Einsatz überparteilich mit beschlossen haben, sich hinter dieser Regierungserklärung versammeln können. Hier haben Sie für Deutschland gesprochen.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Sie dazwischenrufen, will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich akzeptiere und respektiere, dass Sie eine andere Haltung haben. Ich hoffe aber eines: dass die Debatte im Anschluss an diese Regierungserklärung keine Fortsetzung des Wahlkampfes in diesem Hause wird.
Hier geht es nicht um Parteien, hier geht es um unser Land; das ist es, worüber wir in dieser Stunde debattieren sollten.
Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich mit Nachdruck begrüßen, dass Sie Worte des Mitgefühls und der Trauer gesprochen haben. Sie haben diese Worte für Deutschland gewählt. Das ist aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, richtig, angemessen, notwendig und überfällig gewesen, damit nicht der Eindruck erweckt wird, die Fakten zu allem seien schon bekannt und wir könnten abschließend urteilen.
Es ist richtig: Wenn Fehler gemacht worden sind, müssen wir als ganzes Land die Verantwortung dafür übernehmen. Richtig ist aber auch: Wenn man die Fakten noch nicht kennt, wäre es falsch, eine Vorverurteilung vorzunehmen. Deswegen - dieses kritische Wort gehört dazu - ist es nicht in Ordnung, dass vor dieser Debatte, vor dieser Regierungserklärung eine Informationspolitik stattgefunden hat, die mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beigetragen hat. Die Regierungserklärung, die Sie abgegeben haben, war auch deswegen überzeugend, weil Sie gar nicht den Versuch unternommen haben, zu behaupten, alles sei schon aufgeklärt. Es wäre gut, wenn alle Kabinettsmitglieder vorher so gehandelt hätten.
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist richtig und wichtig, dass wir alle, die wir diesem Einsatz zugestimmt haben, die Verantwortung nicht abgegeben haben.
- Das ist wahr. Mit ?wir? meine ich uns, die wir diesem Einsatz zugestimmt haben. Es ist hinreichend bekannt, dass Sie eine andere Haltung einnehmen. Das ist ja auch Ihr gutes Recht. - Wir alle, die wir diesem Einsatz ja auch aus der Opposition heraus zugestimmt haben, haben von Anfang an die Überzeugung gehabt, dass dieser Einsatz so schnell wie möglich beendet werden soll. Niemand schickt doch leichtfertig Soldaten in ein anderes Land, niemand schickt leichtfertig Soldaten nach Afghanistan. Jeder, der diesen Beschluss gefasst hat, möchte, dass unsere Frauen und Männer so schnell wie möglich gesund zurückkehren.
Niemand tut das leichten Herzens. Wir tun das, um die Sicherheit unseres eigenen Landes, der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, in Mitteleuropa, zu gewährleisten und zu verbessern. Zuallererst deswegen sind wir in Afghanistan. Es geht um die Freiheit und die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir gemeinsam dem Ziel verpflichtet bleiben, so schnell wie möglich aus Afghanistan rauszugehen. Das Ganze kann aber weder kopflos noch überstürzt stattfinden; denn wenn wir jetzt überstürzt und kopflos abziehen würden, dann wäre Afghanistan am nächsten Tag wieder das Rückzugsgebiet der Terroristen in der ganzen Welt. Das kann niemand ernsthaft verantworten.
Denjenigen, die es sich heute leicht machen, weil sie an den Wahltag denken, möchte ich zurufen: Bedenken Sie bitte auch, welche Diskussion es in diesem Lande gäbe, wenn wir als Vertreter des Volkes, wissend, welche Gefahr es für unser Volk gibt, so tun würden, als gäbe es diese Gefahr nicht. Wenn etwas passiert, dann findet plötzlich eine ganz andere Diskussion statt. Unsere Aufgabe ist es, zu verhindern, dass etwas passiert.
Deswegen möchte ich auch nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass die Idee, man könne den zivilen Aufbau von dem militärischen Schutz trennen, nicht umgesetzt werden kann. Es würde kein einziges Krankenhaus in Afghanistan gebaut, es würde kein Brunnen gebohrt, es gäbe keine einzige Ärztin, die zum Beispiel Kinder impft, und es gäbe keine Lehrerin, die unterrichtet, wenn keine Frauen und Männer der Bundeswehr dort wären, die mit ihrem Leib und Leben dafür geradestehen, dass diese großartige zivile Aufbauleistung überhaupt stattfinden kann.
Frau Bundeskanzlerin, es ist gleichwohl notwendig, dass wir feststellen: Wenn wir das Konzept der selbsttragenden Sicherheit im Bündnis durchsetzen wollen, dann müssen wir auch unseren Verpflichtungen, die wir international übernommen haben, nachkommen. Wir kritisieren seit längerer Zeit, dass der Aufbau der Polizeischulung nicht in dem Umfang von uns wahrgenommen wird, wie wir uns international dazu verpflichtet haben.
Wenn wir raus aus Afghanistan wollen, ohne dass der Terrorismus dort sofort wieder die Überhand gewinnt, dann müssen wir dafür sorgen, dass es dort eigene staatliche Hoheits- und Sicherheitsstrukturen gibt. Deswegen ist der Polizeiaufbau, die Schulung der Polizei, in Afghanistan von ganz besonderer Bedeutung. Dass derzeit lediglich 43 Polizeivollzugsbeamte dort wirken - das ist weniger als die Hälfte der Anzahl, die wir im Rahmen einer internationalen Verpflichtung bereitstellen wollten -, ist und bleibt ein Defizit, das wir uns hier gemeinsam ansehen müssen.
Ich denke, wir, die wir Verantwortung tragen, und zwar alle, ob Regierung oder Opposition, müssen diesem Thema, dem Aufbau der eigenen Staats- und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan, mehr Nachdruck verleihen.
Das ist ein tragischer, furchtbarer Freitag gewesen, bei dem wir alle noch nicht wissen, wie viele Opfer tatsächlich ums Leben gekommen sind. Wir wissen auch noch nicht, wer wirklich welche Verantwortung trägt. Aber eines möchte ich hier doch feststellen. Man kann es sich nicht so einfach machen, zu sagen: ?Das war die Bundeswehr?, und das ist es dann auch gewesen. Ich bitte, zu berücksichtigen, was in Deutschland losgewesen wäre, wenn diese beiden Tanklaster für einen Anschlag gegen uns, unsere Verbündeten und unsere Bundeswehr tatsächlich zum Einsatz gebracht worden wären. Auch das muss, denke ich, in der Abwägung im Rahmen einer wirklich sachlichen Bewertung angesprochen werden, und auch darauf möchte ich nachdrücklich aufmerksam machen.
Deswegen hoffe ich von ganzem Herzen, dass eines nicht passiert: dass unsere politische Auseinandersetzung, die naturgemäß drei Wochen vor einer Bundestagwahl verschärft ist, dazu führt, dass man sich mit kleiner Münze einen Wahlkampf auf dem Rücken der Frauen und Männer der Bundeswehr leistet. Sie leisten einen großartigen Einsatz, und dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.
Ich möchte jedenfalls für die stärkste Oppositionsfraktion in diesem Hause nachdrücklich unterstreichen, dass wir uns mit dieser Linie einverstanden erklären und dass wir sie unterstützen und kritisch begleiten werden. Aber ich bleibe dabei: Das ist eine Angelegenheit, die nicht zwischen Parteien im Wahlkampf besprochen werden sollte. Das ist kein Wahlkampfmanöver. Hier geht es um unser Land; hier geht es darum, wie wir mit unserem Land in der Welt dastehen. Es geht in Wahrheit um unsere Sicherheit, unsere Freiheit und unseren Frieden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch wissen wir nicht genau, wie viele Menschen bei dem Luftangriff am vergangenen Freitag in Afghanistan ums Leben gekommen sind. Noch wissen wir nicht, wie viele Zivilisten unter den Opfern waren. Aber eines wissen wir: Dieser Luftangriff war nicht irgendein bedauerlicher Zwischenfall, und wir können nach diesem Ereignis natürlich nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Dieser Freitagmorgen hat - ob wir das wollen oder nicht - ein Schlaglicht auf unseren Afghanistan-Einsatz geworfen und ihn neu ins Rampenlicht gerückt. Natürlich gibt es - das verstehe ich - darüber eine öffentliche Diskussion. Ich verstehe auch, dass Diskussionen nicht nur bei uns, sondern auch im europäischen und außereuropäischen Ausland geführt werden.
Eines allerdings verstehe ich nicht - das können wir auch nicht so lassen -, nämlich dass, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind, Vorverurteilungen, auch im Ausland, stattfinden. Deshalb habe ich seit dem vergangenen Wochenende mit vielen europäischen Außenministern telefoniert und ihnen gesagt: Ihr müsst bitte genauso abwarten wie wir, bis öffentlich beurteilt werden kann, ob der Einsatz gerechtfertigt war oder nicht.
Ich habe aber nicht nur mit den europäischen Kollegen telefoniert, sondern vor allen Dingen vorgestern auch mit meinem afghanischen Kollegen, Herrn Spanta. Ich habe ihm im Namen der Bundesregierung das Mitgefühl für die möglicherweise unschuldigen Opfer zum Ausdruck gebracht, die es gegeben hat. Vor allen Dingen habe ich ihm versichert, dass es bei unserer Philosophie und unserem Verständnis des Einsatzes bleibt.
Niemand hier im Saal war so naiv, zu glauben, dass der Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan nur mit militärischen Mitteln zu gewinnen sei. Weit vor anderen haben wir gesagt, dass wir in Afghanistan nur dann miteinander Erfolg haben werden, wenn wir diesem in 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg geschundenen Volk helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben immer gesagt - dabei bleibt es -: Wenn es notwendig ist, gegen terroristische Kräfte vorzugehen, dann müssen dabei zivile Opfer vermieden werden. Das war unsere Politik in allen Gremien der NATO. Ich freue mich, dass wir uns damit durchgesetzt haben. Aber ich weiß auch: Wie immer die Untersuchung ausgeht, die im Augenblick stattfindet, einfacher wird es insgesamt natürlich nicht. Ich sehe das ja im Augenblick auf den Straßen. Es gibt viele, die unterwegs sind und nach den ganz einfachen Antworten suchen. Es werden Schilder mit der Aufschrift ?Sofort raus aus Afghanistan? hochgehalten. Menschlich kann man das noch nachvollziehen. Das ist unangenehm. Das ist quälend. Es geht nicht schnell genug; es ist gefährlich. Aber ich sage auch: So menschlich verständlich es ist, dass man sich von Aufgaben, die unangenehm sind, trennen möchte, möglichst nichts damit zu tun haben will, so ist das gleichzeitig unpolitisch und unhistorisch und deshalb nicht zu verantworten.
Viele, die so tun, als gäbe es eine einfache Antwort, haben aus meiner Sicht ein paar Dinge vergessen, nämlich dass das Nein zum Irakkrieg und das Ja zu unserem Afghanistan-Engagement zusammengehören
und dass am Anfang etwas war - das dürfen wir in einer solchen Debatte nicht einfach zynisch übergehen -: 3 000 Opfer bei den Anschlägen in New York am 11. September. Ich habe in guter Erinnerung - weil ich damals Verantwortung getragen habe -
- hören Sie einen Augenblick zu, bevor Sie zynisch darauf antworten! -,
in welchem Zustand dieses Land war, als sich nach den Anschlägen in New York in schneller Reihenfolge die Anschläge auf Djerba und Bali sowie in Casablanca wiederholten, darunter immer deutsche Opfer. Ich habe in guter Erinnerung, als die Anschläge näher kamen, nach Madrid und London. Ich weiß, dass die Angst in diesem Land davor ehrlich war, dass die terroristische Gefahr nicht nur besteht, sondern dass Terroristen auch hier in Deutschland zuschlagen könnten. Deshalb haben wir uns engagiert. Vielleicht haben wir nicht zu jeder Zeit in Afghanistan alles richtig gemacht. Das will ich auch gar nicht behaupten. Aber niemand war so naiv, zu glauben, dass wir dort nur mit militärischen Mitteln agieren könnten. Immer haben wir uns auf den Wiederaufbau konzentriert, weit vor anderen. Immer haben wir gesagt: Wir müssen diesem geschundenen Volk auf die Beine helfen. Und immer haben wir gesagt: Wir werden am Ende gemeinsam mit der afghanischen Regierung nur gewinnen, wenn wir die Herzen der Afghanen gewinnen. Insofern ziehe ich für mich noch immer die Zwischenbilanz: Wir sind in unser Engagement in Afghanistan nicht kopflos hineingestolpert. Weil das so ist, dürfen wir dort auch nicht einfach kopflos hinaus. Das geht nicht. Das ist nicht zu verantworten.
Wenn ich sage: ?Wir können da nicht einfach kopflos raus?, dann heißt das natürlich nicht - Herr Westerwelle, hier haben Sie völlig recht -, dass die Aufgabe der Bundeswehr in Afghanistan eine Daueraufgabe ist oder sogar zu einer Daueraufgabe werden soll. Die Bundeswehr ist zusammen mit den anderen europäischen Truppenverbänden, die dort sind, keine Besatzungsarmee. Deshalb sind wir nicht für die Ewigkeit da. Ich sage Ihnen hier das, was ich schon vor diesen Ereignissen von Donnerstagnacht auf Freitagnacht und zur Wahl in Afghanistan gesagt habe, nämlich dass die Wahl eines neuen Präsidenten in Afghanistan ein Einschnitt sein muss. Ein schlichtes ?Weiter so? kann es danach nicht geben. Was wir dann von dem gewählten und im Amt befindlichen afghanischen Präsidenten brauchen, ist eine klare Ansage, wie wir in welchen Schritten und in welchen Zeitabständen zu mehr afghanischer Eigenverantwortung kommen. Im Kern geht es doch immer darum, dass die Afghanen selbst Sicherheit im Land garantieren. Dazu gehört ganz zuvörderst aus meiner Sicht, Herr Schäuble, die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Polizei ebenso wie die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Armee. Darüber haben wir noch keine Vereinbarung mit der afghanischen Regierung. Das muss vereinbart werden, und das steht jetzt an.
Dazu gehören auch die Festlegung von Ausbildungsstandards für die afghanische Armee und die afghanische Polizei, die Festlegung von Ausrüstungsstandards und natürlich auch - Herr Westerwelle, Sie haben das in Bezug auf die Polizei angesprochen; die Polizisten, die Sie genannt haben, sind nur die, die im europäischen Rahmen im Einsatz sind; dazu kommen die, die wir im bilateralen Polizeiausbildungsprojekt haben, aber im Kern haben Sie recht - klare Verantwortlichkeiten innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, damit klar ist, wer für was zuständig ist und Verantwortung trägt.
Der geeignete Ort, das alles zu verabreden und dafür klare Vereinbarungen mit dem neuen afghanischen Präsidenten zu machen, ist der AfghanCompact. Der steht jetzt zur Neuverhandlung an. Wir müssen in diesem AfghanCompact - das ist mein Ziel - klare Perspektiven für die schrittweise Übergabe unserer Aufgaben in afghanische Hände festlegen. Für dieses Vorgehen werbe ich seit Wochen. Ich darf Ihnen sagen: Es gibt wachsende Unterstützung, jedenfalls der europäischen Kollegen, für dieses Vorgehen. Das ist aus meiner Sicht der einzige, aber, wie ich finde, ehrlicher und verantwortlicher Weg, um eine Perspektive in Hinsicht auf Dauer und Qualität unseres Einsatzes in Afghanistan zu gewinnen und damit eben auch eine Perspektive für die Reduzierung deutscher Truppen in Afghanistan zu gewinnen, eine Perspektive, von der ich sage, dass sie mit klaren Zeitangaben unterlegt werden muss. Meine Bitte an alle, außerhalb und innerhalb dieses Parlamentes, ist: Lassen Sie uns bitte der Öffentlichkeit nicht vormachen, es gäbe einen anderen Weg.
Ich erinnere mich - damit komme ich zum Schluss - noch an meinen letzten Besuch in Afghanistan. 24 Stunden nach einem Angriff auf eine Patrouille, bei dem zwei seiner Kameraden ums Leben gekommen sind, habe ich mit einem jungen Soldaten gesprochen. Ich habe länger mit ihm gesprochen, und er hat mir am Ende des Gesprächs gesagt: Herr Außenminister, seien Sie sicher, wir wissen, warum wir hier sind; wir werden dieses Land nicht in der Steinzeit zurücklassen.
Wir hier zu Hause, finde ich, dürfen nicht weniger verantwortlich reden als dieser deutsche Soldat in Afghanistan.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat noch einmal den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit dem Argument gerechtfertigt, dieser Einsatz diene der internationalen Sicherheit, er diene dem Frieden und er diene der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Für meine Fraktion möchte ich die gegenteilige Schlussfolgerung ziehen: Wir fordern den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, weil wir der festen Überzeugung sind, dass der Einsatz der Bundeswehr nicht der internationalen Sicherheit dient, nicht dem Frieden und er auch nicht geeignet ist, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.
In der Kürze der Zeit kann ich nur wenige Argumente aufgreifen. Ein klassisches Argument, das immer wieder ins Feld geführt wird, ist das Argument, ein deutscher Sonderweg sei zu vermeiden; die Bundeskanzlerin hat es ebenfalls wieder ins Feld geführt. Wäre dieses Argument zutreffend, meine Damen und Herren, dann hätten wir uns auch am Irakkrieg beteiligen müssen, dann wäre hier der deutsche Sonderweg im Hinblick auf unsere internationalen Interessen nicht gerechtfertigt gewesen.
Sie haben dies als CDU-Vorsitzende damals auch so gesehen. Wäre das Argument des unzulässigen deutschen Sonderweges richtig, dann hätten die Kanadier völlig falsch entschieden, als sie jetzt schon ein Abzugsdatum festgesetzt haben. Warum haben wir nicht zumindest den Mut, uns so zu entscheiden wie die Kanadier?
Es ist interessant, dass Sie die zivile Komponente heute wieder betont haben. Das ist im Moment leider völlig unglaubwürdig; denn in den letzten Monaten ist das krasse Gegenteil geschehen: Es ist nicht die zivile Komponente gestärkt worden - das sollte man in einer solch tragischen Situation nicht beschwören -, sondern die militärische Komponente. Alles, was man hört, läuft darauf hinaus, dass die militärische Komponente weiter gestärkt werden soll. Man darf auch in einer solch schwierigen Situation über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen.
Nun komme ich zum entscheidenden Punkt. Die Behauptung, Sie bekämpften den internationalen Terrorismus, wird von denen widerlegt, die, wenn man so will, von der fachlichen Seite damit befasst sind. Es ist doch gut, dass dies der Kommandeur McChrystal zum ersten Mal in aller Klarheit festgestellt und Ihre Ausführungen hier krass widerlegt hat, ja, als - so möchte ich einmal sagen - nicht rational, als nicht vernünftig, als nicht nachvollziehbar dargestellt hat. Ich trage hier einmal vor, was dieser Kommandeur zu den Kampfeinsätzen, die Sie gerechtfertigt haben, vorgetragen hat. Er sagt, dass der Krieg in Afghanistan nicht mit konventionellem militärischem Denken gewonnen werden könne, das darauf abzielt, den Gegner zu bekämpfen. Aus konventioneller Sicht stelle sich die Tötung von zwei Aufständischen in einer Gruppe von zehn so dar, als seien nur noch acht Gegner übrig. In einem von Clans und Stämmen geprägten Umfeld wie Afghanistan sei es aber so, dass die zwei Getöteten viele Verwandte hätten, die nach solchen Vorfällen Rache schwörten. Im Fall von zivilen Opfern seien das sogar noch mehr als im Fall von getöteten Kämpfern. So laute die Rechnung: ?10 minus 2 ergibt 20?.
Das heißt, der verantwortliche Mann in Afghanistan sagt Ihnen hier, dass die Kampfeinsätze zu nichts anderem führen als dazu, dass mehr Kämpfer rekrutiert werden. Wie wollen Sie angesichts dieses Sachverhalts hier darstellen, Sie bekämpften den Terrorismus in Afghanistan?
Wie soll dabei überhaupt logisch argumentiert werden?
Nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert. Deshalb hat sich die Anzahl der Anschläge erhöht, deshalb ist das Land immer unsicherer geworden, deshalb haben wir dort - vielleicht in guter Absicht - mehr Unheil angerichtet, Jahr für Jahr: Immer mehr Menschen sind ums Leben gekommen, Soldaten und Zivilisten, Zivilisten und Soldaten. Sosehr ich anerkenne, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie hier vorgetragen haben, dass Sie bedauern, dass Zivilisten, also Unschuldige, ums Leben gekommen sind: Ich bedauere - auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrung -, dass Soldaten dort ums Leben kommen. Ich würde mir wünschen, dass dort, in Afghanistan, keine Soldaten ums Leben kommen.
Was wir erkennen müssen, ist, dass wir dort gegen eine Kultur kämpfen,
und dieser Kampf gegen eine Kultur ist nicht zu gewinnen. Die Kultur, um die es geht, hat der Oberbefehlshaber der ISAF ganz klar angesprochen. Wir haben es dort mit einer Stammeskultur zu tun. Diese Stammeskultur verpflichtet all diejenigen, die im Verwandtenkreis Tote zu beklagen haben, auf Blutrache.
- An die Adresse der Grünen. Ich weiß, dass Sie jetzt Schwierigkeiten haben: Sie haben diesen Krieg mitzuverantworten und wollen sich jetzt aus dieser Verantwortung herauswinden.
Das ist keine noble Haltung.
Sie müssen auch zu dieser Verantwortung stehen.
Wir sind der Auffassung, dass der Ansatz, der hier vorgetragen worden ist - dass die zivile Komponente zu verstärken sei -, natürlich letztendlich das Eingeständnis ist, dass die militärische Komponente gescheitert ist, weil sie die Folgen hat, die ich vorhin hier zitiert habe. Man kann sich vor dieser Logik nicht wegdrücken. Wir bewirken das Gegenteil von dem, was wir eigentlich bewirken wollen.
Dies wird durch die Erklärung der Dienste hier in der Bundesrepublik auch noch bestärkt. Es ist gerade in den letzten Tagen erneut gemeldet worden - wir haben immer wieder darauf hingewiesen -, dass die Dienste in der Bundesrepublik sagen: Der Kampfeinsatz in Afghanistan, den die Bundeskanzlerin gerechtfertigt hat, erhöht die Terroranschlagsgefahr in Deutschland. Ich frage hier für meine Fraktion: Ist es Aufgabe der Bundesregierung, durch ihr Handeln dafür Sorge zu tragen, dass sich die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöht?
- Ja, es ist unglaublich, welche Politik Sie machen; da haben Sie völlig recht. Sie haben kein rationales Argument, um diese Politik überhaupt noch zu rechtfertigen.
Am Schluss sage ich noch etwas zu dem häufig vorgebrachten Argument, es handele sich hier um einen Hilfseinsatz, um eine humanitäre Intervention. Alle internationalen Organisationen, die sich in der Hilfe engagieren, weisen immer auf folgenden Sachverhalt hin: Mit viel weniger Geld könnte man ungleich mehr Menschen vor dem Tod durch Hunger und vor dem Tod durch Krankheit bewahren, ohne dass man einen einzigen anderen Menschen töten müsste. - Das ist das moralische Dilemma, in dem Sie stecken. Deshalb bleiben wir bei der These: Krieg ist kein Mittel der Politik. Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Lafontaine, lassen Sie mich eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen machen. Wenn wir Ihrer Aufforderung folgen würden, dann - der felsenfesten Überzeugung bin ich - würde dies eine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, eine Gefährdung ihrer Sicherheit bedeuten, weil Afghanistan wieder zurückfallen würde: in den Status eines Ausbildungscamps für den Terrorismus und in die Herrschaft der Taliban. Dies wäre eine Bedrohung von Frieden, Freiheit und Sicherheit in unserem Land. Deshalb können wir im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger Ihrer Aufforderung nicht Folge leisten.
Die Ereignisse vom Freitag haben auch deutlich gemacht, in welch schwieriger Situation unsere Soldatinnen und Soldaten diesen Einsatz für unsere Sicherheit leisten. Durch die bevorstehende Wahl und durch Debatten, die hier immer wieder geführt werden - dies registrieren die Taliban -, sind wir weiter in den Blickpunkt der Taliban gerückt. Wir sind in Gefechtssituationen herausgefordert. Wir mussten uns in Kampfhandlungen bewähren, um Sicherheit dort zu gewährleisten. Die Situation vom Freitag hat aus meiner Sicht auch gezeigt, welch konkrete Bedrohungslage dort für unsere Soldatinnen und Soldaten vorhanden war. Deshalb haben unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer Sicherheit ihr Leben riskieren und einen derartigen Einsatz auf sich nehmen, unseren Dank und unsere Unterstützung verdient.
