7. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 26. November 2009
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied Hans Matthöfer, der am 14. November dieses Jahres im Alter von 84 Jahren nach langer und schwerer Krankheit verstarb. Hans Matthöfer wirkte als Mitglied des Deutschen Bundestages und als Angehöriger der Bundesregierung über viele Jahrzehnte in herausragenden Ämtern für die Bundesrepublik Deutschland.
Hans Matthöfer wurde am 25. September 1925 in Bochum als Kind eines Hütten- und Fabrikarbeiters geboren. Nach Volksschule und Beginn einer kaufmännischen Lehre durchlebte er als junger Soldat von 1943 bis 1945 die Schrecken des Krieges. Nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft schloss Hans Matthöfer im Juli 1946 eine Dolmetscherprüfung sowie anschließend seine Lehre als Industriekaufmann erfolgreich ab. Über den zweiten Bildungsweg schloss er das Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1953 als Diplomvolkswirt ab und arbeitete dann bis 1957 in der Abteilung Wirtschaft beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall. Danach war er bei der Vorläuferorganisation der OECD in Washington und Paris tätig und kehrte 1960 nach Frankfurt zurück, wo er bis Anfang der 70er-Jahre die Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall leitete.
Seit 1950 engagierte sich Hans Matthöfer in der SPD, deren Bundesvorstand er von 1973 bis 1984 angehörte. Von 1985 bis 1987 war er Schatzmeister der SPD sowie bis 1990 Mitherausgeber des Vorwärts.
Hans Matthöfer wurde 1961 in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er ohne Unterbrechung bis 1987 angehörte. In den 26 Jahren seiner Parlamentszugehörigkeit gehörte er verschiedenen Ausschüssen an und war 1985/1986 stellvertretender Vorsitzender der Enquete-Kommission ?Technikfolgenabschätzung und -bewertung?.
Von 1972 bis 1982 gehörte Hans Matthöfer in verschiedenen Funktionen der Bundesregierung an, zunächst als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von 1974 bis 1978 war er Bundesminister für Forschung und Technologie. Von 1978 bis 1982 übernahm er das Amt des Bundesministers der Finanzen, und von Mai bis Oktober 1982 war er Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 1987 hat er sich aktiv in der Wirtschaft, insbesondere in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, engagiert.
Zeitlebens war Hans Matthöfer sowohl in Europa als auch international für Demokratie und Menschenrechte engagiert. Besondere Würdigung verdient sein Einsatz für die Demokratisierung Spaniens.
Hans Matthöfer hat Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik in wichtigen Ämtern und Funktionen mitgestaltet und sich durch sein Handeln um unser Land und seine Menschen große Verdienste erworben. Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Ich spreche seiner Familie im Namen des Hauses meine Anteilnahme aus.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Christel Humme hat gestern ihren 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf ihr im Namen des Hauses herzlich gratulieren,
ebenso dem Kollegen Dr. Hermann Kues, der den gleichen Geburtstag bereits vor einigen Tagen beging.
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf Drucksache 17/15 soll dem Haushaltsausschuss zusätzlich nach § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen werden. Hier handelt es sich also nur um die Ergänzung einer bereits stattgefundenen Überweisung. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/39 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)?
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Auf der Ehrentribüne hat eine afghanische Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Wir freuen uns über Ihr Interesse an dem für Sie wie für uns bedeutsamen Tagesordnungspunkt.
Für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen Dr. Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren aus Afghanistan, die Sie heute diese Debatte mitverfolgen! Wir freuen uns, wie Sie an dem Begrüßungsbeifall gemerkt haben, dass Sie heute als demokratische Repräsentanten unserer Debatte beiwohnen.
Wie schwierig und wie gefährlich der Einsatz in Afghanistan ist, davon konnte ich mich erneut in der letzten Woche in Kabul und Masar-i-Scharif überzeugen. Ich kehre mit großem Respekt vor der Leistung der Frauen und Männer zurück, die dort ihre Arbeit tun. Darum beginne ich ausdrücklich mit dem Dank an diejenigen, die in Afghanistan für Deutschland ihren Dienst tun, sei es in Zivil, sei es in Uniform.
Ich füge hinzu: Dieser Einsatz ist ein schwieriger Einsatz; das weiß hier jeder. Es ist auch ein politisch schwieriger Einsatz, weil ein Auslandseinsatz der Bundeswehr selbstverständlich getragen werden muss von dem Parlament, von der Gesellschaft, auch von dem Vertrauen unseres Parlamentes und unserer Gesellschaft. Deswegen füge ich mit großem Nachdruck hinzu: Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit schaffen die Grundlage für Vertrauen. Das ist die Regierung dem Parlament auch schuldig. Ich will das nachdrücklich sagen.
Wir engagieren uns in Afghanistan aus Menschlichkeit, aber vor allem aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Afghanistan und das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet dürfen nicht erneut zum Rückzugsgebiet für Terroristen werden. Damit wir hier in Freiheit und Sicherheit leben können, auch dafür ist der Einsatz da.
Deswegen möchte ich zunächst einmal nachdrücklich unterstreichen: Ja, wir wollen den zivilen Aufbau. Wir wollen dafür sorgen, dass ein Aufbau eigener ziviler und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan möglich ist. Ja, wir wollen auch menschlich helfen, aber die menschliche Hilfe setzt Sicherheit voraus, und ohne die Frauen und Männer der Bundeswehr gibt es keine Sicherheit für den zivilen Aufbau. Dieser Zusammenhang darf nicht geleugnet werden.
Deswegen knüpfe ich an das an, was von dem Außenminister der letzten Bundesregierung immer wieder gesagt worden ist: Ein kopfloses Ende des internationalen Einsatzes in Afghanistan wäre unverantwortlich. Dadurch würde in dieser explosiven Region der Welt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran und zu den Nuklearmächten Pakistan und Indien eine Zone der Instabilität von bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen. Das können wir nicht zulassen. Hier geht es um unsere eigene Sicherheit. Auch deswegen beschließen wir diesen Einsatz.
Sicherheit ist das Schlüsselwort. Ohne Sicherheit gibt es in Afghanistan keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen Aufbau demokratischer Institutionen, keine Freiheit und keine Gleichberechtigung. Ohne Sicherheit werden in Afghanistan keine Brunnen, keine Krankenhäuser und keine Schulen gebaut, schon gar nicht für Mädchen. Sicherheit ist daher das Schlüsselwort für unseren Einsatz. Darauf konzentrieren wir uns: auf den Schutz und die Sicherheit Deutschlands und Europas, auf die Verbesserung der Sicherheit für die Menschen in Afghanistan, aber auch auf die bestmögliche Sicherheit für deutsches Zivilpersonal und unsere Soldaten. Ihnen müssen wir vor allem die richtige Ausrüstung zur Verfügung stellen, und auch darauf wird die Bundesregierung ihr Handeln ausrichten.
In der letzten Woche habe ich den Grundstein für eine Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif legen können. Das ist das ganz praktische Ergebnis unserer Strategie. Wer Afghanistan sicherer machen will, muss für mehr afghanische Polizisten sorgen. Der deutsche Beitrag zur Polizeiausbildung ist beträchtlich und wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch international hoch geschätzt. Er muss rasch weiter ausgebaut werden. Unser Ziel ist eine selbsttragende Sicherheit in Afghanistan, damit eine Übergabe der Verantwortung in Verantwortung erfolgen kann. Wir wollen mit dem Konzept der selbsttragenden Sicherheit so weit kommen, dass eine Abzugsperspektive in Sicht gerät. Niemand will diesen Einsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, und weil niemand das will - das wissen wir -, muss selbsttragende Sicherheit geschaffen werden. Das steht im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen.
Das heißt, dass es um den Aufbau der Polizei vor Ort geht. Dazu werden wichtige Weichenstellungen schon im Januar, mutmaßlich auf einer eigenen Afghanistan-Konferenz, gemeinsam mit unseren internationalen Partnern vorgenommen werden. Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen: Über 40 Staaten beteiligen sich an der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Mission.
Deutschland wird und muss einen seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung entsprechenden Beitrag dazu leisten. Weil diese Diskussion stattfindet, möchte ich noch einmal unterstreichen: Wir setzen das Afghanistan-Mandat fort - in der bekannten Zahl. Wir wissen, dass es bei unseren Verbündeten international eine Diskussion über Ziele und Strategien gibt. Aber das ist die richtige Reihenfolge: Erst die Ziele definieren, dann die Strategie im Bündnis mit unseren Partnern verabreden, und erst dann kann es um die Frage gehen, was das konkret für den Einsatz bedeutet. Wenn man sagt, dass mehr Soldaten eingesetzt werden müssen, bevor man die Strategie im Bündnis gemeinsam verabredet hat, ist das die falsche Reihenfolge. Das sage ich hier mit großem Nachdruck.
