von Wolfgang Kaiser
Wie kaum ein anderes deutsches Bauwerk spiegelt das Reichstagsgebäude die wechselvolle Geschichte Deutschlands seit der Gründung des Kaiserreichs wider. Auch wenn das Haus nur für die kurze Zeit der Weimarer Republik eine Volksvertretung beherbergte, so ist doch das Bauwerk für viele das Symbol deutscher Parlamentsgeschichte schlechthin.
Seit der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 gab es ein
Parlament für alle Deutschen, den Reichstag, dessen
Abgeordnete aus allgemeinen (wahlberechtigt waren bis 1919
allerdings nur Männer), gleichen, geheimen und direkten Wahlen
nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgingen. Der Name Reichstag
leitete sich ab von der gleichnamigen Versammlung der
Reichsstände des alten Reiches, die bis 1806 in Regensburg
getagt hatte.
Das Parlament des Kaiserreichs versammelte sich zuerst in einem
schon vorhandenen Gebäude, dann ab Oktober 1871 in einem als
Provisorium errichteten Haus in der Leipziger Straße. Niemand
sah allerdings voraus, dass dieser Behelfsbau 23 Jahre lang
Parlamentssitz bleiben sollte. Noch im Frühjahr 1871 rief das
Parlament eine Reichstagsbaukommission ins Leben, die einen
Bauplatz für einen repräsentativen Neubau suchen sollte.
Der in Aussicht genommene Ort an der Ostseite des
Königsplatzes (des heutigen Platzes der Republik) war jedoch
noch mit dem Palais des Grafen Raczynski bebaut, das aufgrund einer
komplizierten rechtlichen Situation zunächst nicht erworben
werden konnte. Nicht zuletzt deshalb scheiterte ein erster
Architektenwettbewerb im Jahre 1872. Zehn Jahre später, als
dieser Bauplatz dann doch zur Verfügung stand, endete ein
erneuter Wettbewerb mit der Vergabe des ersten Preises an den
Architekten Paul Wallot (1841-1912) aus Oppenheim.
Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 9. Juni 1884, einem regnerischen Montag, spielten die Vertreter des Parlaments eine untergeordnete Rolle. Der Reichstagspräsident von Levetzow – in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve – und die Vizepräsidenten waren zwar anwesend, durften aber die üblichen drei Hammerschläge erst nach dem Kaiser und den Mitgliedern der kaiserlichen Familie, nach Bismarck, nach den Generalfeldmarschällen und anderen wichtigeren Personen ausführen. In die Vorbereitung des festlichen Aktes waren die Vertreter des Parlaments ohnehin nicht einbezogen worden.
Als nach zehnjähriger Bauzeit am 5. Dezember 1894 der
Schlussstein für das Haus gelegt wurde, schwang zwar ein neuer
Kaiser, Wilhelm II., den Hammer, am höfischen und vor allem
militärischen Charakter des Zeremoniells hatte sich aber
nichts geändert. Am Tag danach trat das Parlament zum ersten
Mal in seinem neuen Hause zusammen.
Den Mittelpunkt des neuen Baus bildete der reich geschmückte Plenarsaal für 397 Abgeordnete, dessen Wände aus akustischen Gründen ganz mit Holz getäfelt waren. Die Intarsienarbeiten über der "Nein-Tür" und der "Ja-Tür" des Sitzungssaals zeigten Rübezahl und den seine Widder zählenden einäugigen Riesen Polyphem aus der griechischen Sage. Nach dieser Darstellung erhielt das parlamentarische Verfahren, bei unklaren Abstimmungsergebnissen die Abgeordneten beim Durchschreiten der Türen zu zählen, seinen Namen "Hammelsprung".
Über dem Plenarsaal erhob sich die aus Metall und Glas
gearbeitete große Kuppel, deren höchster Punkt 75 Meter
hoch aufragte. Durch die Glasdecke und die Seitenfenster dieser
Kuppel erhielt der Plenarsaal natürliches Licht.