Deshalb halte ich es auch für richtig, dass wir in einer solch schwierigen Situation unseren Oberst, der die Entscheidung getroffen hat, nicht alleinstehen lassen, wenn voreilig von schweren Fehlern gesprochen wird. Wir haben gleichzeitig andere Informationen - Sie kennen sie wahrscheinlich - von dem Polizeichef von Kunduz, von dem Gouverneur von Kunduz, von dem Geheimdienstchef von Kunduz, von dem Chef der ANA, sprich: der Streitkräfte, von Kunduz und von dem Vorsitzenden des Provinzrats. Sie haben in ihrer Erklärung gegenüber dem Präsidenten festgestellt, dass bei dieser Situation Taliban und deren Verbündete getötet worden sind.
Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen, unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu leisten. Ich sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer gegeben hat, fordert dies unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl.
Wir werden uns auch darum kümmern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Entscheidungen in dieser Richtung treffen zu können, muss erst das abschließende Untersuchungsergebnis vorliegen.
Wir hatten eine sehr konkrete Bedrohungslage im Hinblick auf unser Lager in Kunduz. Als unser Oberst erfahren hat, dass zwei Tanklastzüge durch Gewaltmaßnahmen in die Hände der Taliban gelangt sind - sie haben einen der Fahrer ermordet -, war ihm klar, dass dies auch eine sehr konkrete Gefahrenlage für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutete. Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich einmal in diesen Abwägungsprozess und in diese Situation: Er hatte durch klare Aufklärungsmittel den eindeutigen Hinweis, dass es sich ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte handelt und dass vier Talibanführer dabei waren. Deshalb hat er eine Gefahr für unsere Soldatinnen und Soldaten gesehen. Stellen Sie sich einmal vor, welcher Schaden durch eine Detonation zweier solcher Tanklastwagen hätte angerichtet werden können. Wir haben das sehr konkret in Kabul gesehen. Mit der Entscheidung, die unser Oberst in dieser schwierigen Situation getroffen hat,
darf man ihn nicht alleinlassen. Ich finde, es ist richtig, wenn man unsere Soldatinnen und Soldaten in dieser schwierigen Situation unterstützt, statt sie mit Vorverurteilungen alleinzulassen.
Ich denke, dass es richtig und notwendig ist - ich habe auch mit General McChrystal darüber gesprochen -, dass wir in dieser Situation einerseits alles tun, um ordnungsgemäß aufzuklären, dass wir andererseits aber auch weiterhin gemeinsam im Rahmen von ISAF und NATO unseren Auftrag zur Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Afghanistan erfüllen. Denn man muss auch sehen, welche Erfolge wir dort bereits erzielt haben. Wir dürfen nicht verkennen, was sich alles erheblich verbessert hat: die Bildungschancen junger Menschen, die Situation der Universitäten, die medizinische Versorgung, die Infrastruktur bis hin zu einer Informationsgesellschaft. Es geht schrittweise voran. Das gilt auch für die Unterstützung und Ausbildung der afghanischen Kräfte. Die vergangene Wahl ist nach 30 Jahren Bürgerkrieg die erste Wahl, die in Verantwortung der afghanischen Regierung und im Wesentlichen abgesichert durch afghanische Kräfte durchgeführt worden ist. Inzwischen führen die ANA-Streitkräfte 50 Prozent der Einsätze selbst durch.
Wir konnten bereits die Stadt Kabul in die Sicherheitsverantwortung Afghanistans übergeben. Die Tatsache, dass im Norden, in unserem Verantwortungsbereich, bis zu 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gegangen sind, trotz der Drohung der Taliban, ihnen die Finger abzuhacken, wenn sie daran die blaue Tinte als Zeichen für die Teilnahme an der Wahl finden, ist ein Ausdruck von Mut der Bevölkerung und auch ein Beweis für Stabilität und zukünftige positive Entwicklung.
Ich kann nur unterstreichen, dass wir weiterhin unseren Beitrag zur Umsetzung der vernetzten Sicherheit leisten, um das Vertrauen der Menschen dort zu gewinnen. Als ich in diesem Jahr in Kunduz war, haben mir die Bürgerinnen und Bürger versichert, dass 90 Prozent der Bevölkerung an unserer Seite stehen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz alles daransetzen, um eine klare Zielorientierung zu entwickeln - Ausbildung von Streitkräften und Ausbildung von Polizei -, damit Afghanistan selber in der Lage ist, für seine Sicherheit zu sorgen.
Die Bundeswehr wird im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger weiterhin ihren Beitrag leisten; denn dies ist für die Gewährleistung von Frieden und Freiheit gerade auch in unserem Land von entscheidender Bedeutung.
Recht schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der nächste Redner ist Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Jung, Sie haben mit Ihrem, wie ich finde, recht hilflosen Auftritt hier eines belegt:
Die Informationspolitik dieser Bundesregierung zu Afghanistan ist ein Desaster. - Das sagt einer Ihrer Amtsvorgänger, Volker Rühe.
Überhaupt, liebe Frau Merkel, ist Ihr Umgehen mit Afghanistan eigentlich nur mit dem Wörtchen ?verdruckst? zu beschreiben.
Trotz dieses schwersten Zwischenfalls, den es gegeben hat, mussten Sie von der Opposition zu dieser Regierungserklärung getrieben werden. Sie mussten vor Jahren von uns dazu getrieben werden, endlich einmal unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan zu besuchen. Ehrlich gesagt: Das ist beschämend. Eine offene Haltung hierzu wäre angemessen gewesen.
Das haben Sie heute nur mühsam versucht nachzuholen.
In Afghanistan führen die Taliban einen Bürgerkrieg. Für den Tod unschuldiger Zivilisten, für hinterhältige Morde sind in erster Linie sie verantwortlich.
Sie sind es, die das Völkerrecht nicht einhalten. Sie bringen den schmutzigen Krieg in die Dörfer.
Mit Blick auf Sie, Herr Lafontaine, sage ich: Dass es in Afghanistan Krieg gibt, heißt nicht, dass die Bundeswehr dort einen Krieg führt.
Ich will das mit einem Zitat belegen:
Die Bundeswehr ist in Afghanistan nicht im Krieg. ... Sie arbeitet auf der Grundlage des völkerrechtlichen ISAF-Mandats zur Stabilisierung des Landes.
Das stammt von Wolfgang Ne¨kovic, dem Rechtspolitiker Ihrer Fraktion. Ich sage Ihnen: Wolfgang Ne¨kovic hat vollständig recht. Aber dann dürfen Sie hier nicht solche Reden halten, wie Sie sie gehalten haben.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben einen schwierigen Auftrag. Sie riskieren ihr Leben, und sie sollen das Leben Unschuldiger nicht gefährden. Das verdient Respekt und Anerkennung. Deswegen kann es in dieser Debatte nicht darum gehen, irgendwelche Schuldigen zu finden. Aber es geht in der Tat darum, die Fakten auf den Tisch zu legen.
Es kann nicht akzeptiert werden, dass diese Operation verniedlicht wird. Frau Merkel, es handelt sich hier nicht um irgendeinen Vorfall. Es handelt sich um einen Einschnitt, der deutlich machen kann und der in der Öffentlichkeit den Eindruck hat entstehen lassen, dass Deutschland in Afghanistan zu einer anderen - ich sage an dieser Stelle: zu einer falschen - Strategie übergegangen ist. Darum geht es.
Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann muss man zu dieser Verantwortung auch stehen. Wie man damit anders als Herr Jung umgeht, hat der Oberkommandierende von ISAF, Stanley McChrystal, bewiesen. Er hat sich so verhalten, wie wir es uns lange gewünscht haben: Nach dem Vorfall hat er sich an den Ort des Geschehens begeben. Er hat mit den Opfern gesprochen. Er hat sich entschuldigt. Er hat sich also gemäß den neuen Einsatzrichtlinien für solche Zwischenfälle verhalten, die lauten: ?apologize?, ?compensate?, ?investigate? - entschuldigen, entschädigen und dann untersuchen. Das ist die richtige Reihenfolge, und die hätte ich mir auch von unserem Bundesverteidigungsminister gewünscht.
Wie sind Sie vorgegangen? Sie haben als Erstes die Unwahrheit gesagt. Sie haben behauptet, das Ganze habe sich in 40 Minuten abgespielt. Die Wahrheit ist: Es hat sechs Stunden gedauert. Es hat übrigens zwölf weitere Stunden gedauert, bis nach dem Bombardement Aufklärer vor Ort gewesen sind. Das ist das Ergebnis der Unterrichtung, die Sie uns heute in den Ausschüssen gegeben haben. Schließlich haben Sie gesagt, Sie seien sicher, es habe keine zivilen Opfer gegeben. Im Ergebnis geben Sie heute zu, dass eine solche Möglichkeit nicht auszuschließen ist. Ihr Grundsatz ist ein anderer als der, den die Amerikaner an dieser Stelle beherzigt haben. Ihr Grundsatz lautet offensichtlich: Vertuschen, leugnen und, wenn es gar nicht anders geht, sich für das entschuldigen, was man vorher bestritten hat. Diese Haltung macht die Akzeptanz dieses Einsatzes in der Bevölkerung, in diesem Deutschen Bundestag so unerträglich schwer.
Sie sind heute zu einer Belastung für die deutsche Afghanistan-Politik geworden. Sie haben mit Ihrer Haltung inzwischen dafür gesorgt, dass Deutschland in einen scharfen Gegensatz zu seinem engsten Verbündeten, den USA, geraten ist und dass im Rat der Außenminister diese Isolierung kollektiv kritisiert worden ist. Dass es durch den Bundesverteidigungsminister dazu gekommen ist, dafür tragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung. Über diesen Punkt muss man diskutieren.
Ich will an dieser Stelle etwas hinzufügen. Wir führen seit drei Jahren eine Debatte um den Begriff der vernetzten Sicherheit. Wir haben in diesem Haus einen ziemlich breiten Konsens, dass dies der richtige Ansatz ist, um Afghanistan zu stabilisieren. Nur müssen Sie sich nach drei Jahren der Diskussion und nach vier Jahren Regierungszeit die Frage gefallen lassen: Was ist mit dem Ansatz der vernetzten Sicherheit geschehen? Da stellen wir fest: Es ist zwar möglich, in Wochenfrist beispielsweise den Einsatz von AWACS-Flugzeugen, die dort noch gar nicht angekommen sind, freizugeben. Aber Sie sind nicht in der Lage gewesen, die Zahl der Polizistinnen und Polizisten auf das Maß zu bringen, das diese Regierung international zugesagt hat.
Das heißt, Sie reden von vernetzter Sicherheit; aber Sie setzen sie nicht um.
Was sollen wir denn davon halten, wenn Sie heute in Ihrer Regierungserklärung sagen: ?Ich habe mit Gordon Brown die Abhaltung einer internationalen Konferenz verabredet?? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie dem Parlament, der deutschen Öffentlichkeit im Rahmen einer Regierungserklärung in aller Deutlichkeit sagen, mit welchen Vorstellungen, mit welchen Maßnahmen und mit welchen Zeitplänen Sie, die Bundesregierung, zu dieser Konferenz gehen. Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass es einer zeitlichen Abzugsperspektive genauso bedarf, wie es einer zeitlichen Aufbauperspektive bedarf. Aber von vernetzter Sicherheit und vom Afghan Compact zu reden und nicht eine einzige konkrete Maßnahme vorzuschlagen, ist die Ankündigung, mit dem fortzufahren, was Ihre Afghanistan-Politik der letzten Jahre gekennzeichnet hat, nämlich durchwursteln, um bloß nicht aufzufallen, weil Sie wissen, wie unpopulär das Thema ist. Das ist mit dem Geschehen am letzten Freitag geplatzt.
Ich sage Ihnen eines: Alle Argumente gegen die Linkspartei, die sagt, wir würden die Truppen sofort abziehen, dahin gehend, ein solches Vorgehen würde dieses Land in einen Bürgerkrieg ganz anderen Ausmaßes stürzen, sind richtig. Es ist falsch, diese Forderung zu erheben. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie mit dieser Politik des Durchwurstelns so weitermachen, werden Sie am Ende genau da landen, wo die Linkspartei schon heute ist, nämlich in einem kopflosen Abzug, weil Sie die notwendigen Anforderungen für den zivilen Aufbau und für den Polizeiaufbau nicht auf die Reihe bekommen haben. Deswegen muss Schluss sein mit diesem Durchwursteln; denn das führt ins Chaos, auch in Afghanistan.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Trittin, ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass Sie wenige Tage vor der Bundestagswahl der Versuchung nicht widerstanden haben, die Afghanistan-Debatte zu einer Wahlkampfdebatte zu machen.
Ich habe nichts dagegen, im Wahlkampf über Afghanistan zu sprechen. Aber die Art und Weise, wie Sie den Vorfall und seine Folgen vom letzten Freitag, die noch aufgeklärt werden müssen, als Tatsachen dargestellt haben, und wie Sie dies versucht haben in einen Vorwurf gegen die Bundesregierung umzuwandeln, ist in hohem Maße unseriös.
Sie hätten durchaus sagen können, dass nach all dem, was uns bisher an Erkenntnissen vorliegt, festzustellen ist, dass den beteiligten Soldaten, insbesondere dem Oberst, der den Befehl gegeben hat, keine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, dass die Informationen, aufgrund derer die Entscheidung getroffen wurde, ganz wesentlich auch aus amerikanischen Quellen stammen und dass die Wirkung der eingesetzten Waffe - ihm wurde eine andere vorgeschlagen - aufgrund der Entscheidung des deutschen Offiziers geringer ausgefallen ist. Diese Aspekte gehören zur Wahrheit dazu. Sie hätten sie erwähnen müssen, wenn es Ihnen tatsächlich um eine sachgerechte Beurteilung und nicht um Wahlkampf gegangen wäre.
Herr Lafontaine hat wieder einmal vorgeführt, wie man in der Debatte um den Afghanistan-Einsatz Ursache und Wirkung verwechseln kann. Es ist richtig: Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist gefährlich. Sie ist mit Gefahren verbunden, nicht nur in Afghanistan, sondern auch hier. Aber noch viel gefährlicher wäre es, den Forderungen der Terroristen nachzugeben und Afghanistan im Stich zu lassen.
Lassen Sie uns einmal einen Blick auf die Ideologie derer werfen, die nicht nur die Bundeswehr und ihre Verbündeten in diesem internationalen Einsatz bekämpfen, sondern vor allem den Aufbau der islamischen Republik Afghanistan verhindern und untergraben wollen. Ihr Ziel ist es, alle sogenannten Ungläubigen vom muslimischen Boden zu vertreiben oder zu töten. Dabei befinden sich vor allem auch die moderaten Kräfte in der islamischen Welt in ihrem Fadenkreuz, weil sie aus Sicht dieser islamistischen Ideologen als Verräter gelten. Diese Terroristen hassen uns nicht für das, was wir tun, sondern für das, was wir sind. Deswegen dürfen wir hier nicht nachgeben.
Wenn wir uns jetzt unverrichteter Dinge aus Afghanistan zurückzögen, wäre das ein enormer Propagandaerfolg für al-Qaida. Es wäre auch eine enorme Schwächung der moderaten Kräfte in der islamischen Welt, mit denen wir gemeinsam Strukturen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbauen wollen. Bin Laden behauptet, dass er in den Jahren von 1979 bis 1989 den ersten großen Satan, die UdSSR, niedergerungen habe. Er würde im Falle eines Rückzugs behaupten, er habe auch den zweiten großen Satan, nämlich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Westen, niedergerungen. Dabei spielt es keine Rolle, von wem die Vereinigten Staaten regiert werden.
Wir dürfen den Fehler, den die internationale Gemeinschaft in den 90er-Jahren gemacht hat, nämlich sich nicht weiter um Afghanistan zu kümmern, nicht wiederholen. In den 90er-Jahren hat in Afghanistan ein Bürgerkrieg getobt. In dieser Zeit ist in den Medressen, in den Koranschulen, im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet die Taliban-Bewegung - ?talib? heißt Schüler - entstanden. Den Taliban ist es mithilfe des pakistanischen Geheimdienstes in einem langjährigen Bürgerkrieg gegen die Nordallianz, die vom Iran und von Russland unterstützt wurde, gelungen, die Macht in Afghanistan zu ergreifen.
Gerade diese Verhältnisse haben Afghanistan zu einem Rückzugsraum für internationalen Terrorismus werden lassen. Würden wir uns jetzt zurückziehen, bestünde die Gefahr, dass sich die Geschichte der 90er-Jahre wiederholt, dass es wieder zu einem solchen Bürgerkrieg kommt und dass wir dasselbe Chaos, dieselben Gefahren zu gewärtigen hätten, allerdings unter wesentlich schlimmeren Voraussetzungen; denn damit wäre ein propagandistischer Erfolg für al-Qaida verbunden. Die Auswirkungen auf extremistische Kräfte in der muslimischen Welt wären unvorstellbar.
Wir würden aber auch noch mehr Schwierigkeiten mit der Stabilisierung Pakistans bekommen. Pakistan zu stabilisieren, ist schon heute eine sehr schwierige Aufgabe; wenn Afghanistan verloren ginge, wäre sie nahezu unmöglich. Pakistan ist eine Nuklearmacht. Erinnern wir uns an die Ereignisse der letzten Monate und Jahre, die wir in Pakistan haben zur Kenntnis nehmen müssen: die Kämpfe um die Rote Moschee, die Ermordung von Benazir Bhutto, den Anschlag auf das Marriott-Hotel, die Anschläge in Bombay auf das Taj-Mahal-Hotel und andere Hotels sowie den Anschlag auf die Sri-Lankische Kricketnationalmannschaft in Lahore. All diese Terroranschläge haben in Pakistan und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ihren Ursprung.
Wer sich in den letzten Tagen und Wochen die Zeit genommen hat, den Prozess um die Sauerlandgruppe zu verfolgen, der hätte zur Kenntnis nehmen können, dass einerseits die Erfolge in Afghanistan so groß sind, dass für die Terroristen heute das Wirken in diesem Grenzgebiet wesentlich schwieriger ist als vor einigen Jahren, dass die Netzwerke aber nach wie vor vorhanden sind. Deutsche Muslime sind in dieses Grenzgebiet gereist, um sich dort ausbilden zu lassen, um in Tschetschenien, im Irak oder bei uns Anschläge zu verüben. Es ist richtig: Wir sind in Afghanistan noch lange nicht am Ziel. Aber zu unserer Strategie der Stabilisierung gibt es keine Alternative. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer, sondern auf Verlässlichkeit und Erfolg ausgerichtet.
Die Wahlen, die vor wenigen Wochen in Afghanistan stattgefunden haben, sind bei allen Defiziten ein beeindruckendes Beispiel für den Fortschritt im Land. Die afghanischen Präsidentschaftswahlen haben bei allen Gefahren, denen die Wählerinnen und Wähler ausgesetzt waren, mit einer höheren Beteiligung stattgefunden als die Europawahlen in Deutschland. Sie sind weniger blutig gewesen als die Parlamentswahlen 2004 in Spanien. Sie sind freier gewesen als die Präsidentschaftswahlen im Iran oder in Russland.
Das ist ein enormer Fortschritt für Afghanistan, den wir nicht aufgeben dürfen. Deswegen ist es falsch, vordergründig über Abzugspläne oder gar über Daten zu sprechen; das würde den Taliban nur deutlich machen, wie lange sie durchhalten bzw. stillhalten müssten.
Wir dürfen an unserer Verpflichtung, zu dem Erfolg des Einsatzes in Afghanistan beizutragen, keinen Zweifel lassen, und zwar weil es sich nicht in erster Linie um eine humanitäre Intervention handelt, sondern weil es vor allem um unsere eigene Sicherheit geht. Für diese Verlässlichkeit steht diese Bundesregierung und, so hoffe ich, auch die Bundesregierung nach dem 27. September.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Winkelmeier.
Gert Winkelmeier (fraktionslos):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Aussage des Bundesministers der Verteidigung heißt seit 2005: Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan in einem Stabilisierungseinsatz, nicht aber in einem Krieg. Weder das ungläubige Kopfschütteln seiner Soldaten vor Ort noch die seit 2005 steigende Zahl der Gefallenen, Traumatisierten und körperlich Verwundeten, ganz zu schweigen von der ständig zunehmenden Zahl der Opfer in der afghanischen Zivilbevölkerung, haben an dieser Aussage etwas geändert. Es ist armselig, Herr Jung, dass Sie immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich unser Land in Afghanistan in einem Krieg befindet.
Vor Wochen diskutierten wir im Verteidigungsausschuss, dass nach Möglichkeit keine Luftunterstützung angefordert werden soll, weil dann sogenannte Kollateralschäden unvermeidlich sind. Nun gab es die Bombardierung der Tanklastzüge. Die Folge ist, dass viele zivile Opfer zu beklagen sind. Die Washington Post war scheinbar besser informiert als der deutsche Verteidigungsminister. Gemessen am ursprünglichen Auftrag der Bundeswehr, die Köpfe und Herzen der Afghanen zu gewinnen, ist der jetzige Zustand eine blanke Katastrophe.
Mit der Weigerung, die Kritik unserer Partner anzunehmen, blamieren Sie sich. Herr Minister, Sie betreiben reine Selbstverteidigung, weil Sie Angst haben, dass nun das eintritt, was Sie unter allen Umständen vermeiden wollten, nämlich dass der von zwei Dritteln der Deutschen abgelehnte Afghanistan-Einsatz zum Wahlkampfthema wird. Anstatt sich dem Thema offen zu stellen, vermitteln Sie der Öffentlichkeit ein Bild des Jammers, das Bild eines Realitätsverweigerers.
Es ist doch eine Schande, dass es eines derartig hohen Blutzolls bedarf, um in unserem Land über Krieg und Frieden und die Rolle der Bundeswehr zu debattieren.
Lassen sie mich etwas zu der Entscheidung des örtlichen deutschen Kommandeurs sagen: Tankwagen sind nicht geländefähig. Sie können nur auf befestigten Straßen gefahren werden. Das Lager Kunduz hätte also auf den befestigten Zugangsstraßen mit ganz einfachen Mitteln gegen die vermeintliche Gefahr geschützt werden können. 2 000 Meter vor dem Lager postiert, hätten ein Schützenpanzer oder ein paar Maschinengewehre gereicht, um die Umwidmung dieser Lastwagen in Angriffswaffen zu unterbinden.
Zudem standen diese Lastwagen ständig unter Luftbeobachtung.
Ich sage aber auch: Für diese schlechte Leistung ist als letztes Glied in der Kette nicht allein dieser Kommandeur haftbar. Nein, und das muss in aller Klarheit gesagt werden: Die Hauptverantwortung tragen diejenigen, die im Deutschen Bundestag immer der Verlängerung des ISAF-Mandats zugestimmt haben. Das ist die Wahrheit.
Jeder in unserem Land kann auf der Webseite des Bundestages die namentlichen Abstimmungen aufrufen und nachlesen, wer zugestimmt hat.
Auch das sage ich Ihnen: Dieser Vorfall ist nicht die letzte Stufe der Eskalation der Gewalt. Das ist eine neue Qualität. Ich bin sicher, dass sich der nächste Bundestag mit diesen Gewalttaten noch öfter auseinandersetzen muss. Wenn nicht endlich umgedacht wird, gerät Deutschland immer tiefer in den Sumpf eines nicht gewinnbaren Krieges. Ziehen Sie die Bundeswehr so schnell wie möglich aus Afghanistan ab! Das wäre die Lösung.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Merten für die SPD-Fraktion.
Ulrike Merten (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Nur mit einem konstitutiven Beschluss des Deutschen Bundestages kann die Bundeswehr auf Antrag der Bundesregierung in bewaffnete Auslandseinsätze entsendet werden.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist hierfür die rechtliche Grundlage. Das ist aber lediglich die formale Ebene. Sie ist wichtig, aber hinter dem Parlamentsbeteiligungsgesetz und dem Umstand, dass das Parlament zustimmen oder ablehnen kann, steht für jede Bundesregierung natürlich auch die Notwendigkeit, das Parlament vor einer Antragstellung soweit wie möglich einzubeziehen und zu hören, inwieweit das Parlament bereit und in der Lage ist, mitzugehen. Wenn das gelingt, hat das im besten Fall zur Folge, dass es einen lange andauernden und über alle Parteigrenzen hinwegreichenden Konsens gibt. Deshalb ist die im Parlamentsbeteiligungsgesetz verankerte Pflicht der Bundesregierung, das Parlament über alle Vorfälle im Verlauf eines Einsatzes zu informieren, eine weitere wichtige Grundlage dafür, dass einem im Laufe eines Einsatzes sozusagen nicht das Parlament verloren geht und der Rückhalt, den die Soldaten brauchen, nicht schwindet.