Der wichtigste Bündnispartner in diesem Einsatz bleiben die Afghanen selbst. Nicht die internationale Gemeinschaft fällt Entscheidungen über Afghanistan, sondern wir helfen, damit Afghanen mit Afghanen über die Zukunft ihres Landes entscheiden können. Das bedeutet auch, dass die Vorstellung, die es gelegentlich noch gibt, wir könnten ein Afghanistan gewissermaßen nach unserem westlichen Bilde schaffen, nicht realistisch ist. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Mit Blick auf die anstehende Afghanistan-Konferenz und unser künftiges Engagement bedeutet das folgende Zielvorgaben - ich will sie kurz schildern -:
Erstens. Wir müssen an eine stärkere afghanische Eigenverantwortung appellieren. Deswegen werden wir mit dem gewählten Präsidenten Karzai zusammenarbeiten. Gleichzeitig haben wir unsere Ansprüche an ihn und seine Regierung, insbesondere bei der guten Regierungsführung und bei der Korruptionsbekämpfung; das haben alle Bündnispartner, auch ich selbst, vor Ort ausdrücklich und glasklar formuliert.
In seiner Rede zur Amtseinführung fand Präsident Karzai die richtigen Worte; das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt müssen den richtigen Worten richtige Taten folgen. Je mehr die Afghanen für sich selbst tun, desto mehr kann die internationale Gemeinschaft für Afghanistan tun. Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung sind für den Erfolg unverzichtbar.
Zweitens. Wir müssen erreichen, dass mehr Afghanen den Aufständischen widerstehen. Wer zur Aufgabe des Kampfes bereit ist und bestimmte Mindestkriterien erfüllt, der sollte ein Angebot zur Rückkehr in die afghanische Gesellschaft erhalten. Nur so können wir auch den harten Kern der Taliban isolieren.
Drittens. Wir müssen auf eine regionale Lösung hinarbeiten. Die von der Region ausgehende Destabilisierungsgefahr kann nur verringert werden, wenn wir die Nachbarstaaten in unsere Bemühungen einschließen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Bitte, Herr Kollege.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön, Herr Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Außenminister, bevor Sie zum Ende kommen, wollte ich wissen - Sie haben den Punkt der Ehrlichkeit angesprochen -: Wie bewerten Sie angesichts des in der Bild-Zeitung veröffentlichten Berichts, demzufolge von Anfang an Kenntnis über zivile Opfer vorlag, die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums in der Amtszeit Ihres Kollegen Jung? Dieses Haus wurde von der Bundesregierung bislang nicht darüber unterrichtet.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Ich mache darauf aufmerksam, dass in dieser Debatte noch andere Wortmeldungen erfolgen werden, und bitte um Verständnis dafür.
Offen gestanden glaube ich: Wenn ich hier als Außenminister zum ersten Mal ein solches Mandat einbringe, dann sollten wir der Debatte Genüge tun. Das gilt auch für Zwischenfragen, die nichts anderes zum Zwecke haben, als eigene Süppchen zu kochen. Das ist völlig unangemessen.
Sie wissen, dass es längst Entscheidungen gibt. Es ist nicht an mir, hier zu diesen Entscheidungen zu sprechen.
- Frau Kollegin Künast, Sie rufen dazwischen. Ich muss Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, worüber wir hier reden?
Wir reden darüber, dass Frauen und Männer in Gefahr kommen. Sie sitzen in der ersten Reihe und lesen Zeitung. Es ist absolut inakzeptabel und würdelos, wie Sie das hier machen.
Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates, damit Deutschland entsprechend seinen wohlverstandenen eigenen Sicherheitsinteressen handeln kann, damit unser Land ein verantwortungsvoller und verlässlicher Bündnispartner bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus bleibt, damit die Stabilisierung Afghanistans gelingt und wir die Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Übergabe schaffen können.
Ich würde mir wünschen, dass sich die Damen und Herren aus der Opposition in dieser Stunde ihrer eigenen Verantwortung in diesem Hohen Hause bewusst sind, so wie wir uns in der Opposition bei dieser Frage immer unserer Verantwortung bewusst gewesen sind.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zunächst aber erhält das Wort der Kollege Johannes Pflug für die SPD-Fraktion.
Johannes Pflug (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem Jahre 2001 engagieren wir uns nun zivil und militärisch in Afghanistan. Es ist heute das zehnte Mal, dass der Deutsche Bundestag das ISAF-Mandat für Afghanistan verlängern soll.
Ziele des Einsatzes in Afghanistan waren im Jahre 2001 - ich habe damals dazu gesprochen - folgende:
Punkt eins. Wir wollen versuchen, das internationale Terrornetzwerk von Bin Laden, von al-Qaida zu zerstören, mindestens nachhaltig zu stören.
Punkt zwei. Wir wollen versuchen, so etwas wie regionale Stabilität in Afghanistan zu erreichen.
Punkt drei. Wir wollen versuchen, den Afghanen dabei zu helfen, einen Staat, eine Verwaltung aufzubauen und eine - so habe ich mich auch damals ausgedrückt - halbwegs funktionierende Demokratie zu errichten.
Wer diese Ziele betrachtet, muss zu dem Ergebnis kommen: Es sind Ziele, die im afghanischen Interesse sind, die im internationalen Interesse sind und die natürlich auch im deutschen Interesse sind. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Wir stehen nicht zuletzt bei der afghanischen Bevölkerung im Wort. Seit dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 haben wir manches erreicht. Unser militärisches und ziviles Engagement in Afghanistan hat Früchte getragen. Sie kennen die Zahlen: 3 500 Schulen sind errichtet worden. Landesweit geht rund die Hälfte der Kinder zur Schule, davon sind mittlerweile 40 Prozent Mädchen. 25 Prozent des Lehrpersonals sind Frauen. 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die Kindersterblichkeit ist erheblich zurückgegangen. Das sind Erfolgszahlen. Das ist das Ergebnis internationaler Solidarität.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn ich solche Zahlen sehe, dann erinnere ich mich immer daran, dass Sie auf Ihren Veranstaltungen gerne rufen: Hoch die internationale Solidarität.
Ich frage mich, ob Sie übersehen, was diese Mädchen und Frauen, die uns hier regelmäßig besuchen, einfordern. Sie sagen immer: Ihr könnt uns nicht im Stich lassen. Ihr könnt jetzt nicht aus Afghanistan weggehen.
Dennoch führen massive Rückschläge zu zunehmender Besorgnis und Ablehnung des deutschen Afghanistan-Einsatzes in unserer Bevölkerung. Das bedeutet: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Denn es gibt gewaltige Probleme in Afghanistan. Es gibt eine steigende Zahl von Selbstmordanschlägen. Es gibt eine starke Korruption. Es gibt die Drogenproblematik. Es gibt aber auch Probleme im Zusammenhang mit unseren eigenen Einsätzen.
Herr Minister Jung, Sie werden erwartet haben, dass dies angesprochen wird. Man kann heute nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen.
Die Berichte, die es seit letzter Nacht bzw. heute Morgen gibt, lassen sehr ernste Befürchtungen aufkommen. Ich sage ganz deutlich: Wenn es richtig ist, was die Medien berichten - Sie schütteln mit dem Kopf; ich bin nicht für das verantwortlich, was die Medien berichten;
es steht in der Bild-Zeitung und war heute Morgen im Fernsehen zu hören -, dass Sie dem Parlament Informationen gezielt vorenthalten haben,
Informationen nicht gegeben haben, dann ist das mehr als ein ernster Vorgang.
Herr Minister Jung, wenn das richtig ist, dann wird Ihnen klar sein, dass Sie an einem Untersuchungsausschuss nicht vorbeikommen, es sei denn, Sie ziehen vorher die Konsequenzen.
Heute Morgen wurden im Fernsehen Ausschnitte eines Videofilms gezeigt, und es wurde darüber berichtet, dass ein Bericht der Feldjäger vorgelegen haben soll, den Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis bekommen oder über den Sie das Parlament nicht informiert haben. Wenn es stimmt, dass angeordnet wurde, die Zivilpersonen oder meinetwegen auch die Taliban, die sich an dem Platz in Kunduz aufgehalten haben, nicht durch Tiefflüge zu vertreiben - das wurde in der Berichterstattung auch gesagt -, dann ist das ein verdammt ernster Vorgang. Ich sage ganz deutlich: Das erfordert einen Untersuchungsausschuss.
Wir müssen klarstellen: Nach dieser langen Zeit steht der Einsatz der Bundeswehr natürlich an einem Wendepunkt. Wir müssen uns fragen: Was haben wir in Afghanistan bisher erreicht? Was können wir dort noch erreichen? Welche Dinge sind schiefgelaufen? Herr Minister zu Guttenberg, ich vertraue darauf, dass Sie das, wie Sie gesagt haben, rückhaltlos überprüfen und das Parlament entsprechend unterrichten werden.