Auch wenn das Parlament des Kaiserreiches nicht in der Lage war,
die Regierung wirksam zu kontrollieren, so bildeten sich doch im
Laufe der Jahre Strukturen einer Parlamentskultur heraus, auf denen
die Weimarer Republik aufbauen konnte. Das Reichstagsgebäude
war Schauplatz des Ringens um die Parlamentarisierung des Reiches
und erlebte die wachsende Bedeutung der Fraktionen. In den Jahren
des Ersten Weltkrieges waren die "Friedensresolution" des
Reichstags vom Juli 1917 und die Verfassungsänderung vom
Oktober 1918, wonach der Reichskanzler das Vertrauen des Parlaments
benötigte, markante Stationen dieser schrittweisen
Parlamentarisierung. Während des Krieges erst gab Kaiser
Wilhelm II. seinen Widerstand gegen die von Anfang an geplante
Inschrift "Dem Deutschen Volke" auf, sodass sie Ende 1916
angebracht werden konnte.
Am Ausgang des verlorenen Weltkrieges stand das
Reichstagsgebäude dann erneut im Mittelpunkt des politischen
Geschehens: Vor einer unübersehbaren Menge streikender
Arbeiter rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische
Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann, auf einem Balkon an der
Westfront des Hauses stehend, die Republik aus und besiegelte damit
das Ende der Monarchie. Seine Worte sind nur aus seinen
Erinnerungen überliefert: "Das Alte und Morsche, die
Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die
Deutsche Republik!"
Das erste Parlament der Republik, die verfassungsgebende Nationalversammlung, trat nicht im Reichstagsgebäude, sondern in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik, zusammen. Nach der Verabschiedung der Verfassung, im Herbst 1919, kehrte das Parlament, in dem seit Januar auch weibliche Abgeordnete saßen, wieder nach Berlin ins Reichstagsgebäude zurück.
In der Arbeit des Parlaments der Weimarer Republik spiegelten
sich die Aufbruchstimmung, die neue Rolle der Parteien und
Bewegungen, sehr bald aber auch die außenpolitischen Folgen
der Niederlage und die schwierigen politischen und wirtschaftlichen
Verhältnisse dieser Jahre wider.
Durch das neue Verhältniswahlrecht war die Zahl der Volksvertreter nicht mehr auf 397 festgeschrieben, sondern hing direkt von der Wahlbeteiligung ab, sodass sich am Ende der Weimarer Republik über 600 Abgeordnete im Plenarsaal drängten. Doch auch schon im Kaiserreich hatte sich das gesamte Gebäude als zu klein erwiesen; vor allem bot es zu wenig Büros und Arbeitszimmer für den wachsenden Bedarf der Abgeordneten und Fraktionen. In einer zeitgenössischen Publikation über den Reichstag findet sich eine beredte Klage eines fiktiven Abgeordneten über die Zustände im Haus: "Was nützten ihm die herrlichen Malereien an den Wänden, die feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz (...), wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen und Schreiben?"
1927 und 1929 wurden zwei Wettbewerbe für
Erweiterungsbauten auf einem nördlich gelegenen
Grundstück ausgeschrieben. Obwohl sich bedeutende Architekten
daran beteiligten, kamen keine befriedigenden Ergebnisse zustande.
Die sich verschärfende Finanznot gegen Ende der Weimarer
Republik verhinderte schließlich jegliche
Baumaßnahme.
Das Ende der Nutzung des Reichstagsgebäudes war
gleichzeitig auch das Ende der parlamentarischen Demokratie. In der
Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, vier Wochen nach der Ernennung
Hitlers zum Reichskanzler, wurde der Plenarsaal durch Brandstiftung
zerstört. Die Frage nach der Täterschaft mag zwar bis
heute strittig sein – fest steht jedoch, dass die
Nationalsozialisten die einzigen Nutznießer des Brandes
waren. Sie beschuldigten Kommunisten und Sozialdemokraten der
Urheberschaft und nahmen den Brand als Anlass, in derselben Nacht
mit massivem Terror gegen die Opposition vorzugehen. Am Tag nach
dem Brand unterschrieb Reichspräsident Hindenburg die so
genannte Reichstagsbrandverordnung "zum Schutz von Volk und Staat".