Herr Minister, ich will hier deutlich sagen - ich habe das auch an anderer Stelle getan -: Es wäre gut gewesen, wenn Sie dies berücksichtigt und das Parlament frühzeitig eingebunden hätten.
Natürlich sind wir durch eine schriftliche Information einbezogen gewesen; das ist auch in Ordnung. Aber darüber hinaus mussten wir in der Zeitung lesen, dass Sie, Herr Minister, und auch der Parlamentarische Staatssekretär Kossendey sich sehr ausführlich über Details geäußert haben. Das ist immer schlecht; das Parlament sollte sich das - ich finde: zu Recht - nicht gefallen lassen. Wie sollen wir den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, den ich hier nur stellvertretend für unser Engagement im Ausland nenne, den Bürgerinnen und Bürgern erklären, ja, sie davon überzeugen, wenn nicht in jedem Fall versucht wird, uns als Partner zu gewinnen? Ich meine damit keine Komplizenschaft, sondern den Rückhalt, den, glaube ich, jede Bundesregierung in einer solchen Frage braucht. Wie soll eine breite öffentliche Debatte über unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik entstehen, wenn der Informationsstrom und die Überzeugungsarbeit bereits an der Quelle versiegen?
Herr Minister, indem ich - das will ich betonen - den Diskurs verhindere, ernte ich nur kurzfristig eine trügerische Ruhe und keine Ruhe oder Gelassenheit der Akzeptanz für unser Tun. Die Bundeskanzlerin, Sie, Herr Minister, der Bundesaußenminister und andere haben in der Debatte zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in Afghanistan sind, nicht weil wir verhindern wollen, dass die Frauen dort Burka tragen müssen, sondern weil Afghanistan nicht wieder zum Rückzugsort für Terroristen werden soll. Gleichzeitig dient unser Engagement dort der Sicherheit der Menschen unseres Landes. Ich sage auch ganz klar: Diese Wahrheit mit Leben zu füllen, bedarf nicht nur einer jährlichen Bundestagsdebatte über die Verlängerung des Mandats; dies muss immer und immer wieder erklärt werden. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns ehrlich vor Augen hielten: Hier sind wir weniger vorangekommen, als wir es uns wünschen und es notwendig ist, um die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes davon zu überzeugen, dass das, was wir in Afghanistan tun, keine Verschwendung ist, sondern dass wir es auch für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind heute Morgen im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss über die Aspekte, die zu berücksichtigen sind, informiert worden. Ich sage ganz deutlich: Das Bild, das sich uns daraus ergeben hat, lässt aus meiner Sicht immer noch keine voreiligen Schlüsse zu. Vielmehr sollten wir abwarten, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Ich wundere mich schon sehr - auch nach der Information heute Morgen in den Ausschüssen -, über welche Erkenntnisse einige verfügen, die mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt worden ist, und die schon ausmachen können, dass hier gravierende Fehler begangen worden sind.
Unsere Soldaten, die im Raum Kunduz eingesetzt sind, haben einen gefährlichen und schweren Auftrag zu erfüllen. Sie sind tagtäglich mit konkreten Gefährdungen für Leib und Leben der Afghanen, aber auch für sich selbst konfrontiert. Sie müssen zum Teil sehr weitreichende Entscheidungen treffen. Sie haben alles Recht darauf, dass dies bei der Kommentierung und Bewertung berücksichtigt wird. Ich sage ganz deutlich: Wir müssen berücksichtigen, dass da, wo Menschen handeln, Fehler gemacht werden können. Dies liegt letzen Endes in der Natur der Sache. Jeder hat das Recht, vor voreiligen Verurteilungen geschützt zu werden.
Inzwischen ist es wahrscheinlich, dass auch zivile Opfer zu beklagen sind. Die Bilder, die uns am Wochenende aus dem Krankenhaus von Kunduz erreichten, können niemanden gleichmütig lassen. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung zusammen mit unseren Partnern auf die Betroffenen und die Familien der Opfer zugehen wird.
Ich will abschließend sagen: Die Bundeswehr hat mit der Art und Weise ihres Auftretens und Vorgehens stets das Ziel verfolgt, für die Menschen in Afghanistan zu wirken. Sie will nicht als Besatzer auftreten, sondern als Unterstützer für den Wiederaufbau. Vor diesem Hintergrund kommt dem Vorfall am letzten Freitag eine große Bedeutung zu, nicht weil wir von unserer bisherigen Strategie abgewichen wären, sondern weil wir befürchten müssen, dass die vorschnellen Kommentierungen und Einreden letzten Endes auf fruchtbaren Boden fallen und wir dadurch zunehmend unter Druck geraten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir das, was am letzten Freitag passiert ist, mit großer Transparenz aufklären. Wir müssen Afghanistan auf dem Wege zu Stabilität und Sicherheit weiterhin helfen und an unserer nach wie vor richtigen Strategie festhalten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hoffnung dieses Sommers war, dass mit der Präsidentschaftswahl und der Ernennung einer neuen afghanischen Regierung zumindest ein kleiner Fortschritt in Richtung einer weiteren Stabilisierung des Landes gelingen könnte. Stattdessen diskutieren wir heute über Bomben auf zwei Tanklastzüge, durch die möglicherweise auch Zivilisten ums Leben gekommen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen aller Opfer. Ich begrüße, dass vonseiten der Regierung schon angekündigt worden ist, den Gesprächsfaden mit ihnen aufzunehmen.
Es gab in den letzten Wochen und Tagen immer wieder Warnungen vor gezielten Anschlägen gegen die Bundeswehr in Afghanistan im Vorfeld der Bundestagswahl. Deswegen möchte ich darauf hinweisen: Die erschreckend hohe Zahl von Toten zeigt auch die Dimension der Gefährdung, der unsere Soldaten vor Ort in Afghanistan ausgesetzt sind, wenn solche Tanklastzüge als Waffen missbraucht werden. Vor diesem Hintergrund muss man diese Situation betrachten. Deswegen sind wir gut beraten, die genauen Ergebnisse der noch laufenden Untersuchungen abzuwarten, bevor wir eine Bewertung des Vorfalls vornehmen. Das gilt auch für unsere NATO-Partner. Denn wer jetzt versucht, in der NATO Politik auf dem Rücken der Bundeswehr zu machen, der schadet nicht nur dem gemeinsamen Bündnis, sondern gefährdet auch alle, die in Afghanistan nach wie vor im Einsatz sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Engagement in Afghanistan bietet keinen Platz für vorschnelle Verurteilungen und wahltaktisch motivierte Polemiken. Denn eines hat die heutige Debatte gezeigt: Alle, die Kritik geübt haben, haben nicht einen Deut etwas dazu sagen können, wie wir es besser machen und unsere Strategie modifizieren könnten, um schneller zu Ergebnissen zu kommen. Wer meint, er müsse an dieser Debatte sein Mütchen kühlen, der wird nicht nur den deutschen Soldaten in Afghanistan, sondern auch der afghanischen Bevölkerung, die auf die internationale Gemeinschaft vertraut, nicht gerecht. Vor allem wird er der deutschen Öffentlichkeit nicht gerecht, die von uns wissen möchte, wie wir in Afghanistan vorgehen.
Ich begrüße, dass die Bundeskanzlerin heute angekündigt hat, sich für eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz einzusetzen. Wir müssen allerdings darauf hinwirken, dass eine solche Konferenz tatsächlich zu Ergebnissen kommt und eine internationale Strategie verabredet wird, die den Einstieg in den Ausstieg aus diesem Einsatz ermöglicht. Die Frage ist nicht, ob wir unsere Truppen aus Afghanistan abziehen - sie werden dort nicht ewig bleiben -, sondern die Frage ist, wie und wann wir das tun. Wir müssen die Rahmenbedingungen vor Ort so setzen, dass die Bundeswehr keinen Tag länger als unbedingt notwendig in Afghanistan bleibt.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine Reihe von Dingen bereits verwirklichen können. Wir haben von dem hehren Ziel, in Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Vorbild einzuführen, Abstand genommen und gesagt: Wir müssen unser Engagement darauf konzentrieren, die Lage in Afghanistan so zu stabilisieren und die Sicherheitskräfte so auszubilden und auszustatten, dass wir die Verantwortung in Afghanistan in die Hände der Verantwortlichen vor Ort legen können. Dazu ist es notwendig, dass auch die staatlichen Strukturen, Verwaltung und Justiz in Afghanistan auf die Beine kommen; denn von außen allein wird dieser Einsatz nicht gelingen.
An diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich es für notwendig, dass wir in unserer Strategie einen Wechsel vollziehen. Es reicht nicht aus, dass wir in deutschen Legislaturperioden und in den Vorgaben, die wir international vereinbaren, denken. Wir müssen auch den Zeitplan der Afghanen im Blick haben. Wir müssen die Ziele, die wir uns setzen, mit den Beteiligten in Afghanistan, und zwar mit allen Beteiligten, vereinbaren. Ich halte es für notwendig, dass wir der neuen afghanischen Regierung klare und nachprüfbare Vorgaben machen, was sie bis wann erreicht haben muss, um Verwaltung und Justiz zu reformieren sowie um organisierte Kriminalität und den Drogenanbau zu bekämpfen. Das muss eine gemeinsame Aufgabe sein. Wir müssen unseren Partnern in der afghanischen Regierung klar sagen, was wir von ihnen erwarten.
Diese Zielvorgaben müssen wir noch in der laufenden Periode des afghanischen Parlaments bereden, das im Sommer nächsten Jahres neu gewählt werden soll. In der dann beginnenden Legislaturperiode muss das afghanische Parlament die Voraussetzungen schaffen, die wir brauchen, um unsere Ziele in Afghanistan zu erreichen.
Ich sage ein Letztes: Wir müssen die Ziele auch mit Vertretern der Taliban, mit den paschtunischen Stämmen, mit den Gouverneuren vor Ort vereinbaren. Denn wie immer wieder richtig kommentiert worden ist: Jeder Konflikt endet mit Verhandlungen, jeder Konflikt endet dann, wenn es gelingt, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Auch in diese Richtung müssen wir denken. Wir dürfen nicht nur selber Ziele setzen, sondern wir müssen mit den Verantwortlichen auf allen Seiten vereinbaren, welche Ziele in der nächsten Legislaturperiode erreicht werden müssen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass wir uns mit unserem militärischen Engagement schrittweise zurückziehen und auf den zivilen Aufbau des Landes setzen können.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
Zur Situation in Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Frage, vor der wir in den nächsten Monaten und Jahren stehen, heißt: Wird Deutschland es schaffen, nachhaltig gestärkt aus der Krise zu kommen, oder werden andere auf der Welt unseren Platz einnehmen, weil wir es versäumen, die Quellen unseres Wohlstands von Morgen zu finden und zu nutzen? Denn eines ist klar: In dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise werden die Karten auf der Welt neu gemischt. Alle Länder versuchen, ihre Position zu verbessern. Das haben wir bei der Struktur der Konjunkturprogramme erlebt. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Aufstellung, die Aufstellung der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft, finden.
Es sei mir ein kurzer Rückblick gestattet. Gestern haben wir in Bonn des Ereignisses gedacht, dass dort vor 60 Jahren der Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammengetreten ist. Das geschah damals in einem völlig zerstörten Land. Es war nicht sicher, ob die Aufbauarbeit gelingen wird. Sie gelang, Schritt für Schritt, und im Rückblick bezeichnen wir diese Zeit als die Zeit des Wirtschaftswunders.
Ich erinnere auch an den September vor 20 Jahren. In jenem September begannen die Montagsdemonstrationen, und die Flüchtlingsströme in Richtung Westen wurden immer größer. Niemand wusste damals, ob sich die Zukunft zum Besseren wenden würde. Die Freiheit hat gesiegt, und wir sind heute ein einiges Vaterland. Auch der Aufbau der neuen Bundesländer gelang, Schritt für Schritt und manchmal langsamer, als wir dachten; aber es ist geschafft.
Im September vor einem Jahr, vor fast genau zwölf Monaten, führte der Fall der US-Bank Lehman Brothers beinahe zu einem Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems. Diesen Tag und die darauffolgenden Tage hat manch einer mit den Worten ?Wir haben in den Abgrund geblickt? beschrieben. Das ist bildhaft beschrieben, aber es ist richtig.
Seitdem sind wir in der schwersten Wirtschaftskrise, die die Bundesrepublik Deutschland in ihrer 60-jährigen Geschichte erlebt hat. Wir hatten während der Erdölkrise in den 70er-Jahren einmal einen Einbruch des Wirtschaftswachstums auf minus 0,9 Prozent - und sonst immer positive Wachstumsraten. In diesem Jahr werden es minus 5,5 Prozent bis minus 6 Prozent sein.
Aber - das ist die gute Botschaft - wir können immer klarer sehen: Offensichtlich ist die Talsohle erreicht. Das Bankensystem ist vor dem Zusammenbruch bewahrt worden, die sozialen Sicherungssysteme in unserem Lande haben gehalten, die Betriebe leisten Großartiges, und die Politik hat Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch sage ich angesichts dieser Debatte auch mit Blick auf die Zukunft: Es wird noch ein langer Weg sein, bei der Wirtschaftskraft wieder das zu erreichen, was wir vor der Krise bereits erreicht hatten; denn auch 0,3 Prozent Wachstum im letzten Quartal können angesichts eines Einbruchs auf minus 6 Prozent natürlich längst nicht das Ende der Krise bezeichnen.
Wir haben aber auch erlebt: Deutschland ist stark, Deutschland ist stabil. Das ist das Deutschland des Jahres 2009, und das Deutschland des Jahres 2009 ist stärker als das Deutschland des Jahres 2005.
Wir können erst einmal festhalten, dass wir bei der Meisterung dieser Krise viele Antworten auf Fragen gefunden haben, die uns sicherlich zu allen Zeiten beschäftigen, zum Beispiel, ob der Staat in solchen Krisensituationen überhaupt eingreifen und eine aktive Wirtschaftspolitik machen darf oder nicht. Das ist ja viel diskutiert worden. Ich finde, es ist klar: Er darf es nicht nur, er muss es in bestimmten Situationen tun.
Die zweite Frage, die sich immer wieder gestellt hat und die wir immer wieder diskutiert haben, ist die Frage, ob der Staat nicht eigentlich der bessere Unternehmer wäre. Ich sage klar: Er ist es nicht, und er wird es niemals werden. Unternehmen haben ihren eigenständigen Wert.
Ich glaube auch, der Streit, welche Partei sich nun am meisten für den Erhalt von Arbeitsplätzen einsetzt, ist ein Streit, den wir nicht zu führen brauchen; denn alle, die wir hier sitzen, haben ihre Vorstellungen davon, wie man Arbeitsplätze schaffen kann. Der Streit geht um die Frage, wie wir das schaffen und welche Konzepte wir dafür für richtig halten.
Ich finde, es haben sich drei Stärken als Fundament für die Zukunft unseres Landes erwiesen:
Das sind zuallererst die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie haben in dieser Krise zusammengehalten, ob in den Betrieben, bei den Belegschaften, in den Unternehmen, bei den Managern oder auch in den Eigentumsunternehmen und Familienunternehmen. Viele sind jeden Abend mit Sorgen ins Bett gegangen und haben nachts vielleicht nicht schlafen können. Sie haben sich aber immer wieder dafür entschieden, die Beschäftigten zu halten und nicht leichtfertig aufzugeben. Dafür ein herzliches Dankeschön.
Die Betriebsräte haben genauso verantwortlich gehandelt. Man hätte protestieren können. Die unternehmerische Vernunft hat sich durchgesetzt, auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Man hat in vielen Fällen zusammengehalten.
Die zweite Stärke unserer Wirtschaft ist, dass sich der Mittelstand als besonders stabil erwiesen hat. Er hat es nicht einfach, aber er hat sich als das Rückgrat unseres Landes erwiesen. Das, was seit der Schaffung der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard immer unser Credo war, dass nämlich die Wettbewerbsbeschränkung dazu da ist, dass kleine und große Unternehmen des Mittelstandes in einem fairen Wettbewerb miteinander agieren können, hat sich in dieser schwierigen Situation als die Stärke unseres Landes herausgestellt.
Ohne überheblich zu sein, dürfen wir drittens sagen: Auch die politischen Institutionen unseres Landes haben sich als handlungsfähig erwiesen. Bundesregierung, Verwaltung, Bundestag, Bundesrat: Sie alle - ich schließe die Kommunen mit ein - haben ihre Handlungsfähigkeit bei der Umsetzung des Infrastrukturprogramms gezeigt. Wir können stolz auf das sein, was unser Land in den letzten zwölf Monaten geleistet hat.
Am Anfang sind wir viel dafür kritisiert worden - gerade auch international -, wie wir unsere Konjunkturprogramme anlegen. Inzwischen gibt es ein breites Nachahmungsprogramm, ob es die Kurzarbeit, die Umweltprämie für Autos oder alle Versuche der Stabilisierung des Binnenmarktes sind. Die Maßnahmen werden in vielen europäischen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika angewandt.
Unser Programm war also richtig, inklusive des Infrastrukturprogramms für die Kommunen - was die Bauwirtschaft in diesen Tagen auch bestätigt -, und wir sagen: Wir arbeiten für die Zukunft. Wir machen aus dieser Krise eine Chance. Wir machen etwas Positives aus dieser Krise.
Ein Thema, das uns auch in den nächsten Monaten beschäftigen wird, ist die Kreditklemme. Viele Unternehmen haben Angst. Unternehmen, die lange Jahre eine stabile Basis hatten, bekommen heute nur unter sehr schwierigen Bedingungen von den Banken Kredite. Hier kommen viele Effekte zusammen, aber ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal die Banken und Finanzinstitutionen unseres Landes auffordern, ihrer Aufgabe endlich wieder ein Stück mutig und verantwortungsvoll zu entsprechen.
Es war auch richtig, in unserem Konjunkturprogramm ein großes Kredit- und Bürgschaftsprogramm aufzulegen. Wir haben jetzt erste Erfahrungen mit diesem Programm. Ich kann nur sagen: Es hat sich herausgestellt, dass wir selbstverständlich jedes Unternehmen gleich behandeln. Wir behandeln die kleineren und die mittelständischen Unternehmen genauso wie die großen, und wir können von den etwa 4 Milliarden Euro, die im August ausgereicht worden sind, sagen, dass zwei Drittel der Gelder - gemessen an der Zahl der Unternehmen ist es ein viel größerer Anteil; dort sind es über 99 Prozent - von mittelständischen Unternehmen in Anspruch genommen werden und sie die Genehmigung bekommen werden. Jedes Unternehmen hat in unserem Land die gleiche Chance. Alle Unternehmen werden von uns gleich behandelt.
Ich will aber hier keinen Rückblick machen, sondern nur an einem Faktum aufzeigen, dass wir in den letzten vier Jahren vorangekommen sind. Trotz der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir derzeit immerhin noch 1,25 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse als Ende 2005. Das ist ein Erfolg der Großen Koalition. Das stabilisiert unsere sozialen Sicherungssysteme.
Allen Unkenrufen zum Trotz haben sich unsere sozialen Sicherungssysteme als stabil erwiesen. Am Anfang unserer Regierungsarbeit sah es so aus, als hätten wir im Rentensystem eine Lücke von 2 Milliarden bis 3 Milliarden Euro. Durch die verbesserte Beschäftigungslage haben wir im Rentensystem heute Rücklagen von 15 Milliarden Euro. Der Gesundheitsfonds, der so vielfältig kritisiert wird, hat sich als ein ausgesprochener Stabilisator in dieser schwierigen Situation erwiesen. Das wird auch in Zukunft der Fall sein.
- Klatschen Sie lieber, Herr Stiegler, als dass Sie sich aufregen!
Sie sind doch der Meinung, dass der Gesundheitsfonds eine tolle Sache ist. Klatschen Sie! Das wäre doch viel besser.
Meine Damen und Herren, worum geht es in der Zukunft? Ich glaube, wir haben in den letzten Monaten erfahren, dass die soziale Marktwirtschaft als unsere gesellschaftliche Ordnung das richtige Wertefundament für eine zukunftsfähige Wirtschaft ist.
Sie gibt uns die Maßstäbe und Möglichkeiten, auch im Rahmen dieser sozialen Marktwirtschaft Weiterentwicklungen vorzunehmen und auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren.
Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Es war richtig, dass wir uns mit der Vergütung von Managern befasst haben.
- Ich weiß ja, dass Sie weiter gehende Vorstellungen hatten, Herr Poß. Ich kann Ihnen Folgendes sagen - darüber werden wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr einig werden -:
Wenn Sie zum Beispiel die Versteuerung ab einem Verdienst von 1 Million Euro fordern und glauben, damit würden Sie dem Problem gerecht werden,
dann kann ich Ihnen nur sagen, dass man das in Amerika gemacht hat. Das hat zu einer extensiven Verwendung von Boni geführt, über die wir jetzt wieder sprechen, und wir versuchen, sie zu unterbinden.
Das ist doch der Punkt. Das alleine hilft doch nicht. Darin sind wir halt unterschiedlicher Meinung, aber einiges haben wir zustande gebracht.
Wir haben seitens der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen Mindestanforderungen für Boni definiert, die ihresgleichen suchen. Natürlich spüren wir alle, selbst wenn wir in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sind - das ist auch gut so; wenn wir jetzt im Wahlkampf sind, können wir uns unterscheiden -, dass die Frage nach Managervergütungen und Bonuszahlungen etwas mit dem tiefen Empfinden der Menschen für Gerechtigkeit in der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat.
Deshalb sind wir wahrscheinlich gemeinschaftlich der Meinung - hier helfen Ihre Forderungen nicht weiter -, dass zum Bespiel eine Bezahlung von Herrn Eick für sechs Monate Arbeit mit einem Fünfjahresvertrag nicht das ist, was dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen entspricht. Ich bin dabei, zu überlegen, wie zum Beispiel verhindert werden kann, dass man Gehälter für fünf Jahre bekommt, wenn man keine sechs Monate gearbeitet hat. Das halte ich für sinnvoller als eine schärfere Besteuerung von Managergehältern.
Die zweite Lehre ist, dass wir in Zukunft unsere Wirtschaftsweise stärker auf Nachhaltigkeit ausrichten müssen.
Deshalb halte ich es für außerordentlich wichtig - ich will ein Lob für uns alle äußern;
das hat bislang keiner in der Welt nachgemacht -, dass wir, Bund und Länder, die Kraft aufgebracht haben, eine Schuldenbremse für die Zukunft im Grundgesetz zu verankern und uns zu einer nachhaltigen Haushaltsführung zu verpflichten. Ich danke allen, die dabei mitgewirkt haben.
Ich sehe einen dritten Punkt, wenn es um die Zukunft unserer Wirtschaft geht. Wir können stolz darauf sein und uns darüber freuen, dass wir breit aufgestellt sind, dass wir eine breite Industriestruktur haben. In der jetzigen Krise hat sich gezeigt, dass die Länder, die sich einseitig orientieren und keine Vielfalt haben, sehr viel schwerer betroffen sind. Ich sage für die Zukunft: Sollte es einen ernsthaften Streit über Industriegesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft gegeben haben, müssen wir ihn aufgeben. Wir brauchen beide. Beide müssen Säulen unseres zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs sein.
Deshalb ist die Debatte, ob wir weg von der Position müssen, vorne beim Export und sogar Exportweltmeister zu sein, natürlich falsch. Wir müssen alles daran setzen, innovative Produkte zu haben, um den Export als eine der wirklich wichtigen Säulen unserer Wirtschaft zu stärken. Aber richtig ist auch, dass wir gleichzeitig darauf achten müssen, dass sich der Dienstleistungsbereich entwickeln kann. So ist es richtig, darauf zu setzen, dass wir im Maschinenbau und der Feinmechanik stark sind sowie den modernen Fahrzeugbau nach vorne bringen. Deshalb haben wir in unserem Konjunkturprogramm zum Beispiel die Elektromobilität gefördert. Deshalb haben wir, die Bundesregierung, einen Plan bzw. ein Konzept, das weit über diese Legislaturperiode hinausreicht, aufgestellt, aus dem hervorgeht, wie wir die Elektromobilität nach vorne bringen. Wir werden mit den betreffenden Unternehmen sprechen müssen und sie darauf aufmerksam machen, dass sie in einer so wichtigen Frage zusammenarbeiten müssen; denn es nutzt uns nichts, wenn jeder deutsche Automobilproduzent mit einem anderen Anbieter zusammenarbeitet, um die Batterieentwicklung voranzubringen. Wir wollen vielmehr - genauso wie unsere Vorfahren am Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Benzinautos gebaut haben - diejenigen sein, die bei der Elektromobilität vorne dabei sind.