Die Fragen ?Was ist schiefgelaufen?? und ?Was können wir noch machen?? müssen wir ehrlich beantworten. Der Hintergrund muss dabei sein, dass wir uns natürlich nicht ewig in Afghanistan aufhalten können, unser Engagement dort nicht ewig fortsetzen können.
Unser Fraktionsvorsitzender und ehemaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig eine sogenannte Roadmap bzw. einen Zehnpunkteplan vorgelegt, in dem die für einen Abschluss des Afghanistan-Einsatzes in den nächsten Jahren notwendigen Schritte aufgezeigt werden. Dabei gilt natürlich der Grundsatz - er ist für uns unbestritten -: Je schneller die afghanische Armee und Polizei in der Lage ist, selbst für Sicherheit im Land zu sorgen, desto früher können die internationalen Truppen abziehen.
Wir müssen sehr viel entschlossener gegen Korruption, Misswirtschaft und organisierte Kriminalität vorgehen. Die internationale Gemeinschaft muss eine gute Regierungsführung stärker und entschiedener einfordern. Auch das Problem des Drogenanbaus muss endlich gelöst werden. Dabei muss vor allen Dingen der neue, wiedergewählte Präsident Karzai - natürlich darf man erhebliche Zweifel am Grad seiner demokratischen Legitimation anmerken; aber er ist nun einmal im Amt - in die Pflicht genommen werden.
Die Stabilität Afghanistans ist für die Sicherheitslage in der gesamten zentralasiatischen Region wichtig und notwendig. Ohne ein stabiles Afghanistan wird die Stabilität der benachbarten Staaten immer bedroht sein. Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen unmittelbar an Afghanistan und müssen ihre Grenzen schützen. Letzte Berichte über eine zunehmende Konzentration von Islamisten und Terroristen im Ferghana-Tal müssen uns sehr besorgt machen.
Die zentrale Rolle spielt allerdings Pakistan. Das Land ist für die Islamisten immer noch logistisches Hinterland. Zwar ist Pakistan am Kampf gegen den Terror beteiligt; aber Pakistan ist viel zu schwach, instabil und intern zerstritten, um wirksam handeln zu können. Es hat keinerlei Kontrolle über sein Grenzgebiet zu Afghanistan. Gleichzeitig ist Pakistan Atommacht. Es ist in unser aller Interesse, dass die Atomwaffen nicht in falsche Hände geraten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor genau einem Jahr war ich eine Woche in Pakistan. Damals standen die Taliban 150 bis 180 Kilometer von Islamabad entfernt. Es heißt, dass die amerikanische Regierung 200 bis 400 Millionen Dollar ausgegeben hat, um das Atomwaffenpotenzial zu sichern. Aber es gibt gerade in Pakistan neuere Erkenntnisse darüber, dass es um diese Sicherung gar nicht so gut bestellt ist, sondern dass es sehr schnell zu erheblichen Problemen kommen könnte. Deshalb werden wir die Idee einer internationalen Konferenz, die voraussichtlich am 28. Januar nächsten Jahres in London stattfinden soll, nachhaltig unterstützen. Allerdings sind wir der Meinung: Es wäre gut, wenn eine solche Konferenz in Afghanistan selbst stattfinden könnte, wenn dort die notwendige Sicherheit garantiert werden könnte.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Pflug.
Johannes Pflug (SPD):
Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wir werden der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen. Ich sage aber nochmals: Herr Minister zu Guttenberg, wir vertrauen darauf, dass Sie das, was passiert ist, rückhaltlos überprüfen und das Parlament darüber informieren. Ich wiederhole: Wenn sich die Berichte als richtig erweisen, werden wir die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss stellen.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. zu Guttenberg.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Pflug, ich will gerne Stellung nehmen zu dem geheimen Untersuchungsbericht, über den die Bild-Zeitung heute berichtet. Dieser Bericht war mir zum Zeitpunkt meiner Erklärung zu dem Bericht des ISAF-Kommandeurs nicht bekannt. Ich habe ihn jetzt zum ersten Mal vorgelegt bekommen.
Dieser Bericht wurde - wie andere Berichte und Meldungen aus der letzten Legislaturperiode - nicht vorgelegt. Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwortung übernommen, und die personellen Konsequenzen sind erfolgt.
- Lassen Sie mich bitte ausreden! - Der Generalinspekteur hat mich gebeten, ihn von seinen Dienstpflichten zu entbinden. Ebenso hat Staatssekretär Wichert Verantwortung übernommen. - Wenn ich hier hämisches Lachen höre, will ich an dieser Stelle trotzdem beiden für ihren jahrzehntelangen Dienst für unser Land danken, meine Damen und Herren.
Selbstverständlich werden diese Berichte unverzüglich ausgewertet
und den Fraktionen zur Einsicht zur Verfügung gestellt. Das versteht sich von selbst, und das ist auch mein Verständnis von Transparenz, was den Umgang mit solchen Vorfällen anbelangt.
Der Bericht wird auch der Generalbundesanwaltschaft übergeben.
Bei meinen jüngsten Besuchen in Afghanistan - ich grüße die Gäste, die heute hier sind - in Kunduz und in Masar-i-Scharif haben mir unsere Soldaten, aber auch die zivilen Helfer in persönlichen Gesprächen wiederholt mitgegeben, wie wichtig ihnen ist, dass die Debatte und die Diskussion über ihren Einsatz verantwortungsvoll geführt wird, in dem Sinne verantwortungsvoll, dass wir uns auch in diesem Rahmen ein gewisses Niveau in der Diskussion leisten, meine Damen und Herren.
Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darauf hinweisen, welchen Dienst die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Helfer vor Ort leisten: Sie sind motiviert, sie sind professionell, sie sind pflichtbewusst, sie haben selbstverständlich auch Emotionen, und sie leisten Vorbildliches. Auch an einem Tag, wo man über Dinge diskutiert wie die, über die wir heute diskutieren, dürfen wir ihnen von Herzen danken für ihren Einsatz, den sie vor Ort annehmen und entsprechend wahrnehmen.
Sie stellen sich jeden Tag der Gefahr von Verwundung oder Tod. Diese Wahrheit gehört zu dem Einsatz ebenso wie die, dass in Teilen Afghanistans kriegsähnliche Zustände herrschen. Unsere Soldatinnen und Soldaten wissen das. Ihre Einschätzung muss für uns ebenso wichtig sein wie manche, die wir gelegentlich aus der Ferne wahrnehmen.
Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes bis heute sind 36 Soldatinnen und Soldaten gefallen bzw. gestorben und über 120 wurden verletzt bzw. verwundet. Von daher, meine Damen und Herren, dürfen wir uns unsere Entscheidung wie bislang alles andere als leicht machen. Unsere Entscheidung hat in dieser Hinsicht größtes Gewicht. Sie hat mit unserer Verantwortung gegenüber unseren Soldaten zu tun, einer Verantwortung, die letztlich Leben und Tod beinhaltet. Sie ergibt sich - Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen - aus unseren Sicherheitsinteressen. Diese Sicherheitsinteressen sind weiterhin maßgeblich gegeben. Unsere Verantwortung ergibt sich aber auch aus Bündnisverpflichtungen; auch das wollen wir nicht vergessen, meine Damen und Herren. Es ist eine gestaltende Aufgabe, bei der wir gefordert sind und bei der wir Ergebnisse nur im Zusammenwirken mit unseren Partnern erzielen können. Meine Damen und Herren, wir sollten aufhören, den Afghanistan-Einsatz lediglich zum Lackmustest für die NATO herabzustilisieren. Wenn er überhaupt ein Lackmustest ist, dann einer für die gesamte internationale Gemeinschaft.
Ich halte es für einen richtigen und für einen klugen Schritt, dass wir Anfang des nächsten Jahres auf einer Afghanistan-Konferenz zusammen mit den Vertretern Afghanistans auch diesen unseren Einsatz neu justieren und auf eine neue Grundlage stellen. Die Frau Bundeskanzlerin hat dazu gemeinsam mit dem britischen Premierminister und mit dem französischen Präsidenten den Anstoß gegeben. Sie können von der Bundesregierung daher zu Recht einen entsprechenden Beitrag erwarten, einen gestaltenden Beitrag inhaltlicher Art zunächst: wie diese Afghanistan-Konferenz zu sehen ist und welche Impulse wir geben können.
Ich fand sehr richtig, dass Kollege Westerwelle gesagt hat, wie die Abfolge zu sein hat: dass wir uns jetzt nicht den Planungen anderer unterwerfen, sondern dass wir unseren Zeitrahmen so einhalten, dass auch eine sinnvolle Debatte im Bundestag, eine Einbindung des Parlamentes, stattfinden kann, damit wir auch unseren Traditionen gerecht werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Afghanistan-Einsatz gerade auch - das klingt so furchtbar banal und ist trotzdem so entscheidend - vom Ende her denken. Das erfordert eine Klarheit hinsichtlich der Ziele, eine klare Ansprache dessen, was wir erreichen wollen, und eine entsprechend tief gehende Diskussion. Vor allen Dingen müssen wir noch deutlicher festlegen, wie und unter welchen Umständen wir diesen Einsatz auch beenden können. Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier ein klarer Rahmen definiert wird. Das erwarten die Menschen in unserem Lande von der politischen Führung, und auch die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz dürfen von uns erwarten, dass wir uns hier klar sind.