Paragraph 1 dieser Verordnung setzte die Grundrechte "bis auf
weiteres" außer Kraft, Paragraph 5 führte die
Todesstrafe für das politische Delikt "Hochverrat"
ein.
Der Reichstag kam nie wieder im Reichstagsgebäude zusammen, sondern traf sich von nun an in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes. Dort nahm der neue Reichstag gegen die Stimmen der SPD am 23. März 1933 das so genannte Ermächtigungsgesetz an, offiziell "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" genannt. Damit entmachtete das Parlament sich selbst und gab Hitler diktatorische Vollmachten. Innerhalb weniger Monate wurde auf der Basis dieses Gesetzes das gesamte politische System der Republik "gleichgeschaltet", im Juli 1933 waren alle Parteien außer der NSDAP verboten.Von nun an saßen in der Kroll-Oper nur noch nationalsozialistische "Abgeordnete", deren Hauptaufgabe es war, für große Hitlerreden eine pompöse Kulisse zu bilden, wie etwa am 1. September 1939, als Hitler den Beginn des Krieges verkündete.
Die Kuppel des Reichstagsgebäudes wurde zwar nach dem Brand
wieder instand gesetzt, sodass das Haus äußerlich
unversehrt wirkte, aber der Plenarsaal wurde, da nicht mehr
benötigt, nicht wiederhergestellt. Das Gebäude selbst
diente der Verwaltung und wurde unter anderem auch für
Propaganda-Ausstellungen benutzt.
1937 wurde Albert Speer als "Generalbauinspektor für die
Reichshauptstadt Berlin" mit dem Umbau Berlins nach den
Wünschen und Plänen Adolf Hitlers beauftragt. Im Rahmen
riesiger Baumaßnahmen, mit denen aus Berlin die
"Welthauptstadt Germania" werden sollte, war im Spreebogen eine
gigantische Kuppelhalle geplant, neben der das
Reichstagsgebäude verschwindend klein gewirkt hätte. Auch
für die Umgestaltung des Hauses wurden bereits erste
Pläne ausgearbeitet. Die Vorbereitung des Krieges setzte dann
allerdings andere Prioritäten. Im Krieg selbst waren in den
Kellern des Reichstagsgebäudes Teile der gynäkologischen
Abteilung der Charité untergebracht, sodass einige Berliner
das Licht der Welt im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes
erblickten.
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lag das
Reichstagsgebäude im Zentrum der Kampfhandlungen. Das Haus
besaß für die Sowjets eine besondere Bedeutung, da sie
es – zu Unrecht – als Symbol der Naziherrschaft
betrachteten. Am 2. Mai 1945 eroberten sowjetische Truppen nach
heftigen Kämpfen das Haus, das dabei schwer beschädigt
wurde. Das millionenfach verbreitete Foto der sowjetischen
Soldaten, die auf dem Dach die rote Fahne hissten, symbolisierte
für die Sowjets die Vollendung ihres Sieges über
Nazi-Deutschland.
In den Jahren nach dem Krieg stand das Haus als Ruine in einer von Trümmern und der zunehmenden Spaltung Berlins geprägten Stadtlandschaft. Die Grünflächen um das Haus wurden bepflanzt und dienten der Versorgung der hungernden Bevölkerung. Die Ruine bildete die Kulisse für eine Reihe von großen politischen Demonstrationen, deren wohl bedeutendste sich am 9. September 1948 gegen die Blockade Berlins richtete. Ernst Reuters Rede "Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!" wurde in ihrer Emotionalität zum Sinnbild des Behauptungswillens der von den Versorgungswegen abgeschnittenen Bevölkerung.
Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde die Ruine
enttrümmert, die Reste der Kuppel wurden aus
Sicherheitsgründen entfernt. Die Diskussion um das weitere
Schicksal des Baus – Abriss oder Wiederaufbau – war eng
verknüpft mit der Frage nach der zukünftigen Funktion des
Hauses in einem geteilten Land.