Natürlich ist es richtig, dass wir auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien setzen und die Medizintechnik voranbringen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir vernünftige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Industrie schaffen. Dazu sage ich, wenn ich in die Zukunft schaue: Wir müssen alles verhindern, was zu prozyklischen Effekten bei der Unternehmensbesteuerung führt. Wir haben eine erste Korrektur vorgenommen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht in einigen Monaten noch einmal nachsteuern müssen.
Ich würde das jedenfalls für wichtig halten, weil es die Zukunft unserer Wirtschaft beeinflusst.
Wir haben in dieser Legislaturperiode - das muss weiterentwickelt werden - den Dienstleistungsbereich gestärkt. Wir haben ihn gestärkt, indem wir angefangen haben, den privaten Haushalt zu einem Arbeitgeber zu machen. Das ist eine ganz wichtige Initiative gewesen; denn in einer alternden Gesellschaft, in der wir mehr Dienstleistungen von Menschen für Menschen brauchen, muss der Haushalt als Arbeitgeber gestärkt werden. Dieser Weg ist eingeleitet - wir sind Gott sei Dank darüber hinweg, dass wir über das Dienstmädchenprivileg streiten -, und wir alle wissen: Von der Kinderbetreuung bis hin zu handwerklichen und anderen Dienstleistungen sollten wir den Haushalt stärken, weil er auch Menschen, die keine ganz gute Ausbildung haben, eine Beschäftigungschance bietet und die Arbeit im Haushalt gleichzeitig anderen Menschen dient und diesen Freude macht.
Alles in allem müssen wir vor allen Dingen wieder unsere mittelständische Basis stärken. Hier geht es darum, dass wir eine kluge Steuerpolitik betreiben. Ich glaube, dass es in der jetzigen Zeit nicht richtig ist, ein Signal für Steuererhöhungen zu setzen, weil diese auch mittelständische Unternehmen und selbstständige Personengesellschaften treffen. Die aber brauchen wir, denen dürfen wir keine Knüppel zwischen die Beine schmeißen, sondern wir müssen ihnen sagen: Ihr habt ein Zuhause bei uns, ihr dürft nicht abwandern; denn die Arbeitsplätze sollen bei uns in Deutschland entstehen.
Ich sage ganz eindeutig: Diese Bundesregierung hat mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz für wichtige Weiterentwicklungen gesorgt. Damit werden gerade die Umwelttechnologien und die neuen Energien gefördert. Das ist ein wichtiger Exportbereich. Für uns in Deutschland ist es jetzt von entscheidender Bedeutung, dass es uns gelingt, in Kopenhagen international verbindliche Verpflichtungen für die Zukunft zu vereinbaren, damit wir einen stabilen Exportmarkt haben und gleichzeitig zu einer globalen Verbesserung unserer Klimasituation beitragen. Das ist Wirtschaft und Umwelt zusammen.
- Natürlich will die das. -
- Herr Kelber, Sie können doch erfreut sagen, was wir alles erfolgreich miteinander verabschiedet haben. Es sind tolle Nummern gewesen.
Das wäre doch ohne die CDU/CSU-Fraktion weiß Gott nicht gegangen. - Allerdings sind wir diejenigen, die immer wieder darauf geachtet haben, dass Wirtschaft und Umwelt zusammengehen, weil es nichts nützt, wenn Umweltpolitik Jobs kostet. Umweltpolitik muss Jobs bringen.
Das zentrale Thema, das uns im nächsten Jahrzehnt wesentlich begleiten wird, ist die Bildungspolitik. Ich habe mich außerdem dafür eingesetzt, dass wir die Integrationsaufgabe im Bundeskanzleramt ansiedeln. Das hat sich bewährt. Es ist zu einem Nationalen Integrationsplan von Bund, Ländern und Kommunen gekommen. Da ist noch vieles umzusetzen, und das wird die nächste Legislaturperiode bestimmen. Aber der Ansatz ist richtig. Integration ist eine Schwerpunktaufgabe und muss weiterentwickelt werden.
Bildung ist das zentrale Thema für die Frage des Wohlstands in der Zukunft. Darüber sind wir uns parteiübergreifend einig, wenngleich wir über die Ausgestaltung, wie häufig, unterschiedliche Meinungen haben. Ich bin dafür, dass wir uns für ein gegliedertes Schulsystem entscheiden und dass wir natürlich die Durchlässigkeit fordern, aber gleichzeitig Leistung belohnen und Leistungsanreize setzen, auch schon bei Kindern. Ich halte, mit Verlaub gesagt, nichts davon, dass man wie in Berlin Gymnasialplätze in Zukunft verlosen will. Das scheint mir die falsche Antwort auf die Frage, wie wir vorgehen, zu sein.
Wir kennen die unterschiedlichen Zuständigkeiten, aber wir wissen, dass wir in der Bildungspolitik natürlich zusammenarbeiten müssen. Deshalb habe ich - nicht zur Freude aller Ministerpräsidenten, um es vorsichtig auszudrücken - zu einem Bildungsgipfel zusammen mit der Bundesbildungsministerin und dem Bundesarbeitsminister eingeladen. Wir haben konkrete Vereinbarungen getroffen, die wichtig sind: Halbierung der Zahl der Schulabbrecher, Investition von 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Bildung bis zum Jahr 2015. Wir haben Pakte zur Förderung der Hochschulabsolventen abgeschlossen. Für die Förderung der Forschungseinrichtungen wird es jedes Jahr einen Zuwachs der Mittel von 5 Prozent geben. Da gibt es jetzt ein hohes Maß von Berechenbarkeit für die Zukunft. Wir haben gesagt, die Exzellenzinitiative muss weitergeführt werden, weil wir nur mit exzellenten Forschungs- und Hochschulinstitutionen die Zukunft wirklich gestalten können.
Meine Damen und Herren, ich bin dafür - ich will das ganz klar sagen -, dass wir die Schulpolitik bei den Ländern belassen. Aber ich bin dagegen, dass die Schulpolitik in den Ländern so ausgestaltet wird, dass man in Deutschland nicht umziehen kann. Deshalb war es wichtig, dass die Kultusminister sich auf gleiche Standards geeinigt haben. Außerdem bin ich dagegen, dass wir zulassen, dass Schulabsolventen von den Industrie- und Handelskammern das Zeugnis ausgestellt wird, dass sie nicht ausbildungsfähig sind. So etwas kann sich unser Land nicht leisten. Deshalb war der Bildungsgipfel ein Erfolg und muss gleich in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden.
Auch daran zeigt sich, dass wir unsere Arbeitswelt gerade an der Anerkennung für diejenigen ausrichten müssen, die Bildung - vom Kleinkind bis hin zur Weiterbildung in den Betrieben - vermitteln.
Wenn ich einen kritischen Punkt zu unserem Konjunkturprogramm sagen darf: Die Weiterbildungsmöglichkeiten, die wir in diesem Konjunkturprogramm angeboten haben, wurden von den Unternehmen leider sehr zögerlich angenommen.
Lebenslanges Lernen wird eine Aufgabe sein, die uns in den nächsten Jahren begleitet. Hier müssen wir sehr viel mehr Druck machen. Mit dem Erreichten kann man noch nicht zufrieden sein.
Meine Damen und Herren, wir haben nach innen einiges auf den Weg gebracht. Es zeichnet sich ab, wo die Aufgaben der nächsten Legislaturperiode liegen. Ich bin dafür, dass wir alles tun, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu fördern. Das bedeutet Motivation für jeden. Ich sage: Die Krise ist erst vorbei, wenn wir aus der Talsohle wirklich heraus sind und wieder da sind, wo wir vorher waren. Deshalb brauchen wir auch Motivation für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb gibt es innerhalb der Großen Koalition eine unterschiedliche Auffassung darüber, ob wir gerade bei der kalten Progression, bei der Steuererhöhung durch die Hintertür, für diejenigen, die den Tag über arbeiten, die Überstunden machen, die ein bisschen mehr Gehalt haben, auch dafür Sorge tragen müssen, dass sie zum Schluss wirklich mehr im Portemonnaie und auf dem Konto haben.
Uns ist in dieser Krise bewusst geworden, dass wir als Bundesrepublik Deutschland allein nicht agieren können.
Uns ist bewusst geworden, dass die Europäische Union in dieser Zeit eine ganz wesentliche Bedeutung hat. Wir sollten uns nur einmal vorstellen, was in der Finanzkrise auf uns zugekommen wäre, wenn wir keine gemeinsame Währung wie den Euro gehabt hätten - nicht auszudenken! Aber ich sage auch: Erfolgreich konnte das nur funktionieren, weil wir an bestimmten Grundprinzipien nicht gerüttelt haben. Klar ist: Mit der Union ist nicht zu machen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufzugeben, wie das in einigen Papieren aus Teilen dieses Hauses gefordert wurde.
- Das hat nichts mit Parteitagsrede zu tun, Herr Heil, Sie kennen vielleicht nichts anderes mehr, sondern es hat mit meinen europapolitischen Aktivitäten zu tun.
Ich habe Herrn Trichet versprochen, dass die Europäische Zentralbank unabhängig bleibt, und ich werde mich auch dafür einsetzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht angetastet wird, sondern die Leitlinie für die Zukunft unseres Landes bleiben wird.
Eine abschließende Bemerkung. Wir werden heute noch über den Lissabon-Vertrag beraten. Dieser Lissabon-Vertrag ist eine Bekräftigung unseres europäischen Engagements.
Er bringt Europa näher zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wir hatten dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das besagt, dass das Parlament mehr Mitwirkungsrechte braucht. Dieses Urteil wird heute umgesetzt, und die Bundesregierung hat dabei, sofern sie gefragt war, konstruktiv mitgearbeitet.
Dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil ist in der Europäischen Union mit großem Interesse aufgenommen worden, weil es natürlich die Frage stellt: Wie wird sich Deutschland in der Europäischen Union in Zukunft positionieren? Ich habe zugesagt - ich werde das auch einhalten -, am 17. September, wenn wir uns zur Vorbereitung des G-20-Gipfels treffen, meinen europäischen Kollegen zwei Dinge noch einmal deutlich zu machen:
Erstens. Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind in Deutschland bindend bezüglich der Anwendung von Gesetzen, also auch des Lissabonner Vertrags.
Zweitens. Deutschland wird sein proeuropäisches Engagement beibehalten, und es wird weiter Motor der Europäischen Union sein.
Das sind die beiden Botschaften für den Gipfel.
Eine letzte Bemerkung. Es ist so, dass wir uns in wenigen Tagen zum nächsten G-20-Gipfel treffen werden. Die Finanzminister sind bereits am Wochenende in London zusammengekommen. Es geht darum, dass kein Finanzplatz, keine Institution und kein Produkt in der Krise ungeregelt bleiben. Was wir uns in der Krise vorgenommen haben, muss auch umgesetzt werden. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber es gibt noch einiges zu tun.
Ein Punkt, der mir neben der Frage der Zahlung von Boni besonders am Herzen liegt, ist, dass wir nie wieder in eine Situation geraten dürfen, in der Banken Staaten erpressen können, weil sie so groß sind, dass sie glauben, den Staaten sozusagen die Pistole auf die Brust setzen zu können.
Es wird an internationalen Regeln gearbeitet, was die Eigenkapitalhinterlegung anbelangt, damit Banken das von ihnen eingegangene Risiko selber tragen müssen.
Ich spüre schon wieder, dass die Ersten die verschiedenartigsten Ausreden finden, warum dies nun gerade nicht sein muss und warum Wachstum doch viel schneller zustande kommen könnte, wenn man solche Sicherungen nicht hätte.
Für mich ist die Lehre - die werde ich zusammen mit dem Finanzminister beim G-20-Treffen in Pittsburgh auch ganz deutlich machen -: nicht auf diese Stimmen hören, sondern auf nachhaltiges Wachstum setzen - im Sinne der sozialen Marktwirtschaft, im Sinne der Prinzipien, die Deutschland stark gemacht haben.
Das wird uns in unserer weiteren Arbeit prägen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An dem Beifall nach der Rede der Bundeskanzlerin hat man in diesem Hohen Hause wirklich lehrbuchartig sehen können, wo und in welcher Zerrüttung Zwangsehen enden.
Diese Große Koalition hat nie den Anspruch auf geistige Führung erhoben. Mal hat sich diese Große Koalition zusammengerauft; meistens hat sie sich nur gerauft. Sie wollte politischen Schlaglöchern aus dem Weg gehen. Das Ziel von Ihnen war immer nur, die nächste Kurve zu kriegen. In Wahrheit war diese Große Koalition im besten Fall ein Reparaturbetrieb für tagespolitische Probleme; mehr war sie nicht für unser Land.
Es waren in Wahrheit vier verlorene Jahre. Sie haben Deutschland der Zukunft nicht näher gebracht. Sie haben Krisen verwaltet und vollständig darauf verzichtet, die Zukunft zu gestalten.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier gesagt, Deutschland sei 2009 stärker als 2005. Das ist eine interessante Sichtweise. Sie sind stärker verschuldet als 2005, so stark wie nie zuvor.
Sie haben die Steuern so stark erhöht wie nie zuvor. Wir sind in der Gesundheitspolitik in der Planwirtschaft so stark wie noch nie zuvor. Sie haben mit dieser Regierung Deutschland nicht gestärkt. Es waren vier verlorene Jahre. Sie haben unser Land geschwächt. Sie haben es nicht in Ihrer eigenen Richtung vorangebracht.
Aber auch bei dem Bereich, den Sie hier für sich reklamiert haben, gilt: Sie haben gar nicht mehr den Anspruch erhoben, wirklich perspektivisch Politik für unser Volk anzugehen.
Sie haben als Regierungskoalition gar nicht mehr den Anspruch erhoben, zu sagen, wo unser Land in 10, 15, 20 Jahren stehen soll. Eigentlich befasst sich mittlerweile jede Regierungserklärung und jede Rede, die aus den Reihen der Regierung gehalten wird, nur mit der Tagespolitik.
Aber auch da, wo Sie meinen, Sie hätten besonders gut gewirkt, haben Sie in Wahrheit die meiste Zeit versagt. Ich denke insbesondere an die Bankenaufsicht. Die Bundeskanzlerin hat hier von dieser Stelle aus nach Ausbruch der Finanzkrise in einer Regierungserklärung angekündigt - unter dem Beifall übrigens auch der Fraktion der CDU/CSU -, dass die Bankenaufsicht in Deutschland neu und schlagkräftiger sortiert werden muss, weil die Zersplitterung bei dieser wichtigen Hoheitsaufgabe Lähmung bedeutet. Neun Monate ist diese Bankenkrise in Deutschland mittlerweile alt, und wir haben auch im Deutschen Bundestag die gesamte Zeit darüber diskutiert. Aber bis zur Stunde haben Sie in der Bankenaufsicht nichts zustande gebracht. Wir haben dieselbe verkorkste, zersplitterte Bankenaufsicht wie vor der Krise. Nicht einmal die Krise haben Sie richtig bewältigt und notwendige strukturelle Reformen eingeleitet.
Wir brauchen eine Politik, die die Mittelschicht in unserem Land wieder stärkt. Der Rückgang der Mittelschicht ist aus unserer Sicht die gefährlichste Entwicklung, übrigens nicht nur der letzten vier Jahre, sondern der letzten zehn Jahre. Vor zehn Jahren hatte die Mittelschicht in unserer Gesellschaft einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln. Heute muss man feststellen, dass die Mittelschicht in unserem Land nur noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Das heißt, die Mittelschicht schrumpft. Das ist in Wahrheit die Herausforderung für die Gesellschaftspolitik in unserem Land. Denn wir wollen keine Gesellschaft, die nur noch aus Arm und Reich besteht. Vielmehr brauchen wir eine starke Mittelschicht, die in unserer Gesellschaft gewissermaßen als Klammer dient. Wenn die Mittelschicht schrumpft, dann wachsen Spaltung und Ungerechtigkeit in unserem Land.
Aus diesem Grund brauchen wir einen Neuanfang mit einem fairen Steuersystem in Deutschland.
Nun heißt es, dass eine Politik der fairen Steuern nicht finanzierbar sei. Es heißt, dass die Vorschläge für ein faires Steuersystem, die wir vorgelegt haben, nicht umsetzbar seien. Das bestreite ich mit Nachdruck. Ich lasse mich auch nicht durch die angeblich amtlichen Berechnungen des Bundesfinanzministers bezüglich der Horrorkosten eines fairen Steuersystems irritieren.
Herr Minister Steinbrück, Sie werden ja in dieser Debatte noch reden.
Sie sind der Mann, der so viel Schulden gemacht hat wie kein Finanzminister zuvor.
Sie haben in der gesamten Zeit in Bezug auf die Finanzpolitik immer falsch gelegen. Hören Sie doch wenigstens jetzt auf, den Leuten etwas Falsches vorzumachen! Sie sagen, Sie können kein faires Steuersystem in Deutschland durchsetzen. Dann gehen Sie; wir machen es, wir können es nämlich!
- Das kommt jetzt, Herr Heil. Sie freuen sich doch schon die ganze Zeit darauf.
Ich möchte nur kurz auf Folgendes aufmerksam machen: Ungefähr so viele SPD-Abgeordnete, wie jetzt hier sitzen, wären in Ihrer Fraktion, wenn Sie vor der letzten Bundestagswahl die Leute bezüglich der Mehrwertsteuer nicht betrogen hätten.
Sie haben vor der Wahl überall auf dem Plakat heilige Eide geschworen, Sie würden die Bürger entlasten; eine Mehrwertsteuererhöhung gebe es nicht. Jeder von Ihnen, der hier sitzt, hat in Sachen Mehrwertsteuer die eigenen Wähler belogen, nur um an die Regierung zu kommen. Sie haben in Wahrheit unglaubwürdige Politik gemacht.
Wir brauchen ein faires Steuersystem, das Arbeit und Anstrengung belohnt. Das ist möglich, und es ist auch dringend nötig. Damit müssen wir bei den Familien beginnen, indem wir die Familien entlasten. Nach dem Steuermodell, das Deutschland braucht, wäre eine vierköpfige Familie erst ab 40 000 Euro überhaupt steuerpflichtig. Das ist eine familienfreundliche Politik; das ist sozial.
Dass gewisse Gewerkschaftsfunktionäre mittlerweile dazu aufrufen, ausgerechnet die Partei, nämlich die SPD, zu wählen, die mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte die unsozialste Politik gegen Arbeitnehmer gemacht hat, die man machen konnte, finde ich ganz schön scheinheilig.
Ich habe nicht die Absicht, das in dieser Generaldebatte zu verschweigen.
Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen vier Jahren jedes Jahr Vorschläge gemacht, wie der Staat Geld sparen kann.
Kein einziges Mal sind Sie darauf eingegangen. Stattdessen fangen Sie wieder an - im Augenblick mit einer Schwarz-gelben-Socken-Kampagne -, den Menschen in Deutschland Angst davor zu machen, dass Union und FDP die Mehrheit erlangen und in der nächsten Legislaturperiode an die Regierung kommen.
Dazu möchte ich Ihnen zunächst einmal sagen, dass es in Deutschland natürlich längst ganz anders läuft, als Sie glauben. Nach den letzten Landtagswahlen werden mit Sachsen die sechs größten Bundesländer von Union und FDP regiert. Das heißt, von etwas mehr als 80 Millionen Deutschen leben drei Viertel, nämlich 60 Millionen, mittlerweile in Ländern, die schwarz-gelbe Regierungen haben. In diesen Ländern kann jeder erkennen, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Das werden wir auch auf Bundesebene durchsetzen.
Lassen Sie bitte Ihre seltsamen Entgleisungen sein, mit denen Sie in unsere Richtung zielen! Da sind zunächst einmal die Plakate, die Sie vor der letzten nationalen Wahl, der Europawahl, gedruckt haben; wir haben sie alle gesehen. Es ist schon eine Kunst - dafür haben Sie bei der Wahl die entsprechende Quittung kassiert -, dass die SPD auf jedem dritten Plakat vor den Haien der FDP gewarnt hat. Das ist deswegen drollig, weil Sie wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Aber auch für uns liegt darin eine gewisse Ironie: Sie haben mehr Plakate gegen die FDP geklebt, als wir Plakate für uns kleben konnten.
Das ist bemerkenswert, weil es nach hinten losgegangen ist.
Jetzt haben Sie sich etwas Neues ausgedacht. Weil ich in der letzten Woche eine, wie ich finde, Selbstverständlichkeit ausgesprochen habe, nämlich dass der Sozialstaat für die Bedürftigen und nicht für die Findigen da ist, höre ich beispielsweise von Ihrer Vizechefin, Frau Nahles:
Selten wurde in solcher Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass liberale Politik zulasten der Schwächsten geht.
Ich möchte Ihnen einen Auszug aus einem bemerkenswerten Interview vortragen, das Gerhard Schröder, der immer noch der SPD angehört, einmal gegeben hat. Er hat als Bundeskanzler fast wörtlich das gesagt, wofür Sie mich jetzt im Augenblick kritisieren. Er hat nämlich gesagt: Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft. - Ich habe das fast wortgleich gesagt.
Es ist richtig: Früher hätte sich jeder anständige Sozialdemokrat hinter den anständigen, fleißigen Leuten versammelt und genau dasselbe gesagt. So weit sind Sie heute mit Ihrer linken Gehirnwäsche gekommen.
Arbeit muss sich wieder lohnen. Deswegen war es falsch, dass die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und insbesondere dieser Koalition in Wahrheit nur noch auf die ganz Großen und auf die ganz Kleinen gesetzt hat.
Tatsächlich war es die Haushaltsvorlage mit Rekordverschuldung, warum wir diese Debatte heute angesetzt haben. Ich möchte darauf eingehen, weil es wichtig ist, darüber zu reden, wofür das Geld der Deutschen ausgegeben worden ist.
- Es mag ja sein, dass Sie es mit Ihrem Einfluss schaffen, zu verhindern, dass die Opposition Sie in den wichtigsten Fernsehsendungen stellen kann.
Hier müssen Sie es aber ertragen, zu hören, was wir zu sagen haben.
Ich will darauf eingehen, wofür das Geld der Bürgerinnen und Bürger in Wahrheit ausgegeben worden ist. Da ist beispielsweise die Abwrackprämie, die jetzt ausläuft. 5 Milliarden Euro haben Sie sozusagen über Nacht für die Abwrackprämie gefunden. Das heißt, für alte Autos hatten wir in Deutschland mal eben 5 Milliarden Euro übrig. Gleichzeitig sagen Sie: Bei Bildung und Ausbildung geht es leider nicht; dafür haben wir zu wenig Geld in den Staatskassen.
Jetzt, wo die Abwrackprämie ausgelaufen ist, weiß jeder, was passiert. Wir wissen nämlich genau, dass die Menschen, die dieses Jahr ein Auto gekauft haben, dies im nächsten Jahr nicht noch einmal tun werden, weil es dieses Jahr so schön war. Das kostet natürlich Arbeitsplätze. Aber dieser Abbau findet nach der Bundestagswahl statt. Darum kann sich ja dann die nächste Bundesregierung, also wir, kümmern.
Diese Art und Weise halte ich für völlig inakzeptabel. Die Reparaturwerkstätten und der Gebrauchtwagenhandel leiden darunter und sind zum Teil pleitegegangen. Sie haben nicht auf die Mittelständler geschaut, die aufgrund der Abwrackprämie pleitegegangen sind. Eine Regierung, die mal eben 5 Milliarden Euro für alte Autos übrig hat, soll nie wieder sagen, für faire Steuern und für bessere Bildung sei in Deutschland kein Geld vorhanden. Wir zeigen Ihnen, dass es besser geht.
Wenn es eine Sache gibt - außer dass die Mittelschicht geschrumpft ist, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die Schulden immer höher werden, und dass von Ihnen immer höhere Steuern durchgesetzt worden sind; ich erinnere an den Wortbruch -,
die unser Land in wirklich große Schwierigkeiten bringt, dann ist es insbesondere die Tatsache, dass Bildung als Bürgerrecht in Deutschland immer mehr infrage gestellt wird.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel - ich rechne das einmal um, weil ein entsprechender Zuruf gemacht wurde -: Die Mittel für die Abwrackprämie betrugen 5 Milliarden Euro. Mit diesen Mitteln könnte man ein perfektes Stipendienprogramm für Studenten elternunabhängig 25 Jahre lang zahlen.