Deshalb trete ich auch und gerade international für die Festlegung klarer Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt, ein. Wir werden auch unsere nationalen Grundlagen und Strukturen angehen, wenn wir über die Koordinierung und über die Führung unseres Gesamtengagements sprechen. Das schließt im Übrigen die eigentlich selbstverständliche Erkenntnis mit ein, dass die Bundeswehr alleine nicht für die Erreichung unserer Ziele und die Lösung der jeweiligen Probleme sorgen kann.
Es ist also gut und richtig, dass wir im Zuge der heutigen Diskussion über das Mandat ISAF, über den Einsatz, gerade auch diese Vernetzung miteinander diskutieren. Es reicht jedoch nicht, immer nur den Blick auf einen Teil zu richten. Wir müssen ressortgemeinsam handeln. Ich kann nur sagen: Die Art, wie wir uns miteinander abstimmen,
stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die jeweils beteiligten Ressorts den Afghanistan-Einsatz als eine gemeinsame Aufgabe ansehen und dieser gemeinsamen Aufgabe auch mit aller Kraft und unter Bündelung aller Anstrengungen nachgehen.
Dieses Ziel ist klar formuliert: Wir wollen, dass die Afghanen bald selbst in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das ist das, was wir ?Übergabe in Verantwortung? nennen. Die Übergabe in Verantwortung ist übrigens nicht mit einer Exit-Strategie gleichzusetzen, mit der ein Enddatum gesetzt wird. Es zeugt nur von einer begrenzten Weisheit, ein Enddatum zu setzen, weil wir damit, wenn wir sagen: ?Zu diesem oder jenem Zeitpunkt soll der letzte Soldat Afghanistan verlassen haben?, im Grunde eine Steilvorlage für all jene liefern, die die Destabilisierung Afghanistans weiterhin zum Ziel haben. Von daher ist es wichtiger, Zielmarken zu setzen - auch Zielmarken für den Beginn der Übergabe von Verantwortung - und diese Zielmarken klar zu definieren. Von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für die internationale Sicherheit ausgehen.
Wir sprechen gerne über Aufständische, und wir sprechen in dem Zusammenhang gerne auch darüber, dass der Konnex zur internationalen Sicherheit gesucht werden muss; das ist richtig. Wahrscheinlich muss man auch noch etwas genauer hinblicken und prüfen, ob jeder, den wir bisher unter ?aufständisch? subsumiert haben, jemand ist, der die internationale Sicherheit gefährdet, oder ob man an der einen oder anderen Stelle auch klarere Trennlinien ziehen muss.
Wir müssen es verhindern, dass Afghanistan wieder zum Ruhe- und Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus wird. Es gibt weiterhin klare Gefährdungen: auch durch terroristische Maßnahmen und damit auch mit Blick auf unser Land.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:
Aber gerne.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister, nach dem, was Sie vorhin zu den Berichten der Bild-Zeitung gesagt haben, frage ich Sie, bevor Sie diese allgemeinen Ausführungen zur Strategie in Afghanistan zu Ende führen: Sind Sie bereit, Ihre persönliche Rechtfertigung des Einsatzes der Bundeswehr gegen die Tanklastwagen bei Kunduz zu korrigieren? Nach dem, was Sie jetzt wissen - offenbar sind die Berichte ja richtig, sonst hätten Sie sie dementiert -, können Sie Ihre Rechtfertigung doch nicht mehr aufrechterhalten.
Ich schließe eine zweite Frage an: Halten Sie es im Deutschen Bundestag nicht mehr für richtig, dass ein Minister, dessen Ministerium hinsichtlich der Kommunikationspolitik ganz offensichtlich völlig versagt hat und den Eindruck eines Tollhauses macht - man muss sich nur ansehen, dass die Berichte angeblich nicht angekommen sein sollen -, die Verantwortung für den Zustand seines Ministeriums übernimmt und die Konsequenzen daraus zieht?
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:
Kollege Ströbele, ich habe auf die Konsequenzen hingewiesen, und ich habe diese Konsequenzen nicht einem Medium mitgeteilt, sondern den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, weil ich finde, dass sich das so gehört. Das ist der erste Schritt.
Zum Zweiten habe ich zu Beginn gesagt - Sie haben sicherlich genau zugehört; davon gehe ich bei Ihnen grundsätzlich aus -, dass ich meine Bewertung auf der Grundlage des COMISAF-Berichtes abgegeben habe. Das war der einzige Bericht, der mir - wann war das? - ein paar Tage nach Amtsantritt vorlag. Ich werde selbstverständlich auch selbst eine Neubewertung der Fälle auf der Grundlage der Berichte, die mir in einer Gesamtschau gegeben sind, vornehmen. Auch das gehört sich, Herr Kollege. Ich glaube, damit sind die beiden Fragen entsprechend beantwortet.
Deutschland ist weiterhin der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Das wird gelegentlich vergessen. Wir tragen die Verantwortung für einen großen Teil des Nordens Afghanistans. Es geht um eine Region - daran kann man gelegentlich erinnern -, die halb so groß ist wie Deutschland, in der rund 35 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben. Die Stabilität und die Wirtschaftskraft dieser Region sind wichtig für ganz Afghanistan. Es lohnt auch gelegentlich, an den Aspekt Wirtschaftskraft einer Region zu erinnern. Auch das gehört in den Gesamtkontext mit hinein.
Wir führen das Regionalkommando Nord und stellen dort maßgebliche Unterstützungsleistungen in den Bereichen Führung, Führungsunterstützung, Lufttransport, Sanitätsdienst, Sanitätsdienstlogistik sowie Aufklärung. Wir betreiben zwei der sogenannten PRT im Norden, namentlich in Kunduz und in Faizabad. Man darf an der Stelle auch sagen, dass sich in den letzten Monaten die Situation in Faizabad vergleichsweise positiv entwickelt hat, wohingegen bekannt ist, dass sich um Kunduz herum die Sicherheitslage signifikant verschärft hat und wir auch immer damit rechnen müssen, dass angesichts der Versorgungsrouten die laufende Situation nicht zwingend an jedem Ort einfacher werden muss.
Wir beteiligen uns maßgeblich an der Ausbildung der afghanischen Streitkräfte. Eines der Schlüsselelemente zu einem Erfolg wird weiterhin gerade dieser Ausbildungsaspekt sein: Training, Training, Training, damit man die Übergabe an entsprechend ausgebildete Sicherheitskräfte stattfinden lassen kann.
Daneben stellt die Bundeswehr Feldjäger zur Unterstützung der Polizeiausbildung im Einsatz. Auch die Polizeiausbildung bleibt eine wichtige Säule. Wir müssen hier weiterhin auch mit den europäischen Partnern alle Kraft daransetzen, dass die Polizeiausbildung in dem Umfang gewährleistet werden kann, den wir uns in seinen Höchstgrenzen vorstellen.
Seit dem Jahr 2002 unterstützen wir den Aufbau der ?Drivers and Mechanics School? der afghanischen Streitkräfte in Kabul. Aus dieser Schule wächst mit unserer Unterstützung die Logistikschule der Armee auf. Wir werden uns auch weiterhin mit der ?Afghan Defence University? und der Pionierschule noch stärker in der Schullandschaft der Streitkräfte engagieren. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Für unser Ziel selbsttragender Stabilität investieren wir in dem Sinne noch intensiver in die Ausbildungsunterstützung. Im kommenden Jahr werden innerhalb des Mandates und der Mandatsstruktur, die wir heute vorschlagen, noch mehr deutsche ISAF-Soldaten als Ausbilder der afghanischen Streitkräfte tätig sein.
Ich will auch darauf hinweisen - das ist schon mitgeteilt worden -, dass ich zur Verstärkung unserer Truppe die Verlegung einer Infanteriekompanie nach Kunduz angewiesen habe. Diese Kräfte geben dem militärischen Führer vor Ort eine Handlungsfreiheit dahin gehend zurück, dass zusätzlich eine entsprechende Sicherheitskomponente gewährleistet werden kann, sodass die Durchhaltefähigkeit gewährleistet werden kann, was in dieser Provinz derzeit von größter Bedeutung ist.
Wir werden dann den deutschen Beitrag im Rahmen des internationalen Gesamtengagements in Afghanistan aufgrund der Ergebnisse der internationalen Afghanistan-Konferenz einer erneuten Prüfung unterziehen und dort, wo es nötig ist, auch unter der notwendigen Befassung des Deutschen Bundestages Anpassungen vornehmen. Was erforderlich ist, soll getan werden. Aber das kann erst im Lichte der Afghanistan-Konferenz und im Lichte der nächsten Schritte gesehen werden.