1955 beschloss der Bundestag, das Gebäude wiederherstellen
zu lassen, auch wenn die Art der Nutzung des Gebäudes noch
nicht feststand. Nach einem zulassungsbeschränkten
Architektenwettbewerb arbeitete Paul Baumgarten (1900-1984) die
Pläne für den Wiederaufbau des Hauses aus. Die Fassade
wurde, dem Geschmack dieser Jahre entsprechend, von allem
"überflüssigen" Schmuck und Stuck befreit. Auf die Kuppel
verzichtete man und kürzte die vier Ecktürme um ein
Geschoss. Im Inneren ließ Baumgarten die noch vorhandene
Originalsubstanz zum großen Teil mit Platten verkleiden,
schuf mehr Platz durch neue Zwischengeschosse und
vergrößerte den Plenarsaal, dessen Rundumverglasung
Transparenz vermitteln sollte.
Während der Bauarbeiten schnitt die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 das Reichstagsgebäude endgültig von seiner alten Umgebung ab und ließ seine Randlage deutlich werden. Wie überall, so stand auch zwischen dem Haus und dem Brandenburger Tor die Mauer nicht direkt auf der Grenzlinie, sondern knapp dahinter. Die exakte Grenze, die den alten Verwaltungsgrenzen entsprach, verlief mitten durch die Säulen, die am Ostflügel dem Gebäude vorgebaut waren.
Als das Haus zu Beginn der siebziger Jahre fertig gestellt war,
hatte die Entspannungspolitik zwar viele Erleichterungen für
die geteilte Stadt gebracht, zugleich aber die Präsenz des
Bundes genauer geregelt: Plenarsitzungen des Bundestages in Berlin
waren seit dem Viermächteabkommen nicht mehr möglich. Es
fanden aber regelmäßig Sitzungen einzelner Fraktionen
und Ausschüsse im Hause statt. Zum hundertsten Jahrestag der
Reichsgründung zog in den Westflügel die später
erweiterte Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" ein, die
bis zu ihrer Schließung im Herbst 1994 von mehr als
zwölf Millionen Besuchern aus dem In- und Ausland aufgesucht
wurde.
Als Ende 1989 die Mauer geöffnet und Anfang 1990 auch hinter dem Reichstagsgebäude abgerissen wurde, rückte das frühere Parlamentsgebäude nicht nur geografisch wieder ins Zentrum, sondern gewann auch erneut eine gewichtige politische Funktion. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 fand auf dem Platz der Republik der Festakt zur deutschen Einheit statt; am 3. Oktober tagte ein erstes gesamtdeutsches Parlament aus Bundestag und Volkskammer im Plenarsaal.
Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach
Berlin zu verlegen. Bald wurde klar, dass das
Reichstagsgebäude Mittelpunkt eines neu entstehenden
Parlaments- und Regierungsviertels werden sollte.
Nach einem Realisierungswettbewerb entschied sich der Ältestenrat des Bundestags für den überarbeiteten Entwurf des britischen Architekten Lord Norman Foster. Bevor der Rück- und Umbau des Gebäudes begann, gab der Bundestag grünes Licht für die seit vielen Jahren von Christo und Jeanne-Claude geplante Verhüllung des Reichstags. Die friedliche, entspannte Atmosphäre dieser Aktion im Sommer 1995 zog Millionen von Besuchern in ihren Bann und brachte dem Haus internationale Beachtung. Zugleich wurde deutlich, dass ein neues Kapitel der Geschichte des Reichstags beginnen konnte.
Seit April 1999 hat nun der Deutsche Bundestag das Gebäude bezogen, dessen innere und äußere Gestalt sich grundlegend geändert hat. Nach wie vor bildet der Plenarsaal das Zentrum des Hauses: fast doppelt so groß wie der wallotsche Sitzungssaal, von Licht durchflutet und von der großartigen Kuppel bekrönt. So umstritten sie einmal war, so sehr ist sie inzwischen zum Wahrzeichen des Hauses und zum Anziehungspunkt für Besucher geworden.
Fosters Umbau hat nicht nur ein modernes Parlamentsgebäude geschaffen, sondern zugleich durch die Integration der noch vorhandenen Bausubstanz dem Reichstagsgebäude einen Teil seiner historischen Identität zurückgegeben.
erschienen im Blickpunkt Bundestag, Ausgabe August Extra/2000