Das Geld gehört in helle Köpfe
und nicht in alte Autos. Sie verstehen es nicht.
Im Zusammenhang mit der Bildung müssen wir festhalten, dass uns die OECD in diesem Jahr bescheinigt hat, dass in keinem vergleichbaren entwickelten Land der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen eines Kindes so unerfreulich ist wie hier in Deutschland.
Sie können nicht so tun, als seien daran andere schuld. Sie meinen immer, für Krisen und Missstände sei die Opposition verantwortlich. Ich darf darauf aufmerksam machen: Sie regieren seit elf Jahren -
erst mit dem Finanzminister Lafontaine, dann mit dem Finanzminister Eichel und jetzt mit dem Finanzminister Steinbrück. Für die Prioritätensetzung, die in der Finanzpolitik falsch gelaufen ist, können Sie nicht die Opposition verantwortlich machen. Dafür sind Sie verantwortlich. Sie hatten die Macht. Sie haben nichts gemacht.
Ich kann der Koalition insgesamt einen Vorwurf nicht ersparen.
Sie sagen, es gebe eine zersplitterte Bildungslandschaft. Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, eine Familie müsse auch umziehen können. Da haben Sie recht; das alles ist richtig. Ich bin übrigens ein Anhänger dafür, dass es eine Kultus- bzw. Bildungshoheit der Länder gibt.
- Das ist für mich überhaupt keine Frage. - Nur, eines möchte ich festhalten: Sie sagen, es werde den Menschen wegen der Bildungsunterschiede in Deutschland unmöglich gemacht, umzuziehen, und verschweigen dabei, dass Sie den Bereich Bildung mit Ihrer katastrophalen Föderalismusreform vermasselt haben.
Die Föderalismusreform hat doch die Zersplitterung der Bildungslandschaft befördert. Dafür tragen Sie gemeinsam die Verantwortung.
Meine Damen und Herren, es ist so, dass wir nicht nur beim Thema ?Leistungsbereitschaft, Leistungsgerechtigkeit, soziale Verantwortung? und beim Thema Bildung in unserem Land nicht wirklich vorangekommen wären. Es ist auch notwendig, dass wir in dieser letzten Debatte, in der wir über diese vier Jahre der Großen Koalition Bilanz ziehen, über ein Kernanliegen, das gerade von der Bundeskanzlerin wieder verteidigt worden ist - die Gesundheitsreform -, reden. Diese Gesundheitsreform, die Sie in Kraft gesetzt haben, und der Gesundheitsfonds machen alles teurer, und nichts wird besser.
Sie wissen das auch. Beitragserhöhungen waren die Folge. Im nächsten Jahr sollen - so ist die Finanzplanung der Regierung - allein 12 Milliarden Euro an Steuergeldern in das bürokratische Monstrum Gesundheitsfonds gesteckt werden.
Ich will hier in aller Ruhe und in großer Klarheit sagen - auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Union -: Diese Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt wird in einer Koalition aus Union und FDP beendet, weil sie zulasten der Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland geht. Ich sage das, damit das klar ist.
Ich freue mich - Herr Ramsauer, Sie werden es sicherlich gleich Herrn Seehofer erzählen -, dass ich in ihm einen kräftigen Verbündeten haben werde.
Oder hat Herr Söder das, was er dazu gesagt hat, nicht in Abstimmung mit seiner Partei gesagt?
Meine Damen und Herren, es ist dringend notwendig, dass wir in dieser Richtung vorankommen. Wir haben in diesem Hause in den Generaldebatten über einen Bereich, der meines Erachtens durch eine erhebliche Verschlechterung gekennzeichnet ist, selten diskutiert. Ich will es trotzdem tun. Ich sprach eben von Bildung als Bürgerrecht. Das Thema, wie mit den Bürgerrechten insgesamt in den letzten Jahren umgegangen worden ist, müsste uns hier beschäftigen. Unter Rot-Grün mit Herrn Schily hat es begonnen; unter Schwarz-Rot mit Herrn Schäuble wurde es fortgesetzt: Es hat noch nie so wenig Respekt seitens der Mehrheit gegenüber den Bürgerrechten gegeben. Noch nie wurden Entscheidungen einer Regierung vom Verfassungsgericht in Karlsruhe so oft kassiert. Das muss hier erwähnt werden.
Wir halten es für einen wirklichen Fehler, dass man diese Politik weiter fortsetzt. Bürgerrechte sind die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Wir setzen darauf, dass sie stärker geschützt und respektiert werden. Gläserner Patient, gläserner Bankkunde, gläserner Steuerzahler, gläserner Autofahrer, Aufhebung des Bankgeheimnisses usw. usf. - eine solche Politik darf es nicht länger geben.
Wie oft hört man von den Konservativen: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.
- Sie rufen: Richtig! Das ist Obrigkeitsdenken.
Jeder selbstbewusste Bürger in dieser Gesellschaft muss sagen: Weil ich nichts zu verbergen habe, verbitte ich es mir, vom Staat wie ein gemeiner Krimineller unter Generalverdacht gestellt und permanent überwacht zu werden. Das müsste in diesem Land unser Anspruch sein. Wir sind die Volksvertreter und damit auch diejenigen, die Bürgerrechte schützen sollen.
In der Energie- und Umweltpolitik ging es in Wahrheit nicht um einen rationalen Energiemix, sondern es herrschte Irrationalität. Zwar hat der Umweltminister Knut aus dem Berliner Zoo adoptiert, aber das war wohl das Einzige, das in Erinnerung bleibt.
Eine solche Umweltpolitik ist mit Abstand zu wenig. Das ist in Wahrheit nur Kulisse. Eine vernünftige Umweltpolitik will das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Aber sie weiß auch, dass wir in dieses Zeitalter Brücken brauchen.
Es macht keinen Sinn, dass wir in Deutschland die modernsten Energieanlagen der Welt abschalten, um am Tag danach den Strom aus sehr viel unsichereren Kraftwerken, vorzugsweise aus dem Ausland, einzukaufen.
Deswegen brauchen wir eine neue, vernünftige, rationale Energiepolitik mit einem rationalen Energiemix.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist in solchen Generaldebatten üblich, Klartext zu reden. Wir haben eine solche Debatte nicht angesetzt, damit Sie in der Großen Koalition eine Bühne bekommen, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen: Nicht wahr, Frank-Walter, es war nicht alles schlecht! - Nein, da hast du recht, Angela.
Das ist keine vernünftige Auseinandersetzung in einer parlamentarischen Demokratie. Ich werde mir das Duell am Sonntagabend anschauen.
- Ja, damit habt ihr wenigstens einen Zuschauer. Es ist überhaupt keine Frage, dass ich mir das anschaue.
In Wahrheit geht es um etwas anderes: Es geht um unser Land. Unser Land braucht eine Politik, die an die Zukunft denkt und nicht nur in der Krise stecken bleibt. Wir brauchen eine Politik der klaren Verhältnisse: Raus aus der Großen Koalition, aber nicht rein in eine Linksregierung! Wir brauchen eine klare bürgerliche Mehrheit der Mitte. Dafür stehen wir.
Ich danke sehr für Ihre freundliche Aufmerksamkeit, liebe Genossinnen und Genossen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In 19 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt.
Auch wenn manche im Augenblick statt von der Wahl lieber vom Wetter reden, Herr Koppelin: Den Menschen ist klar - seien Sie gewiss -, dass wir vor schwierigen Jahren stehen, Jahren, die unser Land prägen und verändern werden, entweder zum Besseren oder zum Schlechteren. Es geht darum, ob wir bereit und in der Lage sind, die richtigen Lehren aus den Krisen zu ziehen, ob wir in der Lage sind, die soziale Balance in diesem Lande zu behalten, und ob wir uns auf den Weg hin zu einem wirklich nachhaltigen Wachstumsmodell machen.
Ich bin sicher, die Menschen werden ganz genau hinschauen, Herr Westerwelle, wer die richtigen Antworten auf die Fragen der Vergangenheit hat und wer eine klare Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll. Wer sich den notwendigen Lehren aus der Krise verweigert, der wird nicht mit seiner Politik scheitern, sondern der wird schon bei den Wahlen scheitern; das garantiere ich Ihnen.
Wir haben in den letzten Monaten auch Glück gehabt; das ist wahr. Aber dass die Krise die Menschen in Deutschland nicht mit aller Wucht getroffen hat, das alles ist doch nicht vom Himmel gefallen. Wir haben in Deutschland Brücken gebaut, die bisher einigermaßen getragen haben. Das ist doch nichts anderes, Herr Westerwelle, als das Ergebnis von Politik.
Trotz des Wahlkampfs sage ich: Das ist ein gemeinsamer Erfolg aller Beteiligten. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, während der letzten Rede im Deutschen Bundestag in dieser Legislaturperiode allen Abgeordneten, gleich welcher Partei, zu danken. Ich weiß, dass wir über vieles gestritten haben; auf einzelne Instrumente werde ich gleich eingehen. Ich weiß, dass wir in Ausschüssen und im Plenum gestritten haben, dass wir nach Kompromissen gesucht haben. Am Ende haben wir aber - auch das ist die Wahrheit - unter unglaublichem Zeitdruck im September und im Oktober vergangenen Jahres Entscheidungen gefällt, von denen ich überzeugt bin, dass sie den allermeisten Menschen in Deutschland auch weitergeholfen haben. Ich danke Ihnen dafür, dass das gelungen ist.
Ich darf noch einmal an die Diskussionen über den weit gespannten Rettungsschirm für die Banken erinnern, die wir zu Recht geführt haben. Der Rettungsschirm hat immerhin verhindert, dass es bei uns zu einem Zusammenbruch größerer Institute gekommen ist. Ich darf an den Streit erinnern, den wir darüber geführt haben, ob es ein Konjunkturprogramm geben soll und, wenn ja, in welchem Umfang. Wir haben das miteinander entschieden. Ich darf daran erinnern, dass wir für ein Investitionsprogramm für Städte und Gemeinden gekämpft haben. In all Ihren Orten zu Hause sind in den Sommerferien Schulen und Kindergärten saniert worden.
Ich stehe auch, Herr Westerwelle, für die Umweltprämie. Das sage ich Ihnen ganz offen. Es ist nämlich kein guter Ratschlag, den Menschen zu sagen: Wir haben noch schwierige Monate und Jahre vor uns, deshalb wäre es gut gewesen, die 250 000 Arbeitsplätze sofort preiszugeben. Das ist doch kein Ratschlag für eine Regierung und für ein Parlament: ?auf besseres Wachstum hoffen?.
Ich erwähne ausdrücklich die Diskussion um das Kurzarbeitergeld. Wir haben auf Vorschlag von Olaf Scholz hin nicht nur die Bezugsdauer verlängert, sondern wir haben es vor allen Dingen attraktiver gemacht. Zehntausende Unternehmen in Deutschland nutzen die Möglichkeit der Kurzarbeit.
All das zusammen genommen - ich will kein einzelnes Instrument zu weit hervorheben -, stelle ich fest: Dieser Mix von Instrumenten war es, der am Ende dazu geführt hat, dass bei uns nicht wie in Spanien die Arbeitslosigkeit von 8 auf 18 Prozent gestiegen ist. Vielmehr haben wir den Anstieg von 7 auf 8 Prozent begrenzen können, Herr Westerwelle. Dass uns das gelungen ist, ist das Ergebnis von Politik, und zwar, wie ich finde, richtiger Politik.
Es kann ja sein, dass wir in einzelnen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Das wird und muss auch so bleiben; denn das - Sie haben Recht - gehört zu einer parlamentarischen Demokratie. Aber was wichtiger ist - das muss man am letzten Sitzungstag der Legislaturperiode dieses Deutschen Bundestags vielleicht einmal festhalten -: Die politischen Institutionen in Deutschland - das ist nicht selbstverständlich - haben sich in der Krise bewährt. Deshalb darf ich mitten im Wahlkampf und trotz Ihrer Rede allen, die jetzt ausscheiden und daran in Zukunft nicht mehr mitwirken können, einen herzlichen Dank aussprechen.
Ich möchte besonders einen Kollegen hervorheben. Lieber Peter Struck, du warst so etwas wie der Hausmeier der Großen Koalition. Du warst derjenige, der immer gesagt hat: Die beiden großen Volksparteien haben 2005 keinen Wahlkampf für eine Große Koalition geführt, aber es war eben das Ergebnis des Wählervotums. Mit Blick auf die vergangenen vier Jahre sage ich im Unterschied zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wir haben das Beste daraus gemacht. Dass die Bilanz der Großen Koalition, dass die Bilanz dieser Regierung eine sozialdemokratische Handschrift trägt,
ist ganz wesentlich das Verdienst von Peter Struck. Deshalb dir, lieber Peter, ganz herzlichen Dank.
Ich bleibe dabei: Unser politisches System hat sich in der wirtschaftlichen Krise bewährt. Eines ist mir und den meisten von Ihnen, denke ich, aber auch klar: Das Vertrauenskapital, das wir uns in den letzten Monaten - davon bin ich überzeugt - erarbeitet haben, darf jetzt nicht leichtfertig verspielt werden.
Ich bin davon überzeugt, dass es weltweit eine Rückkehr der Politik geben wird. Der Glaube an die ungehemmten Marktkräfte ist erschüttert. Nur einige Großbanken - das gilt auch für Deutschland - glauben noch an die Selbstreinigungskräfte des Bankensektors und an erzielbare Renditen von über 25 Prozent. Und weil das so ist, muss die Politik gerade jetzt am Ball bleiben. Gerade jetzt brauchen wir eine mutige Politik, eine Politik mit Kompass und Richtung. Wer, wie mancher hier im Hause, Herr Westerwelle, bei dem Begriff Sozialstaat in erster Linie an bezahlte Faulheit denkt, der hat diesen Kompass eben nicht.
Wer in einer solchen Situation, in der den meisten in Deutschland klar ist, was in den nächsten Monaten und Jahren auf uns zukommen wird, massive Steuersenkungen verspricht, täuscht die Wähler über das hinweg, was in diesem Land wirklich möglich ist. Und auch das kostet Vertrauen in Demokratie.
Eines darf ich Ihnen hier im Saal und darüber hinaus versichern: Mit meiner Partei, mit der SPD, wird es keinen Abbau des Sozialstaates geben. Mit der SPD bleibt es bei einem handlungsfähigen Staat.
Damit kein Missverständnis über das Staatsverständnis der SPD aufkommt: Wenn ich von einem handlungsfähigen Staat spreche, dann meine ich nie einen Staat, der die Bürger von morgens bis abends bevormundet, sondern dann rede ich von einem Staat, der in der Lage ist, Beistand zu leisten. Und wie notwendig das ist, sehen wir doch gerade jetzt, in der Krise.
Ich bin fest davon überzeugt - das entspricht nicht dem Programm der FDP -, dass wir vor Jahren stehen, in denen der Rückzug des Staates nicht mehr auf dem Programm stehen wird. Ganz im Gegenteil: Was wir brauchen, ist nicht ein Rückzug des Staates, sondern die Rückkehr von Politik.
Deshalb sage ich: Die Jahre, die vor uns liegen, werden entweder mutige Jahre der Gestaltung, oder es werden verlorene Jahre sein, Herr Westerwelle. Die letzten waren es nicht, meine Damen und Herren.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir das wirklich wollen, wenn wir die Kraft haben, wenn wir den Mut haben und wirklich einsteigen, den internationalen Finanzmärkten neue Regeln geben können. Sie erinnern sich: Peer Steinbrück und ich haben Anfang des Jahres Vorschläge dazu gemacht. Wir haben das, was wir für notwendig halten, auch auf den Tisch dieses Hauses gelegt. Peer, dir einen ausdrücklichen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz. Lass dich bitte nicht unterkriegen, nicht in Pittsburgh, nicht in Brüssel und erst recht nicht zu Hause.
Wir können die Weichen in der Wirtschaft anders stellen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie anders stellen müssen: weg vom schnellen Geld, weg von einer Politik der Ausplünderung von Unternehmen und hin zu mehr Nachhaltigkeit. Wir können durch eine vernünftige Integrations- und Bildungspolitik erreichen, dass es in diesem Lande gut ausgebildete Menschen, die wir für die Arbeitsplätze von morgen brauchen, gibt. Darauf kommt es an und nicht auf eine vage Rückkehr in die alte Welt. Was ist das überhaupt, die alte Welt, in die manche zurückwollen? Das Deutschland Adenauers? Das Deutschland Erhards? Das Deutschland Helmut Kohls? Ich sage nur: Wenn man sich manches kleinkarierte Gezänk anhört, das im Augenblick zwischen der FDP und einzelnen Vertretern der CSU stattfindet, dann fühlt man sich jedenfalls atmosphärisch - so habe ich das in Erinnerung - in die letzten Kohl-Jahre zurückversetzt.
Ich habe - im Unterschied zu vielen anderen - gesagt, wie ich mir den Weg in die Zukunft dieses Landes vorstelle. Ich habe das Konzept dazu öffentlich zur Diskussion gestellt. Ich habe dargestellt, wo wir ansetzen müssen, um Arbeit, Arbeitsplätze und Wohlstand von morgen zu schaffen.
Es geht um Energie- und Ressourceneffizienz. Wir sind inmitten einer großen, einer gewaltigen technologischen Umwälzung. Stichwort Effizienzrevolution: Niemand in der Welt ist besser aufgestellt als wir in Deutschland mit leistungsfähigen Großunternehmen, mit einem innovativen Mittelstand, mit hervorragenden Ingenieuren und Facharbeitern. Ich sage Ihnen: Wenn uns das gelingt, wenn wir den Mut und die Kraft haben, die Weichen jetzt richtig zu stellen, dann können wir Ausrüster der Welt von morgen sein. Ich füge hinzu: Wir müssen Ausrüster der Welt sein, wenn wir Arbeitsplätze und Menschen mit der dafür erforderlichen Qualifikation in ausreichender Zahl bei uns halten wollen.
Ich freue mich, dass über diese Vorschläge eine öffentliche Diskussion entstanden ist. Entgegen mancher Erwartung ärgere ich mich nicht; denn Kritik gab es nicht aus der Fachwelt, nicht aus der Wirtschaft, sondern allenfalls von der politischen Konkurrenz. Einige haben mir vorgehalten, das Ziel Vollbeschäftigung sei unredlich. Ich sage: Ich werde mich niemals mit Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande abfinden.
Noch viel wichtiger ist mir aufgrund meiner Erfahrung in der Politik: Wer sich keine anspruchsvollen, keine hohen Ziele setzt, wird immer hinter seinen Möglichkeiten bleiben. Deshalb sage ich: Nur wer die Dinge zusammen sieht, nur wer sieht, wie Bildung, Forschung, Arbeitsmarkt, Integration und Gleichstellung zusammenwirken und ineinandergreifen, wird in der Lage sein, in diesem Lande die Weichen richtig zu stellen. Wir sind es.
Ich nenne nur ganz kurz ein Beispiel zur Energiepolitik: Ich finde es richtig, dass wir uns im letzten Jahr aufgemacht haben, Vorreiter bei der Klimapolitik zu sein. Aber es geht nicht an, dass wir auf der einen Seite international Musterschüler sind und auf der anderen Seite im Wahljahr hier bei uns zu Hause Energiepolitik von gestern machen.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Wer jetzt ein Zurück zur Kernenergie proklamiert, der dreht die Energiewende zurück,
der wird dafür sorgen, dass wir den Vorsprung, den wir im Augenblick bei der neuen Energietechnologie haben, sehr schnell wieder einbüßen. Er wird vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze, die wir in diesem Bereich so dringend brauchen, in Zukunft nicht mehr entstehen.
Eine letzte Bemerkung mit Blick auf den vergangenen Samstag: Wer den Atomkonsens von 2000 infrage stellt, reißt einen alten gesellschaftlichen Großkonflikt in diesem Lande wieder auf. Frau Merkel, Sie kennen das noch aus den 90er-Jahren: volle Zwischenlager, verstrahlte Castoren und kein Ausweg in der Energiepolitik. Das ist jedenfalls nicht die Energiepolitik, die unser Land braucht. Deshalb sage ich mit Sigmar Gabriels Worten: Es muss beim Ausstieg aus der Atomenergie bleiben.
Wenn ich von Weichenstellungen rede, dann geht es um Arbeit und Umwelt, aber auch um Löhne und Gehälter. Es muss in diesem Hause doch ein gemeinsamer Grundsatz sein, dass Menschen, die arbeiten, von ihrem Lohn auch vernünftig leben können müssen.
Das ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern - das ist mir mindestens genauso wichtig; das sage ich mit großer Ernsthaftigkeit - das ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Denn unser deutsches Wirtschaftsmodell wird nur dann nachhaltig sein, wenn wir einen starken Export haben; dafür arbeite ich. Wir dürfen uns aber nicht nur auf den Export stützen, sondern müssen gleichzeitig auch für eine starke Binnennachfrage sorgen. Anders funktioniert das nicht. Das ist nicht nur ein sozialdemokratischer Wachstumstraum, sondern das, worüber ich rede, ist auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Deshalb brauchen wir in unserem Land anständige Löhne, meine Damen und Herren.
Wer anständige Löhne will, der muss auch den zweiten Schritt tun und sagen: Da Löhne Angelegenheiten der Tarifvertragsparteien sind, brauchen wir auch starke Gewerkschaften, die darüber verhandeln. Wie Sie wissen, bin ich viel unterwegs, und ich weiß, dass dieser Ratschlag nicht überall angenommen wird. Wir alle waren vor kurzem in Thüringen unterwegs, in einem Land, in dem gerade noch 20 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden sind. Durch solche Entwicklungen wird eine Spirale nach unten in Gang gesetzt. All das hat schon stattgefunden. Aber ich frage Sie: Wie soll denn jemand, der mit 3,75 Euro pro Stunde abgespeist wird, bei der Arbeit Einsatz zeigen? Das ist nicht nur in Thüringen, aber auch dort ein Thema. Deshalb brauchen wir flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne.
- Wir sind in dieser Frage ein Stück vorangekommen, aber nicht weit genug. Ich kämpfe vor allen Dingen dafür, dass das, was wir erreicht haben, nicht rückabgewickelt wird. Darum geht es.
Die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts - das sage ich nicht einfach nur so daher - wird das Thema Bildung sein. Sie werden bestimmt sagen: Das sagt jeder. Das ist wahr, das sagen alle. Bildung ist die Schlüsselaufgabe, der wir uns stellen müssen. Gelingt es uns, in diesem Bereich Fortschritte zu machen, wird uns auch das nächste Jahrzehnt gelingen, mit ordentlichem Wachstum und zum Vorteil unserer Gesellschaft. Wenn wir aber nichts tun, wenn wir die Weichen falsch oder gar nicht stellen, dann haben wir im nächsten Jahrzehnt beides: auf der einen Seite einen Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren und auf der anderen Seite trotzdem eine hohe Arbeitslosigkeit. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Deshalb müssen wir die Weichen beim Thema Bildung richtig stellen.
An dieser Stelle widerspricht noch keiner. Aber die meisten werden unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Konsequenzen das hat. Ich sage: Bildung kostet Geld, und wir dürfen uns in den nächsten Jahren nicht künstlich arm machen. Wer es mit der Bildung ernst meint, der muss auch bereit sein, dafür Geld auszugeben. Dafür muss aber auch Geld eingenommen werden.
Ich weiß, dass es im Wahlkampf nicht ganz einfach ist, Vorschläge zu machen, woher das dafür benötigte Geld kommen soll; auch wir haben intern lange über diese Frage diskutiert. Wir sind allerdings der Meinung: Wenn wir beim Thema Bildung ernst genommen werden wollen, dann müssen wir auch sagen, woher das Geld kommen soll. Ich habe die Einführung eines zweiprozentigen Aufschlags auf den Spitzensteuersatz, den Bildungssoli, vorgeschlagen. Das wäre verträglich. Ich habe mit vielen Wirtschaftsvertretern Gespräche geführt. Man hat mir gesagt: Wenn ihr wirklich sicherstellen könnt, dass das Geld, das dadurch reinkommt, für die Bildung verwandt wird, dann bin ich bereit, das zu zahlen. - Ich sage: Wenn wir das machen, dann geht jeder Cent davon in die Bildungspolitik, dahin, wo er dringend gebraucht wird.
Nun geht diese Legislaturperiode zu Ende, und Gesetze werden nicht mehr gemacht.