Ich will allerdings in Ergänzung zu dem, was Kollege Westerwelle bereits festgestellt hat, auch sagen: Der Rhythmus, der dadurch vorgegeben wird, dass wir zum einen wohl am 1. Dezember die Rede des amerikanischen Präsidenten zu erwarten haben und zum anderen bereits am 7. Dezember - sehr ehrgeizig - eine NATO-Truppenstellerkonferenz stattfinden soll, wird uns nach meiner bzw. unserer Überzeugung nicht dazu bringen, zum 7. Dezember sofort und nacheilend Vorschläge auf den Tisch der internationalen Gemeinschaft zu legen. Wir wollen eigene Impulse geben. Wir wollen unseren strategischen Ansatz deutlich machen. Wir lassen uns deswegen nicht in ein Zeitkorsett zwängen. Das haben wir den Partnern schon mitgeteilt. Ich glaube, wenn wir hier eine eigene, klare Handschrift erkennen lassen und deutlich machen, wie wir im Rahmen des vernetzten Ansatzes Afghanistan so in die Lage versetzen wollen, dass eine Verantwortungsübergabe möglich ist, dann ist eine klare und gute Grundlage gelegt.
Ich darf Sie alle um Unterstützung der Verlängerung dieses ISAF-Mandates bitten.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich beginne, wie Sie sich denken können, mit den Enthüllungen in der Tagespresse. Erstens. Herr Minister zu Guttenberg, es ist unumgänglich, diesem Haus den in Rede stehenden Geheimbericht zugänglich zu machen. Wir werden darauf bestehen, dass diese Vorgänge im Rahmen dieses Parlaments sorgfältig untersucht werden. Das ist unumgänglich.
Zweitens. Wenn es sich bestätigt, dass Herr Minister Jung sehr früh über zivile Opfer des Bombenangriffs vom 4. September Bescheid wusste und dennoch Parlament und Öffentlichkeit belogen hat, dann fordere ich die Kanzlerin auf, dem Herrn Minister Jung unverzüglich die Entlassungspapiere auszustellen.
Ein solcher Minister ist entweder unehrlich oder unfähig. Das gilt für jedes Ressort.
Drittens. Wenn nun selbst die Bundeswehr feststellt, dass am 4. September inadäquat gehandelt wurde - so verstehen wir das -, dann fordere ich Sie auf, Herr Minister zu Guttenberg: Korrigieren Sie Ihre Aussage, dass die damalige Bombardierung militärisch angemessen gewesen sei!
Für die Linke jedenfalls gilt - wir bleiben dabei -: Es kann nicht angemessen sein, Menschen zu töten, nur weil sie möglicherweise Taliban oder Talibansympathisanten sind. Es ist nicht rechtens, wenn der Tod Unschuldiger leichtfertig in Kauf genommen wird. Das werden wir niemals akzeptieren.
Nun haben wir vom Herrn Minister gehört, man müsse die Strategie neu justieren. Es wurde gesagt: Wir sind jetzt an einem Wendepunkt. - Das Verblüffende ist: Das haben wir schon vor einem Jahr gehört. Damals haben sich die Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahl fokussiert, und es wurde gesagt: Jetzt werden wir hoffentlich stabile Verhältnisse bekommen. - Ich könnte Ihnen nun jede Menge Zitate zum Beispiel aus der Tornadodebatte am 9. März 2007 präsentieren. Damals hat ein Kollege von der CDU, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt, gesagt:
Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis 24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu stoppen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen.
Was sagen Sie denn heute, Herr von Klaeden? Ich könnte, wie gesagt, noch viel mehr Aussagen präsentieren.
Die Sache ist doch ganz einfach: Wir werden seit Jahren mit Durchhalteparolen traktiert, die bislang nur auf eines hinausgelaufen sind, nämlich auf mehr Krieg. Es ist eine Tatsache: Seit 2007 hat sich die Zahl der NATO-Soldaten in Afghanistan mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Gefechte und Anschläge ebenfalls mehr als verdoppelt. Über diesen Zusammenhang muss man doch nachdenken. Es ist eine Tatsache, dass wir in diesem Jahr wieder einen traurigen Rekord an Opfern - auch an zivilen - haben werden. Die Bundeswehr war daran im September - auch das ist traurig - erstmals nennenswert beteiligt. Es ist auch eine Tatsache, dass sich nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Art der Kriegführung der Einflussbereich der Taliban immer weiter ausgedehnt hat und dass der zivile Aufbau vor allem dort, wo sich die Sicherheitslage zuspitzt, ins Stocken geraten ist.
Schließlich ist es eine Tatsache, dass der militärisch gestützte Versuch, eine funktionierende Demokratie nach unserem Muster aufzubauen, gescheitert ist. Das hat nicht zuletzt die Wahlfarce gezeigt, die mit dem Geld und unter dem Schutz der NATO-Mitgliedstaaten durchgeführt worden ist. Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie endlich auf, der Öffentlichkeit und sich selbst etwas vorzumachen. Nehmen Sie endlich diese Tatsachen zur Kenntnis, und richten Sie Ihre Politik danach aus.
Selbst da, wo Sie diese Tatsachen anerkennen, ziehen Sie die falschen Schlüsse. Noch soll die Stärke des Bundeswehrkontingents nicht heraufgesetzt werden. Aber verklausuliert kündigen Sie Truppenerhöhungen an, spätestens nach der Afghanistan-Konferenz im nächsten Frühjahr. Wie sonst soll man es verstehen, wenn Sie sagen: Das muss auf den Prüfstand?
Was die weitere Perspektive angeht, erfahren wir zumindest so viel - ich zitiere -:
Im Klartext: Bis Ende 2013 soll sich nichts tun. Dann, wenn es die NATO beschließt, soll der Rückzug Schritt für Schritt erfolgen. Distrikt für Distrikt soll den Afghanen übergeben werden. Afghanistan hat 400 Distrikte. Das kann also lang dauern. Ich frage Sie deshalb: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie die Truppen noch acht Jahre oder mehr in Afghanistan werden halten können? Ich glaube das nicht.
Das, was der Verteidigungsminister jetzt als neue strategische Ausrichtung präsentiert, geht in die falsche Richtung und ist völlig illusionär. Alle Welt weiß, dass die Taliban und die Aufständischen militärisch nicht zu besiegen sind. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden. Aber die NATO hält daran fest, dass man die Taliban durch noch entschlosseneres militärisches Vorgehen doch noch in die Knie zwingen kann.
Warum sonst sollen die Truppen nennenswert aufgestockt werden? Sie werden aufgestockt werden. Es ist illusionär, zu meinen, man könne durch mehr Aufbauhilfe die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Taliban abzuwenden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von Gewalt vorantreibt. Mehr Bombardierung heißt mehr Hass, mehr Gewaltbereitschaft und mehr Entfremdung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck, Herr Kollege?
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Ja, gerne.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, Sie wissen, dass es in sehr dramatischen Situationen keine ganz klaren Antworten gibt.
Ich bin jetzt sechs Tage in Pakistan gewesen, wo kein westliches Militär stationiert ist und wo in den Stammesgebieten, den Grenzgebieten zu Afghanistan, die Zahl der Toten in der Zivilbevölkerung in den letzten fünf Jahren von 180 auf über 6 000 gestiegen ist. Inzwischen haben die Taliban und al-Qaida, wobei sich das überschneidet, die Zivilbevölkerung auch in den Stammesgebieten so tyrannisiert, dass jetzt die Stammesältesten selber die Grenze für überschritten halten und gefordert haben, dass das pakistanische Militär gegen diese Gruppen vorgeht.
Dem vorausgegangen ist im Februar die Entscheidung einer Regionalregierung, mit den Taliban ein Konsensabkommen zu schließen. Die Grundlage war Waffenstillstand gegen Einführung der Scharia. Dieses Recht ist eingeführt worden, der Waffenstillstand ist keine Minute eingehalten worden. Es gab hier also den Versuch einer Konsensbildung. Sind das Überlegungen, die bei uns in die Entscheidungen einfließen müssen, die zu treffen sind?
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Vielen Dank für die Frage. Sie haben insofern recht, Frau Kollegin Beck, als bestimmte Entwicklungen an einen Punkt kommen können, wo es schwierig ist, Antworten zu geben. Aber die Frage ist - das ist für uns Linke der Ausgangspunkt -: Warum ist es in Pakistan zu genau dieser Entwicklung gekommen?
Herr Präsident Sharif wurde im Terrorkrieg als ein Bündnispartner behandelt. Er hat schon immer versucht, diesen Konflikt militärisch zu befrieden. Er hat jedoch keinerlei soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vorangebracht. Das ist die Ursache dafür.