Dennoch tragen wir noch ein paar Tage gemeinsam die Regierungsverantwortung. Frau Merkel, Sie werden zusammen mit Peer Steinbrück die Bundesregierung auf dem G-20-Gipfel vertreten. Sie haben erklärt, dass Sie sich für strenge Regeln für die internationalen Finanzmärkte einsetzen wollen. Ich versichere Ihnen: Meine und unsere Unterstützung haben Sie dabei.
Glaubwürdig wird die deutsche Öffentlichkeit diese Position aber nur dann finden, wenn wir das, was wir international fordern, auch zu Hause tun.
Unser Oberlateiner kommt gleich noch. Hic Rhodus, hic salta, würde er wahrscheinlich sagen. Aber ich muss anfügen, dass es mit der CDU/CSU leider über viele Monate hinweg nicht möglich war, die steuerliche Absetzbarkeit von Abfindungen, die sich nicht nur auf die festen, sondern auch auf die variablen Bestandteile von Gehältern beziehen, einzuschränken.
Es war auch nicht möglich, den Boni-Wahnsinn ernsthaft zu begrenzen. Wir hatten vorgeschlagen, den festen und den flexiblen Gehaltsbestandteil in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Das ist uns leider nicht gelungen. So bleibt es eine Aufgabe für die kommenden internationalen Verabredungen. Peer Steinbrück wird in Pittsburgh dafür kämpfen. Ich möchte Sie, Frau Bundeskanzlerin, bitten, ihn darin mit Nachdruck zu unterstützen.
19 Tage sind es noch bis zur Bundestagswahl. Ich bin so gespannt wie Sie alle. Sie wissen, dass wir bis zum letzten Tag gespannt bleiben werden, weil sich die Menschen offenbar immer später entscheiden und weil man in einem Parlament mit vermutlich sechs Parteien immer schlechter voraussagen kann, in welchen Konstellationen und Koalitionen es nach der Wahl weitergeht, welches Bündnis regieren wird. Deutschland braucht jedenfalls - darum geht es mir nur - in den nächsten vier Jahren eine Regierung, die von dem Willen, zu gestalten, beseelt ist;
eine Regierung, die mit aller Kraft die Arbeitslosigkeit bekämpft; eine Regierung, die Arbeit zu fairen Bedingungen und anständigen Löhnen organisiert; eine Regierung, die mehr Geld in Zukunftsbranchen, in Forschung und Bildung steckt; eine Regierung, unter der alle Kinder faire Chancen bekommen; eine Regierung, die Solidarität und soziale Sicherheit nicht zur Disposition stellt. Das ist das Regierungsbündnis, für das ich kämpfe und für das ich mir am 27. September eine Mehrheit wünsche.
Ich wünsche meinem Land, dass ihm eine andere Regierung erspart bleibt, eine Regierung nämlich, die sich mit weniger zufriedengibt; eine Regierung, die den Staat arm macht; eine Regierung, die das Gesundheitswesen lieber privatisieren als stabilisieren will; eine Regierung, die den Kündigungsschutz schwächen will; eine Regierung, die die Mitbestimmung als Folklore abtut. Ich wünsche mir, dass das an unserem Land vorbeigeht.
Aber mir geht es wie Ihnen, meine Damen und Herren: Die Wählerinnen und Wähler werden ihr Urteil sprechen. Ich kann Ihnen versichern: Dieses Urteil wird anders ausfallen, als sich das manche hier wünschen.
Ich bin fest davon überzeugt: Dieses Land, Deutschland, ist ein sozialdemokratisches Land,
und es gibt nur eine Sozialdemokratische Partei. Deshalb werden sich Ihre Blütenträume von Schwarz-Gelb nicht erfüllen. Das war 2002 nicht so, das war 2005 nicht so, und das wird 2009 wieder nichts.
Herr Westerwelle, es geht um unser Land - da haben Sie recht -, aber es geht nicht um Sie.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Gregor Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt drei Wahlkampfreden gehört. Es wird Sie nicht wundern: Sie alle haben mich nicht überzeugt,
wobei ich sagen muss: Bei Frau Merkel habe ich verstanden, dass sie Kanzlerin bleiben will. Welche Politik sie machen will, kam aber irgendwie nicht zum Ausdruck. Dann habe ich Sie, Herr Steinmeier, nicht ganz verstanden; das ging ein bisschen durcheinander. Wollen Sie Vizekanzler bleiben oder mit uns koalieren? Das habe ich jetzt nicht richtig verstanden.
Bei Herrn Westerwelle habe ich verstanden, dass er Vizekanzler werden will. Das alles kann aber doch keine Wahlmotivation sein.
Im Übrigen verstehe ich die FDP und die SPD nicht. Warum kämpfen Sie die ganze Zeit gegeneinander? Wer sich ernsthaft entschieden hat, die FDP zu wählen, der kommt doch nicht zur SPD, und wer sich, aus welchen Gründen auch immer, entschieden hat, die SPD zu wählen, der kommt doch nicht zur FDP.
Ich wollte Ihnen nur sagen: Das können Sie beide einfach vergessen.
In einem Punkt muss ich Herrn Stiegler verteidigen, Frau Merkel: Sie können keinen Applaus mehr anordnen; das geht nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Wenn man nicht klatschen will, dann lässt man das einfach bleiben.
Das ist Ihnen gar nicht aufgefallen: Es gab schon drei Landtagswahlen. Ich darf das hier einmal sagen: Wir haben in Sachsen gut, in Thüringen sehr gut und im Saarland gigantisch abgeschnitten. Das darf man doch einfach einmal feststellen.
Ich möchte jetzt der SPD und den Grünen nur zwei Takte sagen: Erstens. Wenn man drittstärkste Kraft ist, dann kann man nicht so tun, als ob die Wählerinnen und Wähler der SPD einen doppelten Wert haben wie die Wählerinnen und Wähler der Linken. Das steht weder im Grundgesetz noch in der Landesverfassung von Thüringen. Man muss einmal lernen, Wahlergebnisse zu respektieren. Das ist doch nicht zu viel verlangt, auch von der SPD nicht.
Zweitens. Ich habe festgestellt, dass die SPD und die Grünen in Thüringen und die Grünen im Saarland die Sondierungsgespräche weit hinter den 27. September 2009 hinausschieben wollen.
- Hören Sie doch einmal zu! - Dazu möchte ich Ihnen nur Folgendes sagen: Ich verstehe Sie beide. Sie von der SPD sagen sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren wir auch Stimmen. Sie von den Grünen sagen sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren wir auch Stimmen. Deshalb denken Sie: Verschieben ist das Beste.
Eines sage ich Ihnen beiden aber auch: Wer verschiebt, der verliert auch Stimmen. Und das ist auch richtig so.
Jetzt komme ich zur Politik zurück. Mit Ausnahme der Linken gibt es in diesem Bundestag doch in Wirklichkeit eine Konsenssoße. Es gibt zwei nennenswerte Widersprüche zwischen Ihnen: der eine bei der Nutzung der Atomenergie - Herr Steinmeier hat das angesprochen -, der andere beim flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn; das stimmt. Dann ist bei den Kernfragen aber auch Schluss.
Nehmen wir den Krieg in Afghanistan, über den wir vorhin diskutiert haben. Sie alle sind einer Meinung und glauben im Ernst, man könne Terrorismus mittels Krieg bekämpfen. Ich sage Ihnen: Im Krieg sterben immer Unschuldige und Unbeteiligte. Dabei entsteht Hass, und die Bin Ladens nutzen diesen Hass, um neue Terroristen zu rekrutieren. Deshalb ist das das völlig falsche Mittel. Wir müssen raus aus der Spirale der Gewalt, gerade wenn wir den Terrorismus bekämpfen wollen.
Deutschland ist inzwischen der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Es gibt keinen Krieg, an dem wir nicht mitverdienen. Solange an Kriegen so viel verdient wird, hören sie auch nicht auf. Das müssen wir ändern. Wir müssen den Waffenexport verbieten.
Nehmen wir einen weiteren Punkt: die Rentenkürzung. Sie haben die Rentenformel und damit das Rentenniveau geändert. Darin waren sich wieder alle vier einig: Union, FDP, SPD und Grüne.
- Natürlich. Sie alle haben die Rentenkürzung um zwei Jahre beschlossen. Ich sage Ihnen eines: Was mich daran wirklich stört, ist, dass nicht einmal die SPD auf die Idee kommt - bei der Interessenlage der anderen kann ich es noch irgendwie nachvollziehen -, einen anderen Weg zu gehen. Wir könnten doch drei Punkte beschließen. Wir könnten erstens regeln, dass in der künftigen Generation nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern alle, die ein Einkommen beziehen - auch Abgeordnete, Ärztinnen und Rechtsanwälte -, in die Rentenkasse einzahlen müssen. Das wäre ein gewaltiger Schritt.
Zweitens könnten wir die Beitragsbemessungsgrenzen aufheben. Dann muss eben ein Siemens-Chef seinen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung aus seinem gesamten Einkommen statt nur aus einem kleinen Teil davon zahlen. Als dritter Punkt sollte der damit verbundene Rentenanstieg abgeflacht werden.
Das wären drei Reformen. Dann könnte jeder eine vernünftige gesetzliche Rente erhalten. Aber die SPD hat zugestimmt, die Rente einfach um zwei Jahre zu kürzen, und dann sagen Sie, Herr Steinmeier, dass Sie keinen Sozialabbau mitmachen. Eine Rentenkürzung um zwei Jahre ist doch wohl ein gigantischer Sozialabbau.
Nehmen wir die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Gesetze. Sie alle sind für Hartz IV. Wir sagen: Das ist ein Akt falscher Gleichmacherei und ein Akt der Demütigung. Deshalb wollen wir Hartz IV überwinden. Aber wir sind in diesem Bundestag die Einzigen, die das wollen.
- Ja, ja. Nachher stimmen wir über einen Antrag ab. Darauf bin ich schon gespannt. Darin geht es um die Erhöhung des Schonvermögens. Das fordert auch die FDP. Mal sehen, wie Sie nachher abstimmen.
Ich war bei Hart aber fair zu Gast.
Dort trat eine Frau auf, die teilzeitbeschäftigt ist und zusätzlich ALG II bekommt. Deren Tochter hat in den Ferien drei Wochen gearbeitet, um sich von dem dabei verdienten Geld eine Gitarre zu kaufen, und dann hat das Amt der Frau mitgeteilt, dass ihr dieses Geld vom ALG II abgezogen wird. Ich finde, das ist ein Skandal. Nachher können wir entscheiden, dass das ein Ende hat. Mal sehen, was Sie nachher beschließen. Ich bin sehr gespannt.
Sie alle haben die Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen. Herr Steinmeier, Sie wollen ihn um zwei Prozentpunkte erhöhen. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir unter Herrn Schröder mit einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent begonnen haben, den Sie auf 42 Prozent gesenkt haben. Davon hat Kohl nur geträumt. Er hat sich das nie getraut. Das haben die SPD und die Grünen umgesetzt. Das ist die Wahrheit, und das führte dann letztlich auch zu einem Sozialabbau.
Keine andere Partei im Bundestag außer der Linken will eine Vermögensteuer, auch die Grünen nicht. Sie wollen eine einmalige Abgabe durch die Vermögenden, aber keine Steuer, nicht dass sie regelmäßig etwas zu zahlen hätten.
Das ist doch das ganze Problem: Die Linken sind nicht Bestandteil dieser Konsenssoße. Deshalb mögen Sie uns nicht. Deshalb ist unser Wahlergebnis das entscheidende. Denn Sie ändern sich nur in Bezug auf das Wahlergebnis der Linken. Sie glauben doch nicht, dass sich die SPD ändert, wenn die Grünen zwei Prozentpunkte mehr haben, oder dass es die Union interessiert, ob die FDP zwei Prozentpunkte mehr bekommt. Aber wenn wir stark abschließen, dann werden Union, SPD und Grüne sozialer. Das ist die Wahrheit, und das wissen immer mehr Leute. Deshalb bin ich auch ganz optimistisch.
Es begreifen immer mehr Menschen, dass es gesellschaftspolitisch irrelevant ist, ob wir eine Regierung in dieser oder in jener Konstellation bekommen. Es geht in unserer Gesellschaft um ganz andere Fragen. Herr Jörges hat im Stern übrigens völlig zu Recht geschrieben, worum es geht: ?Die Linke in der Krise klein halten, koste es, was es wolle?. Er behauptet, dass die Menschen die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und die Abwrackprämie nur unserer Existenz verdanken. Ich finde, das sollte man verbreiten, damit es alle wissen.
Dann will ich noch ein bisschen in die Geschichte zurückgehen. Was ist passiert? Als die Grünen zusammen mit Schröder regierten, haben sie den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer gesenkt. Dann haben sie entschieden, dass die Deutsche Bank, wenn sie etwas verkauft, auf den Kaufpreis keine Steuern mehr bezahlen muss. Sie haben aber auch entschieden, dass ein Bäckermeister das Doppelte bezahlen muss, wenn er etwas verkauft. Es ist ja wahnsinnig sozial, was Sie damals entschieden haben. Damit haben Sie alle Hedgefonds eingeladen. Herr Steinbrück hat bei Frau Illner zu mir gesagt, dadurch seien wir Weltklasse geworden. Ich kann nur feststellen, Herr Steinbrück: Dadurch sind wir in eine Weltklassekrise geraten. Das ist wahr. Ansonsten hat das mit Weltklasse überhaupt nichts zu tun.
Das war doch eine Einladung an alle Hedgefonds. Die können hier kaufen und verkaufen, was sie wollen. Sie müssen nie einen Cent Steuern zahlen. Dafür haben SPD und Grüne gesorgt, und die Union hat es selbstverständlich nicht korrigiert.
Dann haben Sie die Körperschaftsteuer zuerst von 45 Prozent auf 25 Prozent und jetzt in Ihrer Koalition von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Was macht man, wenn man auf so viele Steuereinnahmen verzichtet? Dann muss man jemanden zur Kasse bitten. Deshalb haben wir bei der Einkommensteuer den Steuerbauch. Deshalb haben Sie die Pendlerpauschale grundgesetzwidrig gekürzt. Herr Steinmeier, handelt es sich nicht um Sozialkürzungen und einen Abbau des Sozialstaates, wenn man den Menschen - grundgesetzwidrig - die ersten 20 Kilometer nicht mehr bezahlen will? Das ist doch wohl ein Abbau des Sozialstaates. Nichts anderes haben Sie beschlossen.
Dann haben Sie den Sparerfreibetrag gesenkt, damit auch die Kleinsparer früher Steuern zahlen müssen. Dann haben Sie entschieden, die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zu erhöhen. Hier hat Herr Westerwelle recht: Sie haben ein Wahlversprechen gebrochen. Diese Mehrwertsteuererhöhung hat den schlimmsten Sozialabbau zur Folge, den man betreiben kann.
Frau Merkel, Sie sind nun eine ostdeutsche Kanzlerin.
Hat sich strukturell irgendetwas an der Situation der Ostdeutschen durch Sie in den letzten vier Jahren verbessert? - Gar nichts!
Noch immer wird mir erzählt, geringerer Lohn bei längerer Arbeitszeit im Osten führe zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Aber sie ist dort noch immer doppelt so hoch. Wenn eine naturwissenschaftliche These durch ein 19-jähriges Experiment widerlegt ist, könnten Sie endlich sagen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei gleicher Arbeitszeit. Das sagen diejenigen, die vereinigen wollen.
Nehmen wir den Niedriglohnsektor als Beispiel. 19 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in den alten Bundesländern sind Niedriglohnverhältnisse. In den neuen Bundesländern sind es 41 Prozent. Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse: Insgesamt macht das 17 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in den alten Bundesländern aus, aber 65 Prozent der Arbeitsverhältnisse in den neuen Bundesländern. Ein weiteres Beispiel: Nach wie vor haben wir keine gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Wir haben dazu 17 Anträge gestellt. Ich möchte, dass Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Steinmeier, aber auch Sie, Herr Westerwelle, und Sie, Frau Künast und Herr Trittin, den Menschen im Osten nur drei Fragen beantworten: Warum dürfen geschiedene Frauen aus der ehemaligen DDR - im Unterschied zu allen anderen Frauen - keinen Versorgungsausgleich bekommen, wie wir es beantragt haben? Warum stimmen Sie nicht der Korrektur zu, dass die 1990 gestrichenen Anwartschaftsjahre von Hausfrauen, die über Jahre ?Marken geklebt? und Anwartschaftsjahre erworben haben, wieder anerkannt werden? Warum können Sie all dem nicht zustimmen?
Warum können Sie nicht der Korrektur der 1990 gestrichenen gesetzlichen Rentenansprüche von eingetragenen Familienmitgliedern privater Handwerker zustimmen? Warum können Sie das nicht machen? Sie alle lehnen das ab. Ich finde, das ist ein völlig falscher Weg.
Vollbeschäftigung ist ein redliches Ziel; das stimmt. Aber was ist denn bis 2008 passiert? Sie tun so, als ob Sie Arbeitslosigkeit abgebaut hätten. Darf ich Sie auf Folgendes hinweisen? - Sie haben 1,6 Millionen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse abgebaut, aber 2,6 Millionen prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut.
Sie haben oft einen Vollzeitjob in zwei 400-Euro-Jobs umgewandelt. Das hat mit ?sozial? gar nichts zu tun und löst nicht das Problem, sondern verschärft es.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Bildung sagen, da alle darüber reden. Es ist wirklich ein starkes Stück. SPD und Union haben beschlossen, das Grundgesetz zu ändern. Der Bund ist aus der Zuständigkeit für die Schulsysteme ganz hinausgeflogen. Sie wollten dann in Bildung investieren, mussten aber feststellen, dass Sie sich gerade selber ein Bein gestellt haben und gar nicht mehr investieren dürfen. So kam das Programm zur energetischen Sanierung der Schulgebäude zustande. Wir brauchen aber mehr Lehrerinnen und Lehrer sowie mehr Erzieherinnen und Erzieher. Wir brauchen mehr Nachmittagsbetreuung und Förderung. Wir brauchen zudem mehr Gemeinschaftsschulen. Die frühe Trennung der Kinder führt zu nichts anderem als zu sozialer Ausgrenzung. Das wird in Bayern ganz großgeschrieben.
Es gibt in jeder Gesellschaft eine unschuldige Gruppe. Das sind die Kinder. Das Einzige, wozu wir verpflichtet sind, ist, ihnen gleiche Chancen einzuräumen. Ich will gleiche Chancen für das eine Kind des Professors wie für das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin. Aber davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.
In die Bildung müssen wir wirklich investieren, aber nicht bei 16 verschiedenen Schulsystemen. Das ist 19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Topbildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Jedes Kind muss die Chance auf eine Topbildung erhalten.
Deshalb zum Schluss: Ihre Regierungstätigkeit hat sich vielleicht für Sie gelohnt, aber nicht für die Bevölkerung.
Danke schön.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur mit einem Satz auf die sehr engagierte Rede des Kollegen Gysi eingehen: Lieber Gregor Gysi, wärst du doch einfach in Berlin Wirtschaftssenator geblieben und hättest dort all die guten Ideen realisiert, über die du hier geredet hast,
dann hättest du dich hier nicht mit so einem hochroten Kopf engagieren müssen. Wir allerdings hätten dann gewusst, ob den guten und engagierten Worten auch jemals Taten folgen. Interessiert hätte es mich schon.
Ich will es damit bewenden lassen und einige Worte zur Bundeskanzlerin und ihrer heutigen Rede zur Situation Deutschlands sagen. Diese Rede der Bundeskanzlerin war nicht wegweisend, sondern das war im Gegenteil die typische Schlafwagenrede von Angela Merkel - man kann auch sagen: eine Valiumrede -, die dem Drei-Punkte-Schema folgte: erstens das Thema benennen, zweitens eine Frage stellen und sich drittens um die Antwort drücken. Das hat sich durch ihre komplette Rede gezogen.
Wir haben die Situation, dass diese Gesellschaft und dieses Land vor wirklich tiefgreifenden Problemen stehen. Wir haben den Klimawandel, also das größte Marktversagen, das wir kennen. Wir haben eine durch ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem blockierte Gesellschaft. Wir haben die höchste Verschuldung seit 60 Jahren. Wir haben eine Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit Kurzarbeit und vermutlich bevorstehenden Entlassungen. Sie, Frau Merkel, haben fast alle Themen benannt, aber keine einzige Antwort gegeben. Das reicht definitiv nicht aus.
Man könnte sagen: Frau Merkel hat heute wieder einmal Kreide gefressen, weil sie alles benennt, sich aber um die Antwort drückt. Das war wie in der Großen Koalition. Frau Merkel vorneweg bietet immer kurzfristige Scheinlösungen, kuriert ein bisschen am System herum, und am Ende wird noch die soziale Marktwirtschaft beschworen. Aber was wir wirklich brauchen, ist eine Neuausrichtung, eine Neustrukturierung der Wirtschaft in Deutschland. Wir hatten auch in den Schlüsselindustrien, zum Beispiel in der Chemieindustrie und in der Automobilindustrie, schon vor der Krise eine große Überproduktion und große Strukturprobleme. Wer dieses Land aus der Krise herausführen will, der darf nicht sagen, dass wir wieder wie vor der Krise sein wollen, sondern er muss jetzt neue Antworten geben. Aus der Krise kommen wir nicht mit der Denkweise von gestern, nicht mit der Denkweise, die uns in die Krise geführt hat, sondern mit neuen, innovativen Lösungen, mit dem Mut, den alten Lobbyisten nicht mehr auf dem Schoß zu sitzen, sondern ihnen einmal auf die Füße zu treten.
Wir brauchen in diesem Land keine Scheinlösungen, sondern wirklich neue Ideen und andere Strukturen, gerade für die Schlüsselindustrien Deutschlands. Das geht nicht mit Wischiwaschi, wie es Frau Merkel gemacht hat, sondern alle Maßnahmen, die man ergreift, müssen dem Kriterium entsprechen, dass es keine Neuverschuldung geben darf, ohne dass ein Mehrwert, eine Neuausrichtung entsteht. Wer einfach neue Schulden macht, wie sie es getan hat, versündigt sich an der jüngeren Generation.
Im Zusammenhang mit Scheinlösungen muss ich Opel erwähnen. Die Bundesregierung hat beim Thema Opel vorgeführt, was sie alles nicht kann.
Jetzt findet quasi ein Wettbewerb statt, wer von den Ministern am schönsten aussieht. Das interessiert uns aber hier überhaupt nicht.
Wir wollen wissen, wer wirklich professionell an die Aufgabe herangeht und was er für die Opelaner tut, egal ob in Bochum, Rüsselsheim, Eisenach oder in Kaiserslautern. Aber diese Regierung hat die Verhandlungssituation komplett falsch eingeschätzt. Jetzt haben wir eine Bundesregierung, die am Gängelband des General-Motors-Verwaltungsrats ist. Das war handwerklich nicht gut gemacht.
Man muss nach vier Jahren Großer Koalition eines sagen: Deutschland hat vier verlorene Jahre hinter sich, eben weil es keine Neuausrichtung gab. Deutschland hat sich verschuldet, ohne zu wissen, wer dafür eigentlich zahlen soll. Deutschland hat in diesen vier Jahren keine Neuausrichtung auf Zukunftsprojekte vorgenommen.
Sie von der Koalition behaupten - Frau Merkel heute vorneweg -, Sie bauten Brücken. Brücken bauen Sie immer nur ins Nichts. Die Abwrackprämie oder die Kurzarbeit: Was folgt denn danach? Mir kommt es so vor, als würden Sie an einem Ufer anfangen, eine Brücke zu bauen. Nur leider endet sie in der Mitte des Sees, da, wo der See am tiefsten ist. Wer kauft Autos nach Ablauf der Abwrackprämie? Was produzieren die Automobilkonzerne und deren Zulieferer eigentlich, wenn die Abwrackprämie ausgelaufen ist? Wie sollen angesichts von Kohlekraft- und Atomkraftwerken - ich erinnere an Ihre Wünsche, deren Laufzeiten zu verlängern - die erneuerbaren Energien, die damit verbundene Effizienz und die damit einhergehenden Jobmöglichkeiten wachsen? Sie bauen keine Brücken in die Zukunft, sondern Sie haben in den vergangenen vier Jahren lauter Brücken ins Nichts gebaut.
Was sind denn die dringendsten Probleme? Schauen wir uns einmal den Sozialbereich an. Dazu hat Frau Merkel heute wieder einmal gar keine Antwort gegeben. Sie hat gesagt - dieser Satz ist mir aufgefallen -, das Thema Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Ich weiß nicht, wie sie es meint: Denkt sie an die Reduzierung oder an den Erhalt des Kündigungsschutzes? Man kann an dieser Stelle nur in das Grundsatzprogramm der CDU schauen. Was ist ihre Reaktion auf die Sorgen der Menschen in diesem Land? Diese Menschen fragen, ob ihr Job sicher ist, ob ihnen gekündigt wird, ob sie einen neuen Job finden. Dazu sagt die Kanzlerin, das Thema Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 besagt, eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes sei ein Gebot der Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass kleinere Unternehmen - Unternehmen bis 20 Personen - mehr Möglichkeiten haben sollen, Arbeitnehmern zu kündigen.
Das Ganze wird präzisiert durch Papiere, von denen Herr Guttenberg mittlerweile nichts mehr wissen will. Wenn ich mir vorstelle, dass auch noch die Westerwelle-FDP der Regierung angehört, dann weiß ich, wie Sozialpolitik Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen soll. Schon deshalb muss man Schwarz-Gelb verhindern.
Was sind Ihre Sorgen um das Soziale? Nehmen wir einmal die Menschen in diesem Land, die wirklich einen Vollzeitjob haben und denken, dass sie von ihrer Hände Arbeit sich selber ernähren können, also nicht aufs Amt laufen müssen - was ich für selbstverständlich, für eine Frage der Würde halte. In Thüringen bekommen eine Friseurin 3,18 Euro die Stunde und ein Wachmann 4,32 Euro die Stunde. Für den Kollegen Gregor Gysi: Bis vor kurzem zahlte auch Berlin für so manchen outgesourcten Wachmann 5 Euro die Stunde. Das änderte sich erst, nachdem andere immer wieder mit dem Finger darauf hingewiesen hatten. Gut, dass auch andere Stimmen bekommen und euch nachhelfen können, mein Lieber!
Die CDU sagt zu diesem Thema: Mindestlöhne schränken die notwendige Flexibilität der Unternehmen ein und verteuern die Arbeit. Auch das CDU-Wahlprogramm besagt: Das für ein menschenwürdiges Leben - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - notwendige Einkommen sichert nicht ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn. Ja, wer denn dann?
Es kann doch nicht sein, dass Unternehmen Profit machen, dass deren Arbeitnehmer zum Amt laufen und dass die öffentliche Hand nachher von nicht eingenommenen Steuern Wohngeld und anderes finanziert.
Es gehört zur Sozialbindung des Eigentums des Unternehmers, dass man Mindestlöhne zahlt. So steht es im Grundgesetz. Deshalb brauchen wir einen Mindestlohn von 7,50 Euro.
Was ist mit den Menschen in Armut? Was haben Sie eigentlich dazu gesagt? Frau Merkel hat ein bisschen über Bildung geredet; darauf komme ich gleich zurück. Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut. Besonders betroffen sind Alleinerziehende; 44 Prozent von ihnen müssen von ALG II leben. Das kann im Alltag heißen, dass deren Kinder schon bei einer Klassenfahrt darauf angewiesen sind, dass andere Geld sammeln, damit sie mitfahren können. Außerdem können sie darauf angewiesen sein, dass andere Geld sammeln, damit sie zum Beispiel ein Musikinstrument bekommen. Was haben Sie an dieser Stelle in dieser Legislaturperiode getan? Ich sage Ihnen: faktisch nichts. Ihre Antwort heißt: Familiensplitting, also für Verheiratete mit vielen Kindern aufs Ehegattensplitting oben noch was drauf. Aber die Mehrheit der wirklich Armen in diesem Land sind die alleinerziehenden Eltern, und für die haben Sie gar nichts getan.
Dann schauen wir mal weiter beim Thema Gerechtigkeit! Gerechtigkeit hat für unsere Begriffe viel damit zu tun, dass wir nicht auf Kosten der kommenden Generationen leben. Wir haben jetzt die größte Verschuldung seit den 60er-Jahren, in diesem Jahr sicher mindestens 100 Milliarden Euro, im nächsten Jahr noch mal so viel. Hinzu kommt noch das Versteckspiel dieser Koalition: Finanzmarktstabilisierung, Investitionsfonds, Wirtschaftsfonds, alles in Schattenhaushalten versteckt. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist nicht gerecht, auf Kosten der Kinder zu leben. Es geht nicht an, sich jetzt nicht Gedanken darüber zu machen, wie dies abgezahlt wird.
Es ist schon gar nicht gerecht, dann noch, wie Union, CDU/CSU, und FDP es tun, über Steuerentlastungen nachzudenken. Wenn Sie, meine Damen und Herren, in dieser Situation von Steuerentlastung für Wohlhabende reden, ist darin die Drohung enthalten, an anderer Stelle Leistungen zu kürzen oder Abgaben zu erhöhen. Das wird am Ende heißen: Sozialabbau und Bildungsabbau oder, wie selbst Wolfgang Kubicki sagt, erneute Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Das ist nicht gerecht.
Wovon zahlen Sie das denn? Ich weiß nicht, woher die zweistelligen Milliardenbeträge der CDU/CSU kommen sollen. Ich weiß nur eines: Herr Westerwelle macht Folgendes: Hier wird ein bisschen gestrichen, da wird ein bisschen gestrichen, und dann werden zweistellige Milliardenbeträge mit der Entwicklungshilfe für China finanziert, die allerdings nur 200 Millionen Euro - nicht 200 Milliarden Euro! - beträgt. Sie haben hier eine echte Lücke in Ihrer Rechnung. Deshalb muss man erwarten, dass Sie das auf Kosten des Sozialen aufbringen.
Wir sagen: Diese Generation muss sich Gedanken übers Abzahlen machen. Deshalb müssen in dieser Generation diejenigen, die von dieser Wirtschafts- und Finanzweise profitiert haben, anfangen, den Schaden zu beseitigen. Deshalb geht es nicht an, eine Steuersenkung zu versprechen. Was wir jetzt brauchen, ist eine befristete Vermögensabgabe, die gezielt gezahlt wird, um mit dem Abtragen der Schulden zu beginnen.
Worüber haben Sie an dieser Stelle und heute noch nicht geredet, Frau Merkel? Sie haben auf allen vergangenen Terminen wohltuende Worte über die Finanzmarktregulierung gesprochen. Sie kündigen jetzt schon wieder schöne Dinge an. Aber auch London und Washington waren Ankündigungen. Da hieß es von Ihnen: Kein Staat, kein Produkt, kein Institut soll unreguliert bleiben. - Nun kommt Pittsburgh. Schon wieder ein Versprechen! Für uns stellt sich aber die Frage: Wann passiert denn endlich was?
Die Kanzlerin hat sich hier gerade mit ganz viel Emotion über den Vertrag von Herrn Eick echauffiert, der bei Arcandor nach sechs Monaten Arbeit insgesamt 15 Millionen Euro Abfindung erhält. Darüber kann man sich trefflich aufregen, das ist mehr als unanständig, aber wer mit dem Finger darauf zeigt, ist als Nächstes gefordert, zu sagen, warum er oder sie nicht selbst etwas dagegen getan hat. Weil in Deutschland Vertragsfreiheit herrscht - das ist auch gut so -, können wir die nicht zwingen, einen anderen Vertrag abzuschließen. Wir könnten aber dafür sorgen, dass in Zukunft nicht der Aufsichtsrat, sondern ganz öffentlich die Hauptversammlung über die Gehälter entscheidet. Das könnten wir gesetzlich festlegen.
Dann wüsste jeder, was Sache ist, und könnte sich dagegen entscheiden.
Was könnte man noch tun, und was hätte man gerade tun können? Sie haben das Gesetz über die Angemessenheit der Managervergütungen verabschiedet. Warum haben Sie in dieses Gesetz denn nicht die einzig sinnvolle Vorschrift hineingeschrieben, nämlich die, dass Gehälter oder Boni nur bis zur Höhe von 1 Million Euro steuerlich abzugsfähig sind, also nur bis zu dieser Höhe auf dem Rücken des Steuerzahlers gewährt werden?
Dazu hat die CDU/CSU Nein gesagt. Dazu hat auch Frau Merkel Nein gesagt. Aber das wäre das Richtige.
Dann würden nämlich die horrenden Gehälter oder die Verträge, nach denen schon nach sechs Monaten 15 Millionen Euro Abfindung gezahlt werden, nicht mehr durch die Minderung der Steuerberechnungsgrundlage dem Steuerzahler aufgebürdet, sondern knallhart zulasten des Profits des Unternehmens gehen. Das wäre die einzig richtige Entscheidung.
Jetzt kommen Sie damit, dass man eine rechtliche Verankerung des Rückforderungsrechts für den Fall vereinbart habe, dass die Profite einer Firma nicht ganz so groß gewesen seien wie erwartet. Dies reicht uns nicht aus. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass große Gehälter nicht zulasten des Steuerzahlers gehen. So einfach ist das.
Ich habe aufmerksam beobachtet, wie Herr Westerwelle engagiert gefordert hat, zum Beispiel die Bankenaufsicht zu verbessern und Ähnliches. Er hat die FDP als Partei der Bürgerrechte dargestellt. Ich wollte schon glauben, Sie seien die Partei der Verbraucherrechte. Ich denke aber, die FDP wäre gut beraten, nicht nur zu reden, sondern bei den Themen Banken, Arbeitnehmerrechte, Datenschutz und Internetrechte einmal auf ihre Landesminister zu achten. Wenn Sie hier den Bürgerrechtler geben, während Herr Wolf beim Verfassungsgericht mit der Forderung der Onlinedurchsuchung und Herr Goll mit der Forderung der Sicherungsverwahrung gegen die Wand läuft und die FDP in Niedersachsen das Polizeigesetz gar nicht erst durchbringt, ist das sehr doppelbödige Politik.
Was wir brauchen, ist ein Aufbruch zu einer ökologischen und sozialen Modernisierung dieses Landes. Wir hätten mit einem Zehntel des Geldes, das Sie für die Abwrackprämie ausgegeben haben, einen riesigen Entwicklungsboom bei der Elektromobilität auslösen können. Sie haben eine Brücke nur bis zur Wahl gebaut, und es besteht die Befürchtung, dass sofort danach 90 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Sie denken immer noch nicht darüber nach, wie eine gute Struktur für die deutsche Wirtschaft aussehen müsste. Ich habe mir ehrlich gesagt die Augen gerieben, als ich gehört habe, dass dieses Bundeskabinett beschlossen hat, für 2015 ein Projekt der unbemannten Mondfahrt mit 1,5 Milliarden Euro zu finanzieren. Was wollen wir eigentlich auf dem Mond? Wir wollen doch nicht Letzter auf dem Mond sein, sondern die Ersten, die Elektromobile mit einer modernen Technologie haben, welche in der Lage sind, von Flensburg bis München statt nur 80 Kilometer zu fahren. Damit wäre man vorne.
Diese Gesellschaft muss man so aufbauen, dass man in vier Jahren 1 Million neue Jobs schafft. Das kann man auch: durch erneuerbare Energien, durch Investitionen in Bildung und soziale Gerechtigkeit. Dafür muss aber der Blaumann in der Industrie endlich grün werden. Dafür muss man den Mut haben, der Wirtschaft nicht hinterherzulaufen und sie die Gesetze schreiben zu lassen, sondern ihr einen Ordnungsrahmen zu setzen. Wenn die CDU plakatiert: ?Wir haben die Kraft?,
dann sage ich Ihnen ehrlich: Sie haben vier Jahre lang nicht die Kraft und nicht den Mut gehabt, der Wirtschaft Leitplanken zu setzen, um zu verhindern, dass sie auf Kosten der Umwelt ihr Wachstum und ihren Profit organisiert. Das ist die Wahrheit.
Sie propagieren immer noch: Weiter mit der Atomenergie! Das ist genauso falsch. Wer jetzt Hand an die Vereinbarungen zum Atomausstieg legt und Verlängerung fordert, schadet diesem Land, weil auf diese Weise keine neuen Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien und der effizienten Technologien entstehen, sondern nur die Profite der Atombetreiber erhöht werden. Aber wir haben verstanden: Wenn der Atomkonsens für Sie und die Atomkonzerne nicht gilt, dann gilt er auch nicht mehr für die Menschen in diesem Land, die diese Risikotechnologie mehrheitlich nicht wollen. Dann kämpfen wir dafür, dass die Atomwerke noch schneller abgeschaltet werden.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Künast, kommen Sie bitte zum Schluss.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. - Wir kämpfen dafür, dass die Menschen in Gorleben nicht mit Gutachten, die in Zeiten einer schwarz-gelben Bundesregierung vorsätzlich gefälscht wurden, über den Tisch gezogen werden.
Wir kämpfen dafür, dass die Kinder in diesem Land nicht an Leukämie sterben, wenn sie in der Nähe eines Atomkraftwerks wohnen. Wir kämpfen dafür, dass man die soziale Frage für die Frauen endlich löst, indem man ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft macht. Wir kämpfen für ein Bildungssystem, bei dem jedes Kind unabhängig vom Bildungsabschluss seiner Eltern die Chance hat, sich zu entwickeln.
Wir wissen: Am 27. September steht dieses Land vor einer Richtungsentscheidung, weil es darum geht, wie wir aus der Krise herauskommen und wie wir die Weichen für ein ökologisches Wachstum stellen, das nicht zulasten der Umwelt geht. Die Debatte in der Zukunft geht darum: entweder erneuerbare Energien oder Atomenergie, entweder Bildung oder Steuersenkung.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Frau Kollegin Künast, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Dieses Land braucht einen Richtungswechsel,
weil wir nur mit einem Richtungswechsel aus der Krise herauskommen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
Volker Kauder (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was bewegt die Menschen im Augenblick am meisten? - Das sind die Fragen: ?Sind wir schon durch die Krise durch?? und ?Bleibt mein Arbeitsplatz erhalten?? Für diejenigen, die in Arbeit sind, ist die Arbeitsplatzsicherheit und für die jungen Menschen ist die Frage, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen und ob sie nach ihrer erfolgreichen Ausbildung weiterbeschäftigt werden, das zentrale Thema. Deswegen sagen wir von der Union: ?Arbeit für alle? ist unser Thema. Dafür müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren ganz energisch arbeiten.
Dass wir nicht nur davon sprechen - Arbeit für alle -, sondern dass wir von diesem Thema auch etwas verstehen, haben wir in den vergangenen vier Jahren gezeigt. Denn die rot-grüne Bundesregierung hat uns über 5 Millionen Arbeitslose hinterlassen. Diese Zahl haben wir auf unter 3 Millionen zurückgeführt.
Wenn es also einer bewiesen hat, dass er es kann,
dass er es schafft, die Arbeitslosigkeit zurückzuführen, dann war es die Union.
Wir haben dies mit den richtigen Konzepten gemacht. Es ist völlig klar: Wir brauchen Wachstumsantriebe, die unser Land nach vorne bringen und die unsere Wirtschaft motivieren. Die Stärke der Wirtschaft in unserem Land beruht auf dem Mittelstand und den Familienbetrieben, in die Menschen ihr ganzes Vermögen gesteckt haben. Diese Menschen stehen mit Haut und Haaren dafür ein, dass die Firma fortgeführt wird. Ihr Risiko und Ertrag ist nicht nur Ertrag und Risiko der Firma, sondern auch der ganzen Familie. Wenn Sie in diesem Bereich die Steuern erhöhen, dann nehmen Sie gerade denen die Kraft, auf die es in dieser Zeit besonders ankommt.
Einen größeren Unsinn, als die zu bestrafen, von denen wir erwarten, dass sie etwas machen, habe ich in der letzten Zeit nicht gehört.
Um dieses Land voranzubringen, brauchen wir auch die Motivation der Menschen. Unsere Unternehmen sind keine Ansammlungen von Betriebsgebäuden und von Maschinen. In unseren Unternehmen arbeiten Menschen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Von diesen erwarten wir, dass sie ihre ganze Kraft einsetzen. Aber wenn diese die Botschaft erhalten, jede Überstunde ist mit besonders hohen Abgaben verbunden, dann ist dies keine Motivation. Ich nenne beispielsweise die Erzieherin, die jetzt zwar 120 Euro mehr bekommt, die aber von diesem Bisschen einen großen Teil an das Finanzamt und in die Sozialversicherung zahlen muss. Deswegen ist es richtig, wenn wir sagen: Wir werden die unteren und mittleren Einkommen entlasten, damit der Satz stimmt: Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.
Dass da Sozialdemokraten nicht mitmachen können, kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich kann zwar noch nachvollziehen, dass ein Finanzminister seinen Haushalt zusammenhalten will und sagt: Es gibt vielleicht keinen Spielraum. - Aber eines kann ich überhaupt nicht akzeptieren: dass es immer dann einen Spielraum für die Senkung von Steuern gibt, wenn das Bundesverfassungsgericht es verlangt, und nie dann, wenn wir der Meinung sind, wir sollten dies machen.
Ich sage Ihnen: Wir werden die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen entlasten.
Jetzt will ich ein klares Wort sagen: Natürlich gehört zu unserer Wirtschaft auch, dass sie über ausreichend Energie zu einem akzeptablen Preis verfügen kann. Wenn ich auf die offizielle Homepage des Bundesumweltministers schaue, sehe ich dort, dass die erneuerbaren Energien aktuell einen Anteil von 15,1 Prozent am Gesamtstrom haben. Die Prognose lautet: 2020 wird der Anteil der erneuerbaren Energien 30 Prozent betragen.
Ich habe noch ganz normal rechnen gelernt - keine anderen Mittel verwendet, auch keine Mengenlehre -, nämlich dass eins plus eins zwei ist. Deswegen weiß ich, dass in zehn Jahren 70 Prozent Energie fehlen werden. Frau Künast, Sie haben ein paar schnoddrige Bemerkungen gemacht.
Ich sage Ihnen eines: In der Energiepolitik stellen Sie gar keine Fragen mehr, sondern sagen einfach: ?Wir steigen aus der Atomenergie aus?, ohne mir zu erklären, wo die 70 Prozent Strom herkommen sollen, die im Jahre 2020 fehlen werden.
Deswegen sage ich Ihnen: Machen Sie Ihre Hausaufgaben!
Wir haben ausdrücklich erklärt: Wir brauchen für eine Übergangszeit, bis wir durch Einsparen und erneuerbare Energien das Problem der Energieversorgung gelöst haben, Kohlekraftwerke, die modern gestaltet sein sollen, und Kernkraftwerke, die sicher laufen. Wir haben nicht davon gesprochen, dass das unsere Wunschform ist. Aber eines muss ich sagen: Es ist in höchstem Maße unredlich, wenn sich Grüne und andere der Lösung einer Endlagerung verweigern; denn gerade diejenigen, die den Ausstieg wollen, wissen, dass beim Ausstieg Atommüll anfällt. Dieser muss irgendwohin. Deswegen ist es nicht in Ordnung, nach dem Motto zu verfahren: Wer aussteigt, hat kein Problem mit der Endlagerung. Sie haben es erst recht.
Dies muss eine neue Koalition lösen.
Es geht derzeit vor allem darum, dass wir Antworten darauf geben, was die Menschen jetzt von uns erwarten. Es kommt dabei darauf an - dies sage ich mit allem Nachdruck -, den Menschen keine Angst, sondern ihnen Mut zu machen. Wir brauchen Menschen, die zuversichtlich nach vorne schauen und zuversichtlich durch diese Krise gehen, und keine Menschen, die ängstlich sind. Ich kann Ihnen sagen - auch an die Adresse von manchem Sozialdemokraten gerichtet -: Wer Ängste schürt, wird die Stimmen der Wählerinnen und Wähler dafür zu Recht nicht bekommen.
Reden wir vielmehr davon, was notwendig ist. Dazu sage ich Ihnen: Wir sind auf einem guten Weg:
Erstens. Diese Koalition hat einen wichtigen Einstieg dahin gehend gemacht, dass auch in Zukunft moderne Autos in Deutschland gebaut werden. Die Automobiltechnologie wird auch in Zukunft eine Schlüsseltechnologie sein. Deswegen ist es richtig, dass wir in die Elektromobilität einsteigen.
Zweitens. Die Pharmazie wird ein wichtiges Thema bleiben. Wir haben zusammen mit den deutschen Pharmazieunternehmen in wichtigen Bereichen eine moderne Medizin zu entwickeln. Deswegen werden natürlich die Biologie, die Pharmazie, aber auch die Gentechnologie
Schlüsseltechnologien für den Aufbruch in eine Zukunft mit Arbeitsplätzen für qualifiziert ausgebildete junge Menschen sein. Auf diesem Weg gehen wir voran.
Natürlich ist auch klar, dass Bildung das Thema ist. Als Bundespolitiker sind wir für Bildung in einem begrenzten Maße zuständig.
Ich sage Ihnen aber eines: Auch als Bundespolitiker können wir uns mit bildungspolitischen Fragen auseinandersetzen sowie dafür sorgen und werben, dass dort, wo wir an Landesregierungen beteiligt sind, der richtige Weg eingeschlagen wird.
Ich sage Ihnen nur eines: In den Ländern, in denen es ein differenziertes Schulsystem gibt und in denen man sich sehr intensiv um die jungen Leute kümmert, um ihnen je nach Fähigkeiten und Stand der Entwicklung zu helfen, haben wir bessere Ergebnisse erzielt als in den Ländern, in denen Sie nur über Gesamtschulen diskutiert und in der Bildungspolitik nicht den richtigen Weg eingeschlagen haben.
Es ist doch nicht von ungefähr gekommen, dass zu Zeiten von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die Eltern auf die Barrikaden gegangen sind und sich ein Schulsystem nahe an den Kindern gewünscht haben, nicht nahe an der Ideologie von Rot-Grün. Das war der entscheidende Punkt.
Wir sollten auch in den natürlich vom Wahlkampf geprägten Diskussionen der nächsten Wochen klarmachen, worum es geht. Wir von der Union werden das machen. Uns geht es darum, dass Menschen, die sich jetzt in Kurzarbeit befinden und sich die Frage stellen, wie es weitergeht, von uns eine Perspektive bekommen und dass sich diese Menschen Hoffnung machen können, weil sie sehen: Da gibt es welche, die genau den richtigen Weg vorgeben. Mit Mut, Zuversicht und dem richtigen politischen Konzept führen wir dieses Land durch die Krise und aus der Krise heraus. Dafür bin ich Angela Merkel außerordentlich dankbar.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
Wenn Sie das doch in Ihren Beziehungen zu Schweizer Bankern sowie zu Vertretern der Schweizer Regierung einmal ausgesprochen und auf den Punkt gebracht hätten! Sie haben hier ?Kavallerie? gerufen, um mich gleich einzunorden.
Ich überlege noch, ob ich jetzt eine Wahlkampfrede halte
oder eine Parlamentsrede. Was ich definitiv nicht machen werde, ist, das Parlament mit einer Talkshow zu verwechseln, Herr Westerwelle. Der Fehler wird mir nicht passieren.
- Sie treten ja ganz anders auf.
- Nein. Sie versuchen, mir meine große Klappe vorzuhalten, obwohl Sie selber eine Maulsperre brauchen. Insofern ist es für Sie schwierig, hier mit Steinen zu werfen.
- Den brauche ich nicht immer, genauso wenig wie Sie; das haben Sie mit Ihrer Rede gezeigt. Wir können dasselbe Tempo halten, Herr Westerwelle. Da stehen wir uns in nichts nach.
Heute in sieben Tagen ist es ein Jahr her, dass sich - die Pleite von Lehman Brothers war das Epizentrum - das Beben weltweit ausbreitete. Zwei Tage später hätten wir es mit dem Fall von AIG mit einer Situation zu tun gehabt, die in der Tat nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern weltweit zu einer Kernschmelze der gesamten Finanzmarktarchitektur hätte führen können. Weltweit hat es entsprechende Erschütterungen gegeben. Es kam zu Übersprungeffekten.
Ich habe damals sehr früh zwei Sätze gesagt: Erstens. Nach dieser Krise wird die Welt nicht mehr so aussehen wie vor der Krise. Diejenigen, die das bis heute nicht gelernt haben, sollten es durch die Beiträge des Deutschen Bundestages langsam lernen. Zweitens. Das ist nicht nur eine Krise, sondern eine Zäsur. Wir haben es nicht nur mit einer enormen ökonomischen Wertvernichtung zu tun, sondern wir haben es auch mit erheblichen sozialen, ja mit gesellschaftlichen Konsequenzen zu tun. Darüber will ich gerne einige Worte verlieren.
Wichtig ist gewesen - das war die Leitschnur dieser Regierung, die wir gut eingehalten haben -, dabei vier Gedanken nicht nur zu verfolgen, sondern uns auch in der konkreten Politik daran zu halten.
Erstens. Wir wollten keine Schlangen von Menschen vor der Filiale eines deutschen Kreditinstitutes sehen.