Deshalb sagen wir: Wir müssen aus diesem Teufelskreis herauskommen. Wir müssen diese Spirale der Gewalt durchbrechen. Damit müssen wir irgendwann anfangen.
Jetzt wird versucht - ich bin noch bei der NATO-Strategie -, auf die klassischen Mittel der Aufstandsbekämpfung zurückzugreifen, wie wir sie auch aus Vietnam kennen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen: Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, wenn man in großem Stil - das geschieht gegenwärtig - die Anführer dieser Aufstandsbewegung umbringt, gleichzeitig aber politische Gespräche mit diesen Talibankommandeuren anbahnen will. Mit demjenigen, den ich montags erschieße, kann ich dienstags nicht mehr reden, auch nicht mit seinem Umfeld. Damit werden die Hürden auf dem Weg zu einer politisch-diplomatischen Verhandlungslösung immer höher gesetzt, und der Krieg wird verlängert, wo es doch jetzt gilt, den Krieg und das Leiden zu beenden.
Es gibt hierzulande eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung, die sagt: Wir müssen die Bundeswehrsoldaten zurückziehen. - Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie auf die Menschen, die sehr genau sehen, dass man mit der Afghanistan-Unternehmung auf eine schiefe Bahn geraten ist, dass man jetzt in einem Schlamassel steckt und dass man so schnell wie möglich dort heraus muss. Die Afghaninnen und Afghanen - das zeigen auch neuere Studien, zum Beispiel die, die Oxfam jetzt durchgeführt hat - wollen vor allem eins: das Blutvergießen, das sie seit 30 Jahren durchleben müssen, beenden. Die Mehrzahl will auch keine Rückkehr zum alten Talibanregime, aber die Menschen wissen, dass man, wie die Dinge stehen, jetzt einen Kompromiss finden muss, und zwar einen Kompromiss, der vor allem darauf gerichtet ist, diesen gewaltförmigen Konflikt in einen politischen Konflikt zu transformieren. Es geht in die völlig falsche Richtung, wenn man jetzt die Afghanisierung des Krieges betreibt, indem man die afghanischen Streitkräfte aufrüstet. Wir brauchen eine Afghanisierung des Friedens. Es geht um eine innerafghanische Verhandlungslösung.
Um Frieden machen zu können, muss man auch mit den Gegnern, ob sie einem passen oder nicht, reden, und zwar ohne Vorbedingungen. Damit bin ich bei dem Punkt, was getan werden müsste. Erstens müssen alle diplomatischen und politischen Anstrengungen darauf gerichtet werden, einen Waffenstillstand mit den Aufständischen im Land auszuhandeln. Ohne einen Waffenstillstand gibt es keine Entwicklung, gibt es keinen Aufbau und gibt es keine Freiheit.
Was Afghanistan jetzt braucht, ist ein breiter innergesellschaftlicher Konsultationsprozess, der darin münden muss, dass die Waffen schweigen, dass der Konflikt entmilitarisiert und die nationale Aussöhnung vorangebracht wird. Das ist nicht naiv, wie manche meinen, das ist nicht blauäugig. Dafür gibt es jede Menge Anknüpfungspunkte. Aus der traditionellen Stammesgesellschaft heraus haben sich Kräfte aufgemacht, die diesen Dialogprozess wollen, zum Beispiel in Gestalt der afghanischen Friedensjirga. Es gibt die moderneren, sehr aktiven zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Afghan Civil Society Forum und andere, die zusammen mit Oxfam diese Studie erstellt haben, die auch diesen Dialogprozess wollen, und es gibt die gesprächsbereiten Kreise bei den Aufständischen, die sehr genau realisieren, dass auch sie nicht militärisch gewinnen können. Worauf es jetzt aber besonders ankommt, ist, dass die Regierung Karzai energisch dazu gedrängt wird, statt salbungsvolle Worte zu verbreiten, endlich eine eindeutige und stringente Konzeption des innerafghanischen Dialogs vorzulegen und umzusetzen.
Zweitens. Eine Voraussetzung dafür, dass die Waffen zum Schweigen gebracht werden können, ist die unzweideutige Festlegung auf den Abzug sämtlicher NATO-Truppen, und zwar ohne Bedingungen und nicht irgendwann.
Wer diesen Truppenabzug, Herr Minister Westerwelle, an Voraussetzungen knüpft - eine stabile Zentralregierung in Kabul, vielleicht 400 000 Soldaten -, der verschiebt diesen Termin dann doch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Der Abzug ist aus unserer Sicht alternativlos, weil er - das wird manche erstaunen, aber es ist so - den bewaffneten Widerstand schwächt, der seine Stärke doch gerade aus dem um sich greifenden Gefühl der Afghanen zieht, in einem besetzten Land zu leben und politisch bevormundet zu werden. Der Abzug ist alternativlos, weil er das entscheidende Signal an die Afghaninnen und Afghanen gibt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen.
Drittens sollte alles dafür getan werden, dass das Waffenstillstandsübereinkommen in das weite regionale Umfeld eingepasst wird. Alle Anrainerstaaten müssen beteiligt werden und ein solches Waffenstillstandsübereinkommen garantieren.
Viertens gibt es in der Tat eine Verantwortung auch der Deutschen für Afghanistan, eine Verantwortung für Unterstützung und Wiederaufbau. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Mittel für den zivilen Aufbau erhöht werden müssen, dass sie dort ankommen müssen, wo sie gebraucht werden, und dass die zivile Aufbauhilfe von der Einordnung in militärische Strategien endlich befreit werden muss.
Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die der deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, zuletzt diese Woche. VENRO sagt klipp und klar:
Die schädliche und irreführende Vermischung von zivilen und militärischen Aufgaben muss endlich beendet werden.
Ich fasse zusammen: Der Einmarsch in Afghanistan hatte keine völkerrechtliche Grundlage. Für den Aufbau des Landes hatte die NATO kein Konzept, und jetzt, wo man im Morast steckt, hat man keinen Plan, wie man wieder herauskommt. Das ist schlimm. Um Schlimmeres zu verhüten, fordern wir von Ihnen eines: Ziehen Sie die deutschen Truppen aus Afghanistan zurück, und zwar unverzüglich!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Tagesaktualität, zu der ich gleich noch komme, möchte ich mit einer grundsätzlichen Bemerkung beginnen. Die Entscheidung über den ISAF-Einsatz hat sich meine Fraktion nie leicht gemacht. Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan, gegenüber den vielen Helferinnen und Helfern der Entwicklungsorganisationen, gegenüber den Polizeiausbildern und den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan ihr Bestes tun, um den Menschen dort zu helfen.
In Richtung der Kollegen von der Linkspartei will ich hier sagen: Diese Solidarität ist für uns unvereinbar mit der Forderung nach einem Sofortabzug.
Da soll man sich nichts vormachen: Es gibt nicht die einfache Alternative: Bundeswehr raus, Helfer rein. Auch die meisten Helferinnen und Helfer müssten dann mit der Bundeswehr tatsächlich herausgehen, und das wollen die Menschen in Afghanistan, insbesondere im Norden des Landes, eben nicht. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu begreifen.
Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich verschlechtert, gerade im Einsatzgebiet der Bundeswehr. Daher muss man von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Die weitgehend gefälschten Präsidentenwahlen sind mehr als problematisch für den weiteren politischen Prozess in Afghanistan, aber auch für die Legitimation des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft dort.
Es gibt aber auch eine große Chance: Das ist die neue Offenheit, mit der international über einen Strategiewechsel diskutiert wird. Nun geht es darum, diesen Kurswechsel voranzutreiben in Richtung einer zivilen Aufbauoffensive in Verbindung mit einem konkreten Abzugsplan. Daher wünsche ich mir wirklich konkretere Vorschläge hier im Deutschen Bundestag von Regierungsseite.
Meine Damen und Herren von der Koalition, vor diesem Hintergrund ist das Handeln der Bundesregierung zu bewerten. Sicherlich, Sie sind erst seit einigen Wochen im Amt; aber dass Sie uns ein Mandat vorlegen, das, bis auf deutlich mehr Geld für das Militär, komplett unverändert ist, das ist schlecht.
Sie hätten mehr tun können und müssen. Sie hätten eine unabhängige, ehrliche Evaluierung des Engagements in Afghanistan vornehmen können. Das Fehlen einer solchen Bilanzierung hängt schon seit Jahren als Ballast an der deutschen Afghanistan-Politik. Andere Bündnispartner haben diesen Schritt gewagt. Schauen Sie einmal, was die Kanadier vorlegen. Davon kann man einiges lernen.
Außerdem hätten Sie eine zivile Aufbauoffensive entwickeln können. Alle Experten sind sich einig, dass für den Erfolg des Einsatzes der Aufbau von staatlichen Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. Aber was tun Sie? Sie fordern mehr Geld - fast 300 Millionen Euro - für das Militär. Ein vergleichbarer Ausbau der zivilen Hilfe? Da ist Fehlanzeige.