Das diesbezügliche Bild, dass sich vor der Filiale einer englischen Bank Schlangen von Menschen bildeten, die aus Verunsicherung und Angst ihr Geld abhoben, hat diese Politik sehr geprägt, weil wir gleichzeitig wussten, dass solche Bilder in Deutschland vor dem Hintergrund einer historischen Traumatisierung aus dem 20. Jahrhundert eine völlig andere Wirkung haben als im Vereinigten Königreich mit einer sehr viel kontinuierlicheren und weniger tragisch entwickelten Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Zweitens. Wir wollten verhindern - dabei standen wir im Obligo auch internationaler Zusagen -, dass eine deutsche Bank, egal welcher Säule zugehörig, möglicherweise einen Dominosteineffekt auslöst, sodass andere Banken betroffen sind und plötzlich eine systematische Erschütterung erfolgt, die weit über Deutschland hätte hinausgehen können.
Drittens. Wir wollten verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Anders als manche Oppositionspolitiker behaupten, lässt sich belegen, was uns in diesen letzten zwölf Monaten an Regulierungsmaßnahmen und der Umsetzung des Prinzips, dass kein Finanzmarktteilnehmer, kein Finanzmarktprodukt, kein einzelner Finanzmarkt ohne Aufsicht und ohne Regelung sein soll, gelungen ist.
Viertens. Wir wollten nicht tatenlos zusehen, dass Millionen von Menschen unverschuldet in die Arbeitslosigkeit hineingeraten. Das ist der Sinn der Konjunkturpakete I und II gewesen. In diesem Sinne, glaube ich, dass die Große Koalition in diesen zwölf Monaten ein gutes Krisenmanagement geleistet hat.
Im internationalen Vergleich sind wir bisher nicht schlecht durch diese Krise gekommen. Die Konjunkturprogramme bekommen intern und vor allen Dingen auch von ausländischen Beobachtern sehr viel bessere Zensuren als von der Opposition. Es gibt eine Studie, die selten zitiert wird - ich glaube von der Boston Consulting Group -, die insbesondere dem Konjunkturpaket II im internationalen Vergleich Bestnoten gibt. Diese Studie spielt im politischen Schlagabtausch aber nur sehr selten eine Rolle.
Die von Herrn Westerwelle so kritisierte Abwrackprämie ist inzwischen von mehreren Staaten, nicht zuletzt in den USA, ebenfalls eingeführt worden. Wenn er denn die Rolle bekommt, in die er gerne hinein möchte, dann kann er der amerikanischen Regierung ja vorhalten, welchen Mist sie gerade mit der Abwrackprämie gebaut hat.
Der allerletzte Kronzeuge für eine analytische Aufarbeitung dieser Krise, die allerletzte Instanz, die uns raten kann, wie wir über Leitplanken und Verkehrsregeln aus dieser Krise herauskommen, ist nun wirklich die FDP.
Ich kenne keine andere politische Kraft, auch in diesem Haus, die die Monstranz der entfesselten Märkte in der Zeit nach Reagan und Thatcher so hochgehalten hat wie die FDP.
Ich kenne keine andere Partei und keine andere Fraktion, die in den letzten zehn Jahren drögere Predigten einer Markttheologie gehalten haben als Ihre Partei.
Deshalb haben Sie bis heute auch kein Verhältnis zur Finanzmarktkrise. Ich kenne von Ihrer Fraktion, Ihrer Partei keinerlei Beiträge zur Aufarbeitung, die in irgendeiner Form von nennenswerter Bedeutung sind. Ich kenne entsprechende Beiträge von anderen Parteien, aber von der FDP kenne ich keine. Ich kenne keine einzige analytische Aufarbeitung, nur ein Stichwort, auf das ich später zu sprechen komme. Ich kenne kein konzises Papier, keine konzise Position von Ihnen über das, was Sie konkret an Finanzmarktregulierung in Zukunft für notwendig halten. Da ist nichts.
In Ihren Reden verirren Sie sich immer wieder in dem Thema Bankenaufsicht. Darüber kann man reden; ich komme gleich darauf zu sprechen. Aber mit diesem Seitenschritt lenken Sie in Wirklichkeit davon ab, dass Ihr ordnungspolitischer Faden gerissen ist.
Sie lenken davon ab, dass Ihre ideologische Markttheologie gescheitert ist, sonst müssten Sie sich auf mehr einlassen, als nur diesen Hinweis zur Bankenaufsicht zu geben. Im Übrigen verschweigen Sie dabei regelmäßig in fast allen Ihren Beiträgen, Herr Westerwelle, dass es vier oder fünf gesetzliche Initiativen der Großen Koalition zur Verbesserung der Bankenaufsicht gegeben hat. Zuletzt wurde übrigens im Juni ein Banken- und Versicherungsaufsichtsgesetz mit überwältigender Mehrheit des Parlamentes beschlossen.
Sie verschweigen auch regelmäßig in den Parlamentsdebatten, dass wir es längst mit einer neuen Aufsichtsrichtlinie zur Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank zu tun haben, unbenommen der Tatsache, dass national wie international selbstverständlich weitere Themen zur Verbesserung der Bankenaufsicht anstehen.
Das, was ich faszinierend an dem finde, was Sie hier betreiben, Herr Westerwelle, möchte ich anhand eines Zitats des Journalisten Nils Minkmar verdeutlichen. Er nennt das die akustische Möblierung des öffentlichen Raumes. Sie verwenden immer dieselben Stichworte, aber immer mit einer selbst verordneten Begrenzung Ihres Blickwinkels.
Ich will Ihnen drei Beispiele aus Ihrer Rede geben. Sie behaupten mit großem Affront, großem Temperament und auch in einer erheblichen Lautstärke: Wir tragen dafür Sorge, dass Familien - verheiratet, zwei Kinder - mit einem Jahreseinkommen von bis zu 40 000 Euro keine Steuern bezahlen müssen. Dabei ist dies längst Fakt!
Die genaue Zahl beträgt nicht 40 000 Euro, sondern 39 000 und ein paar Zerquetschte, und zwar dank einer Steuerpolitik, die schon unter Schröder und später in der Großen Koalition gemacht worden ist. All diese Familien - verheiratet, zwei Kinder - zahlen, unter Anrechnung des Kindergeldes, in Deutschland keine Steuern.
Sie zahlen Sozialversicherungsabgaben. Da Sie sich immer auf dem Gebiet der Steuerpolitik verirren, gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das geht meistens schief.
- Sie versuchen, einen Nerv zu treffen: die größte Steuerhöhe in der Geschichte der Republik. Ich stehe gar nicht lange an, um zu bestätigen, dass das mit der Mehrwertsteuer so gelaufen ist und dass das im Kurzzeitgedächtnis der Menschen drin ist; da gebe ich Ihnen recht. Das ist, wie ich glaube, einer der Gründe, warum sich CDU/CSU und SPD darauf geeinigt haben, an dem Regelsatz der Mehrwertsteuer nicht herumzufummeln. Was Sie aber regelmäßig verschweigen, ist, dass in der Zeit dieser Großen Koalition, wenn man die Gesamtheit aller steuer- und abgabenpolitischen Beschlüsse betrachtet, eine Nettoentlastung für die Bürgerinnen und Bürger herausgekommen ist.
Das kommt bei Ihnen nicht vor.
So ähnlich ist es auch dann, wenn Sie sich auf andere Felder begeben, insbesondere, wenn Sie über Tatbestände der Unternehmensbesteuerung reden, zum Beispiel über die exorbitant hohe Substanzbesteuerung in Deutschland. Wissen Sie eigentlich, dass die Substanzbesteuerung in Deutschland im Vergleich mit anderen OECD- und EU-Staaten eine der niedrigsten ist?
Das wissen Sie nicht, aber Sie stellen sich trotzdem mit Aplomb hier hin und reden in einer Form über die Staatsverschuldung, dass man glauben könnte, wir hätten zurzeit nicht die größte Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik. Mein Vorgänger in Sachen ?größte Rekordschuldenzahl? hatte wirtschaftlich gute Zeiten. Damals betrug das Wachstum gut 1 Prozent. Das ist aber ein Unterschied zu minus 5 oder minus 6 Prozent. Insofern ist der Hinweis auf den Schuldenstand unzweifelhaft richtig. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es um Ihre Steuersenkungsarien geht. Wenn Sie Ihre Analyse in die Tatsache eingebettet hätten, dass wir nach einem Wirtschaftswachstum von minus 0,9 Prozent im Jahre 1975 jetzt mit minus 5 bis minus 6 Prozent die schärfste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik haben, die alle Haushaltskennzahlen wegfegt, und zwar bei Kommunen, Ländern und beim Bund, hätten Sie sich wenigstens intellektuell redlich verhalten; von politischer Redlichkeit will ich gar nicht reden.
Ihre Hinweise zur Abwrackprämie hatten Talkshowcharakter. Darüber kann ich lange reden. Im Übrigen gilt: Die Logik der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang völlig richtig gewesen. Eine Leitindustrie in Deutschland, an der nach wie vor ungefähr 700 000 bis 800 000 Arbeitsplätze hängen, vor dem Hintergrund eines der größten Einbrüche, die es je gegeben hat, zu stabilisieren, war völlig richtig. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn man Ihren Empfehlungen gefolgt wäre und diese Abwrackprämie nicht eingeführt hätte. Der Hinweis, das sei ein reiner Vorzieheffekt, ist richtig. Es ging ja gerade darum, die Automobilindustrie in dem sehr ungünstigen Jahr 2009/2010 zu stabilisieren, um den möglichen negativen Effekt in den Jahren 2010, 2011 folgende in einem hoffentlich besseren konjunkturellen Umfeld zu haben.
Den Einwand der Grünen lasse ich nicht gelten. Es hat keine dezidierte ökologische Lenkungsüberlegung dabei gegeben.
Der konjunktur- und arbeitsmarktpolitische Effekt stand im Vordergrund. Abgesehen davon hat die Abwrackprämie natürlich einen ökologischen Lenkungseffekt. Wenn Sie zehn Jahre alte Klitschen durch neue Autos mit einem anderen Emissionswert ersetzen, hat das einen Umwelteffekt.
Ich sprach vorhin davon, dass wir nicht nur über die ökonomischen Folgen dieser Krise zu reden haben. Das, was Sie und ich im Wahlkampf erleben, sind die sozialen Auswirkungen. Etwas komplizierter ausgedrückt, heißt das: Viele Leute zweifeln an der Balance dieser sozialen Marktwirtschaft. Man kann auch sagen: Diese Krise hat die legitimatorischen Grundlagen dieses Ordnungs- und Wirtschaftsmodells auf die Tagesordnung gehoben. Genau darum geht es in diesem Bundestagswahlkampf und bei der Bildung einer neuen Regierung: Es geht um den Spannungsbogen zwischen dem, was Franz Müntefering sittenwidrig niedrige Löhne nennt, und der Frage, wie wir zukünftig mit Mindestlöhnen umgehen - Sie wollen sie wieder abschaffen - auf der einen Seite und den sittenwidrig hohen Abfindungen und Boni und der Frage, wie wir diese eingrenzen können, auf der anderen Seite. Da ist uns vieles gelungen. Wir haben ein Gesetz zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen verabschiedet, das derzeit unter Wert verkauft wird. Wir hätten gerne mehr.
Es wird sehr stark darauf ankommen, auf internationaler Ebene andere Länder zu motivieren, die Boni stärker zu begrenzen, damit dieser Wettlauf von Land zu Land - Ähnliches gibt es bei Bundesligaspielern - aufhört. In London ist etwas Wichtiges beschlossen worden: Zum ersten Mal haben wir eine Limitierung beschlossen, keine Limitierung auf absolute Zahlen - das können Sie nicht machen -, aber eine Limitierung im Verhältnis der fixen Bestandteile zu den variablen Bestandteilen. Es wird sehr stark darauf ankommen, dass wir in Pittsburgh, nachdem das weiter aufgearbeitet worden ist, dazu kommen, dieses Verhältnis zu definieren, zum Beispiel 3 : 1, um ein Beispiel zu nennen. Diese internationale Festlegung müssen wir dann durch die jeweils nationalen Bankenaufsichten durchsetzen.
Wir haben auch eine Mindestanforderung im Bereich des Risikomanagements durchgesetzt. Dadurch wird zum ersten Mal die Bankenaufsicht in die Lage versetzt, Vergütungssysteme dahin gehend zu überprüfen, ob sie an dem nachhaltigen Unternehmenszweck orientiert sind und nicht infolge einer Quartalsbilanzorientierung in Gang gesetzt werden.
Eine drängende Frage, die die Menschen beschäftigt, lautet: Wer zahlt die Zeche? Die zweite große Frage, die sie stellen, lautet: Ziehen wir die richtigen Lehren aus dem, was in diesen Irrsinn geführt hat? Sie repräsentieren die Denke, die in diese Krise geführt hat. Genau die wollen wir nicht mehr.
Ich will zwei, drei Bemerkungen zu den vollmundigen Steuerversprechungen, die vorgetragen werden, machen. Ich werde wahrscheinlich auch in die Beete der Empfindlichkeiten der Union hineintreten. Die Nettokreditaufnahme des Bundes im nächsten Jahr wird wahrscheinlich bei 100 Milliarden Euro liegen statt geplanter 6 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanzplanung haben wir als Bund bereits jetzt durch Steuerausfälle 150 Milliarden Euro weniger. Die Staatsverschuldung wird von 1,6 Billionen auf wahrscheinlich 1,7 oder 1,8 Billionen Euro steigen. Die damit verbundenen Zinslasten werden steigen. Die Spielräume, über die Sie als Souverän zu entscheiden haben mit Blick auf die wichtigen Zukunftsfelder Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie Mittelstand werden dadurch immer weiter eingeengt. Wie man angesichts dieser Lage trotz Wahlkampfes vollmundig Steuerversprechungen machen kann, die sowohl die Einnahmesituation der Kommunen und damit die Daseinsvorsorge vor Ort als auch die der Länder und des Bundes buchstäblich aushebeln würden, ist mir ein absolutes Rätsel.
Der Hinweis von Herrn Kauder ist nicht tragfähig mit Blick auf die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die sich im Bürgerentlastungsgesetz niederschlägt. Dies bewirkt ab 1. Januar 2010 eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Aber Sie reden über den Faktor zwei oder drei; von der FDP will ich gar nicht reden. Das Simulationsmodell, das wir im Ministerium allein bezogen auf die Lohn- und Einkommensteuer plus Kinderfreibetrag gemacht haben, hat als Ergebnis 90 Milliarden Euro bei voller Jahreswirksamkeit. Das ist kein Witz. Das ist nicht die Abteilung ?Agitation und Propaganda?. Insbesondere mit Blick auf die Absenkung des Spitzensteuersatzes in Ihrem Dreistufenmodell aus verteilungspolitischen Gesichtspunkten muss man hervorheben, dass die FDP etwas vorschlägt, das im oberen Bereich achtmal so viel Entlastung wie im unteren Bereich bringt.
- So sind sie.
Das Bemerkenswerte ist, dass Sie nicht einmal dabei stehen bleiben. Die nächsten Nummern kommen. Sie wollen die Refinanzierungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuer rückgängig machen. Gute Reise, Herr Thiele! Wie machen wir das denn bezogen auf den Haushalt? Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Was halten denn CDU- und CSU-Kommunalpolitiker davon? Das, was Sie kompensatorisch einführen wollen, ist ziemlich unsicher und nimmt jedenfalls den Kommunen das Interesse, über eine eigene wirtschaftskraftbezogene Einnahmequelle das zu tun, wofür alle Sonntagsreden halten: Pflege von Handwerk und Gewerbe in dem eigenen Gemeindegebiet, weil man eine Rendite davon hat. Das kommt bei denen nicht mehr vor. Die Erbschaftsteuer - schön und sauber - wird in Zweifel gezogen. Die steuerpolitischen Vorstellungen, die da deutlich werden, würden bei ihrer Umsetzung die Achse dieser Republik definitiv aushebeln.
Teile Ihrer Vorstellungen sind leider Gottes nicht weit davon entfernt. Ich mache Ihnen eine Prophezeiung: Egal, wie die nächste Zusammensetzung der Regierung ist, keines dieser Versprechen wird erkennbar in der nächsten Legislaturperiode realisiert werden können, kein einziges.
Das sollten wir aus der letzten Operation Mehrwertsteuer als Lerneffekt mitnehmen; das richtet sich nicht an Sie von der FDP, sondern an uns alle. Abgesehen davon sollte man darauf hinweisen, dass ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung an anderer Stelle zu Entlastungen geführt hat, und zwar bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen. Das wird immer verschwiegen.
- Von 6,5 auf 2,8 Prozent herunter, lieber Herr Gysi, ist eine Entlastung in Höhe von 30 Milliarden Euro.
- Ja, Sie sind ein Experte der Steuerpolitik, mit dem es schwer ist, zu streiten. Da braucht man 90 Minuten, um das zu erklären, was Sie in 5 Minuten geredet haben.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Herr Bundesminister, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie natürlich weiterreden können, allerdings inzwischen auf Kosten des Kollegen Stiegler.
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
Das ist schade, weil ich hier gerade so schön in Fahrt bin.
- Ja, einiges daran stört Sie; aber Ihre Steuerpolitik werde ich Ihnen weiter vorführen. Das ist mein Kirchhof, was Sie da sagen.
Am 27. September dieses Jahres wird, wie ich glaube, über drei wichtige Grundsatzfragen entschieden:
Erstens. Ziehen wir Lehren aus dem Irrsinn, und zwar national und - indem wir uns entsprechend einbringen - auch international?
Zweitens. Sorgen wir für einen handlungsfähigen Staat, der wichtige öffentliche Dienstleistungen bezahlbar hält, auch für diejenigen, die dies privat sonst sehr viel teurer bezahlen müssten? Das gilt insbesondere für Bildung und die Frage der kostenlosen Zugänge zu Bildung.
Drittens. Halten wir diese Gesellschaft weltoffen, tolerant und so zusammen, dass die innere, die soziale Stabilität, die soziale Kohäsion nicht aufgegeben wird im Zuge dieser Wirtschafts- und Finanzkrise?
Vizepräsidentin Petra Pau:
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hermann Otto Solms das Wort.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Herr Minister Steinbrück, ich habe Ihre Rede vor dem Fernseher verfolgt und gehört, dass Sie zum Ausdruck gebracht haben, die FDP-Fraktion habe zum Thema Finanzmarkt keine Vorschläge gemacht. Daraufhin habe ich mir schnell vier wesentliche Positionspapiere, die wir in den letzten Wochen und Monaten verabschiedet haben, ausdrucken lassen.
Ich nenne einige Beispiele: ?Grundsätze für Managervergütungen? vom 24. März 2009,
?Liberale Antworten auf die Finanzkrise? - das ist ein Beschluss unseres Bundesparteitages in Hannover im Mai dieses Jahres -, ?Verbraucherrechte im Finanzmarkt stärken? vom 5. Mai 2009
und ein Papier mit dem Titel ?Bankeninsolvenz? vom Juni dieses Jahres, in dem wir die Einführung eines dem Insolvenzverfahren vorgelagerten Restrukturierungsverfahrens vorschlagen. Außerdem haben wir gefordert, die Bankenaufsicht neu zu strukturieren und vieles andere mehr.
Ich möchte nur darauf hinweisen: Bei diesem Thema ist es genauso wie in der Steuerpolitik: Sie nehmen die Vorschläge der Opposition nur lückenhaft zur Kenntnis,
um dann umso rücksichtsloser draufschlagen zu können.
Auch Ihre Berechnungen der Steuerausfälle sind reine Fantasie. Das Bundesfinanzministerium hat einem Bürger gegenüber schriftlich dargelegt - dieses Schreiben liegt mir vor -, dass es die Steuerausfälle nicht genau beziffern kann. Mit Schätzungen können wir aber keine Politik machen. Selbstverständlich wrden wir aufgrund des neuen Tarifs Steuerausfälle zu verzeichnen haben. Wir haben aber eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, durch die diese Steuerausfälle deutlich gemindert würden.
Im März dieses Jahres sprachen Sie von 25 Milliarden Euro, im Mai von 70 Milliarden Euro, und jetzt sind Sie bei 90 Milliarden Euro. Am Wahltag sagen Sie dann wahrscheinlich, dass die Vorschläge der FDP zu Steuerausfällen von 150 Milliarden Euro führen würden. Das ist überhaupt nicht konkret und auch völlig unhaltbar.
Zu dem, was die SPD will, haben Sie kein Wort gesagt.
Warum haben Sie nicht über die Steuererhöhungsvorschläge gesprochen, über die in der SPD diskutiert wird? Es wäre richtig gewesen, diese Alternative hier deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Ich bitte Sie daher: Wenn Sie sich mit der Opposition und der FDP beschäftigen, sollten Sie sich erst einmal deren Vorschläge anschauen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Minister, Sie können antworten.
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
Herr Kollege Solms, vielleicht konnten Sie nicht hier sein; aber selbstverständlich hat sich Herr Steinmeier zu den Vorschlägen der SPD geäußert. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass wir den Spitzensteuersatz um 2 Prozent erhöhen wollen, um das damit verbundene Steueraufkommen direkt und unmittelbar Bildungszwecken zukommen zu lassen.
Von dieser Maßnahme werden Verheiratete ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 250 000 Euro betroffen sein. Fragen Sie doch einmal die Zuschauer auf der Tribüne, wer von ihnen verheiratet ist und 250 000 Euro oder mehr verdient! - Wo ist also das Problem, wenn davon nur sehr wenige Menschen in Deutschland betroffen sind?
Für das, was Sie zu Ihren Einsparvorschlägen gesagt haben, bin ich Ihnen sehr dankbar - denn das war ein Steilpass -: Die Vorschläge, die ich in Ihrem Liberalen Sparbuch lese, würden auf einen absoluten Raubbau an unseren sozialen Sicherungssystemen und in der Arbeitsmarktpolitik hinauslaufen. Diese Maßnahmen würden ausgerechnet jene Bereiche treffen, die aufgrund von Absicherung und Sozialpartnerschaft in der Krise die wichtigste stabilisierende Funktion haben.
Diese Vorschläge werden durch Ihre Relativierung des Kündigungsschutzes ergänzt. Das, was Sie wollen, hätte zur Folge, dass 2,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als bisher keinen Kündigungsschutz mehr hätten. Über die Relativierung der paritätischen Mitbestimmung, die Sie in Ihrem Programm fordern, können wir gern diskutieren.
All die Papiere, die Sie zum Thema Finanzmarktkrise vorgelegt haben, sind Weichmacher.
Ich hätte gern einmal gewusst, wo sich die FDP konkret geäußert hat: zu Leerverkäufen,
zum Eigenbehalt im Zusammenhang mit Risiken, zu Eigenkapitalkennziffern, zum Thema Liquiditätspuffer und - darüber wird nämlich auf internationaler Ebene diskutiert - zur Überwachung bis ins Management hinein durch Colleges of Supervisors. Auch was die Bekämpfung der Steuerhinterziehung angeht, haben Sie nichts vorgelegt. Da haben Sie sich nur mir gegenüber über Stilfragen ausgelassen und meine Wortwahl kritisiert, aber auf die Substanz meiner Vorschläge sind Sie nie eingegangen. Dabei haben Sie auch einmal regiert und übrigens mit Blick auf die Schuldenentwicklung eine keineswegs geringere Verantwortung zu tragen als wir.
Gehen wir auf das, was in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat, noch einmal ein: Es hat eine lange Debatte darüber gegeben - übrigens gar nicht im Widerspruch zu Positionen der FDP -, ob wir den Finanzplatz Frankfurt auf Augenhöhe halten können mit Finanzplätzen wie London und New York. Die Alternative wäre gewesen, dass der Finanzplatz Frankfurt in die Kreisklasse absteigt und damit der Finanzplatz Deutschland nicht auf Augenhöhe bleibt - und das bei einer Realökonomie, die nach wie vor die drittgrößte oder viertgrößte der Welt ist und Finanzmarktprodukte und -dienstleistungen möglichst in Deutschland abrufen sollte und nicht etwa in Mailand, in Den Haag, in London oder New York. Darüber ging die Debatte zu Beginn dieses Jahrzehnts.
Selbstkritisch füge ich hinzu, dass sich wahrscheinlich die gesamte Politik den damit verbundenen Deregulierungsmechanismen zu sehr ergeben hat. Aber die FDP ist die allerletzte Partei, die mir vorhalten kann, sie sei ordnungspolitisch auf der anderen Seite gewesen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 233. Sitzung - wird morgen,
Mittwoch, den 09. September 2009,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]