VENRO, der Verband der deutschen Nichtregierungsorganisationen, hat vor zwei Tagen vorgerechnet, dass sich unter der neuen Bundesregierung das Verhältnis von militärischen Mitteln zu zivilen Mitteln von drei zu eins auf vier zu eins verschlechtert. Das ist doch ein absurder Vorgang.
Das ist doch das genaue Gegenteil einer zivilen Aufbauoffensive.
Ich sage Ihnen: Es grenzt an Vertuschung, wenn gleichzeitig die Spatzen von allen Dächern pfeifen, dass eine Truppenerhöhung geplant sei. Herr zu Guttenberg, schenken Sie dem Deutschen Bundestag dazu reinen Wein ein!
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bundesregierung hat den Kurswechsel von Oberbefehlshaber McChrystal - der will nämlich endlich den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellen - rhetorisch unterstützt. Aber Sie, Herr Verteidigungsminister, konterkarieren dieses Bekenntnis völlig, wenn Sie die Bombardierung der zwei Tanklaster bei Kunduz und der Menschenmenge um diese herum als ?angemessen? bewerten. Ich hoffe, dass Sie im Lichte der neuen Erkenntnisse, die Sie jetzt gewonnen haben, das zurücknehmen werden.
In der Stabilisierungsmission ISAF darf kein Platz sein für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung möglichst vieler Gegner zielt. Das müssen Sie geraderücken!
Und Herr Jung, wenn sich bestätigen sollte, dass Sie de facto den Deutschen Bundestag in diesem Zusammenhang belogen haben, dann sind Sie als Minister nicht mehr haltbar, egal, in welcher Funktion.
Das muss aufgeklärt werden. Deswegen wollen wir, dass der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss tätig wird.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die wenigen Wochen der Afghanistan-Politik der neuen Bundesregierung muss ich leider so zusammenfassen: Sie ist eine Mischung aus Vertagungen, Versprechungen und Verschlechterungen. Das geht an den realen Herausforderungen in Afghanistan vorbei.
Die Entscheidung nächste Woche ist sicherlich eine Gewissensentscheidung für alle Abgeordneten. Die Abwägungen sind nicht leicht. Sie wollen von uns einen Blankoscheck für ein weiteres Jahr. Ich spreche für einen großen Teil meiner Fraktion, wenn ich sage: Dem können wir nicht zustimmen.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für eine Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Kollege Schmidt, ich möchte Sie gerne auf zwei Punkte ansprechen.
Erster Punkt: Meinen Sie nicht, dass es auch Solidarität ist, dass man einem Partner sagt, was erfolgreich ist und was nicht erfolgreich ist, was geht und was nicht geht, wenn man mit ihm über Werte diskutiert? Sollte man also der Bevölkerung in Afghanistan nicht sagen: ?Unsere Solidarität wird darin liegen, dass wir versuchen, von kriegerischen Lösungen wegzukommen und zivile Lösungen zu finden??
Ich möchte hier vor allen Dingen einen Begriff gewertet wissen: Das ist der Begriff der Selbstbestimmung. Wir haben über alles gesprochen, nur nicht über Selbstbestimmung.
Mein zweiter Punkt: Finden Sie es nicht auch unerträglich, dass der ehemalige Verteidigungsminister Herr Jung hier sitzt, er aber, obwohl ihm schlimme Vorhaltungen gemacht werden, er von fast allen Rednern bezichtigt wird, dass er gelogen hat, und selbst sein Nachfolger sich von ihm hier absetzt, nicht das Wort ergreift?
Ich denke, der ehemalige Verteidigungsminister muss jetzt reden und Stellung nehmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie es ähnlich sähen.
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum zweiten Punkt kann ich nur sagen: Da haben Sie sicher recht. Es wäre gut für die politische Kultur in diesem Land und in diesem Haus, wenn Sie, Herr Jung, hier heute einmal direkt Stellung nehmen würden.
Zu Ihrer ersten Frage muss ich sagen: Es ist ganz entscheidend, dass man den Zusammenhang im politischen Handeln versteht, dass eben ziviler Aufbau in dieser kriegsähnlichen Situation in Afghanistan auch militärischen Schutz braucht. Wenn man eine Abzugsperspektive eröffnen will, muss man diesen Zusammenhang berücksichtigen und schrittweise vorgehen. Deswegen ist die Forderung nach einem Sofortabzug falsch und kein Ausdruck von guter Solidarität.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
Elke Hoff (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte vorneweg dem Bundesverteidigungsminister dafür danken, dass er vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Informationen unverzüglich die Konsequenzen gezogen hat. Ich respektiere ausdrücklich seine Bereitschaft, im Lichte der ihm zugehenden Informationen eine Neubewertung seiner Aussagen im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit vorzunehmen.
Ich denke auch, dass es der Respekt gebietet, abzuwarten, bis die Informationen wirklich vorliegen, um Mitgliedern der Bundesregierung tatsächlich ein persönliches Fehlverhalten zuordnen zu können. Ich bitte hier um die notwendige Seriosität und Geduld. Ich gehe davon aus, dass dann die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.
- Das wäre für den Vertreter Ihrer Fraktion möglich gewesen, sehr verehrter Herr Trittin.
In der Kürze der Zeit sollten wir versuchen, die Diskussion auf einen eher rationalen Aspekt zurückzuführen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz im nächsten Jahr die Gelegenheit haben, die Strategie neu zu justieren. Es ist dringend an der Zeit, dass wir das tun.
Dabei müssen wir einige Punkte berücksichtigen. Erstens darf sich die Situation in Afghanistan nicht durch irgendwelche Maßnahmen, sei es ein Abzug oder Ähnliches, gegenüber der Zeit, in der die internationale Gemeinschaft dort tätig wurde, verschlechtern.
Zweitens müssen wir unbedingt gemeinsam dafür sorgen, dass ein nationaler Versöhnungsprozess entsteht; denn nur dieser kann die Voraussetzung für alle weiteren Schritte sein.
Drittens darf der militärische Abzug nicht unverzüglich erfolgen, lieber Kollege Paul Schäfer; denn dies würde zu einem neuen Bürgerkrieg in Afghanistan führen. Das wissen auch Sie. Ich halte das für unverantwortlich.
Aber wir müssen gemeinsam dafür sorgen, auch im Respekt vor dem afghanischen Volk, dass der Primat der Politik zum Zuge kommt, dass die Politik wieder die Möglichkeit erhält, die Rahmenbedingungen zu bestimmen. Der militärische Einsatz ist notwendig, kann aber nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Ich glaube, dass auch die Reaktion unseres Entwicklungsministers, Dirk Niebel, gezeigt hat, dass er bereit ist, durch die Zur-Verfügung-Stellung erhöhter finanzieller Mittel diesen Prozess aktiv zu begleiten.
Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf die Debatte nach der Afghanistan-Konferenz, weil wir dann alle gemeinsam die Möglichkeit haben, eine Neujustierung der Afghanistan-Politik vorzunehmen. Wir werden als Fraktion mehrheitlich dem Einsatz und der Verlängerung des Mandates ISAF zustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deutschen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verweigern.
Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu großer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können, dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deutschen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vorläufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehbaren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhindern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins, alle zivilen und bewaffneten Kräfte - es handelt sich schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan schicken - erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai. Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt. In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die traditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, einberufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheitsverantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentlichen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit, einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel.
Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internationale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen, sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aussehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht gelungen. - Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlichkeit.
Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt werden, das heißt bis zu der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar.
Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum Beispiel im Antrag der Bundesregierung:
Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der afghanischen Polizei. Die Bundesregierung ... beabsichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu diesem Zweck personell erheblich aufzustocken ...
Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir allerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Afghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstverteidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben vorgetragen.
Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesregierung mit dem Titel "Afghanistan. Auf dem Weg zur 'Übergabe in Verantwortung'" einsteigen, um überhaupt einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen. Auf Seite 15 steht dazu:
Die Bundesregierung strebt an ..., den Personaleinsatz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken, was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte 2009 bedeutet ...
Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afghanistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Aufgabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze 70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Soldaten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur 70 Leute zum Einsatz.
In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 afghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizisten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbilden? Die 70 deutschen Ausbilder oder die - wenn es überhaupt jemals so viele werden - 400 Ausbilder der EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen, um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortübergreifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich geklärt werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stinner?
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Nein, das möchte ich jetzt nicht.
ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind notwendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanistan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu verlangen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Seitens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner das Wort.
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwortung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegründung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erstmals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ersten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich für außerordentlich peinlich.
Herzlichen Dank.
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiausbildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sollen, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausgebildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Konzept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60 bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehrlichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten, ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen, dies anzusprechen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht gehört, wer gerade einen Zuruf gemacht hat. Es scheint ein Kollege der SPD gewesen zu sein.
- Der Kollege Kelber bekennt sich freiwillig dazu, dass er es war.
Herr Erler, die Dinge, die Sie zuletzt angesprochen haben - Kollege Stinner hat dankenswerterweise darauf hingewiesen -, waren Ihnen bislang nicht neu. Auch die Entwicklung des Ganzen ist Ihnen nicht neu. Als Staatsminister waren Sie an verantwortungsvoller Stelle maßgeblich daran beteiligt und haben in den letzten Jahren vieles erreicht.
Ich bin schon der Meinung, dass das, was Sie gesagt haben, der Sie ja auch noch von Offenheit und Ehrlichkeit geredet haben, nicht ganz zutreffend war. Ich möchte an dieser Stelle, wie es auch der Kollege Stinner getan hat, darauf hinweisen, dass der amtierende Außenminister, Herr Westerwelle, die Dinge richtig dargestellt hat und unsere volle Unterstützung hat.
Ich finde es richtig, dass das Parlament an einem so wichtigen Tag wie heute, an dem wir über mehrere Mandate zu entscheiden haben, breit und mit starker Beteiligung über diese Mandatsverlängerungen diskutiert. Ich hätte mir gewünscht, dass im Laufe dieser Debatte mehr über Afghanistan selbst diskutiert worden wäre. Ich sehe in den Angriffen, die seitens der Opposition gegenüber Minister Jung gestartet worden sind, den plumpen Versuch, sich nicht mit der Realität in Afghanistan auseinanderzusetzen, sondern eine politische Show aufzuführen, die der Wichtigkeit des Themas nicht entspricht. Ich glaube, dass dieser Punkt deutlich herausgearbeitet werden muss.
- Gerade Sie, Herr Ströbele, der Sie permanent Zurufe machen, sollten zuhören, wenn es um die Sache geht.
Frau Kollegin Beck beispielsweise hat vorhin im Rahmen ihrer Zwischenfrage die Wichtigkeit des Themas Afghanistan deutlich gemacht und darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Lage in Afghanistan für die Situation in Pakistan und für die gesamte Region hat. Herr Ströbele, als Frau Beck diesen wichtigen Beitrag geleistet hat, waren Sie noch nicht einmal hier im Raum. Immer, wenn Sie hier sind, schreien Sie die ganze Zeit dazwischen. Deshalb möchte ich Ihre Zwischenfrage jetzt auch nicht zulassen, sondern mich dem Thema widmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischenfrage des Kollegen Ströbele.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Nein, das lasse ich jetzt nicht zu.
Das zu Ende gehende Jahr 2009 war kein gutes Jahr für Afghanistan. Der jüngste Wahlprozess hat die Defizite, die schon in den vergangenen Jahren offensichtlich waren, deutlich herausgestellt und der Weltöffentlichkeit sehr plastisch vor Augen geführt.
Ich will zunächst drei Punkte ansprechen, die wir deutlich im Blick unserer Argumentation haben müssen: Das sind die sich deutlich verschlechternde Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die schlechte Regierungsführung in der Administration von Karzai. Diese Defizite sind für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine große Hypothek. Gerade deshalb muss die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft besonders herausgestellt werden.
Nach der erneuten Amtseinführung von Karzai und auch nach seiner Rede in der vergangenen Woche sehe ich die Chance und habe wie alle die Hoffnung, dass dieser Negativtrend durchbrochen werden kann. Die Chance muss genutzt werden. Dies ist angesichts der Dauer des Einsatzes mittlerweile sehr schwierig, weil wir schon oft Hoffnung geschöpft haben und diese Hoffnung sich dann nicht erfüllt hat. Es ist trotzdem kein Grund, aufzugeben. Es ist trotzdem kein Grund, die Menschen in Afghanistan alleine zu lassen und sich der eigenen Verantwortung zu entziehen.
Die Konsequenz aus einem Rückzug wäre, dass Afghanistan in ein heilloses Chaos stürzt, dass Afghanistan zu einem Rückzugsraum für Terroristen und - wie es das schon einmal war - wieder zu einer Operationsbasis für den weltweiten Terrorismus wird. Frau Beck, ich habe es bereits angesprochen: Die Auswirkung auf die gesamte Region ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein islamistisches Talibanregime die Macht ergreifen würde, würde dies nicht ohne Folgen bleiben für Pakistan, für die zentralasiatischen Staaten, für Russland und China, die dies im Übrigen auch als Worst-Case-Szenario sehen. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans, die sie mit uns gemeinsam voranbringen wollen.
Ich danke allen Fraktionen im Haus, dass - es bröckelt ja in manchen Fraktionen - insgesamt, gerade im Auswärtigen Ausschuss, diese Diskussion mit großer Ernsthaftigkeit geführt wird. Ich möchte auch daran erinnern, dass die rot-grüne Regierung 2001 unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen Einsatz, damals noch unter dem Motto der uneingeschränkten Solidarität, begonnen hat. Deshalb weiß ich es, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Erler, besonders zu schätzen, dass das Thema Afghanistan eben nicht zu einem populistischen Ja-nein-Thema gemacht wird. Vielmehr müssen wir darüber diskutieren, was tatsächlich der beste Weg für Afghanistan ist. Das möchte ich anbieten. Deshalb glaube ich auch, dass Ihre Anmerkung wichtig war.
Wir dürfen es, was die Auseinandersetzung mit diesem Thema angeht, nicht nur bei dieser heutigen Debatte belassen, sondern wir müssen auch dann, wenn die Afghanistan-Konferenzen stattgefunden haben, im Deutschen Bundestag weiterhin die Möglichkeit haben, zeitnah über den Fortgang zu diskutieren und nicht erst in zwölf Monaten. Das kann ich für meine Arbeitsgruppe und auch für mich persönlich anmelden. Selbstverständlich wollen wir auch in diesen Prozess eingebunden sein. Ich denke, das ist ein gemeinsames Interesse.
Die NATO und die Weltgemeinschaft haben eine große Verantwortung für Afghanistan. Wenn wir über die Kriterien des Erfolgs sprechen, wenn wir Erfolgsmaßstäbe beschwören und sie darstellen, dürfen wir dabei nicht vergessen, dass auch die Öffentlichkeit in Afghanistan ganz genau darauf achtet, ob wir es mit der Durchsetzung dieser Erfolgskriterien ernst meinen. Die Erwartungshaltung - die afghanische Delegation ist angesprochen worden, sie hat sich auch mit Vertretern unserer Fraktion getroffen - sowohl von Politikern als auch von Bürgern in Afghanistan ist riesengroß. Gerade Deutschland als drittgrößter Truppensteller trägt dort eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müssen.
Eine Anmerkung in Richtung der Linken: Ich glaube, dies ist nicht nur eine Frage der Bündnistreue unseres Landes, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit unseres Landes insgesamt. Vor allem ist zu fragen, ob wir der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung unseres Landes, die wir an anderer Stelle immer gerne für uns reklamieren, gerecht werden, wenn wir diesen Einsatz auch nur ansatzweise infrage stellen. Deshalb sage ich: Wir müssen dieses Thema im Einvernehmen mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft angehen und unserer Verantwortung gerecht werden; denn man kann nicht an der einen Stelle mehr Bedeutung für Deutschland reklamieren und sagen, dass man bei vielen Themen führend sein will, sich an anderer Stelle aber vor der Verantwortung drücken. Wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Verlässlichkeit Deutschlands.
Ich bin der Meinung, dass wir den Antrag der Bundesregierung unterstützen, die Ziele, über die diskutiert wird, stärker herausarbeiten und das polizeiliche und das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan fortsetzen sollten. Außerdem glaube ich sehr wohl, dass wir auf günstigere Umstände in der Zukunft hoffen können. Aber es muss klar sein, dass dies kein einfacher Prozess ist, für den es eine einfache Lösung gibt. Man unterliegt einem Irrlauben, wenn man annimmt - ich glaube, der Kollege Frithjof Schmidt von den Grünen hat das gesagt -, dass den Menschen dadurch geholfen werden könnte, dass man das Militär abzieht und gleichzeitig mehr Entwicklungshelfer ins Land schickt. Tatsächlich ist es doch so, dass die Entwicklungshelfer massiv auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind. Dort, wo eine Befriedung erreicht werden konnte, ist Engagement notwendig. Aber gerade dort, wo die militärische Auseinandersetzung besonders intensiv ist, kann man als Antwort doch nicht mehr Entwicklungshelfer anbieten. Gerade diejenigen, die vor Ort verantwortungsbewusst einen großen Dienst für die internationale Gemeinschaft und für die Menschen in Afghanistan leisten, müssen geschützt werden. Deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr auch und gerade für die Entwicklungshelfer sehr wichtig.
Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in ihrer Regierungserklärung gesagt, dass die Ziele des deutschen Engagements in Afghanistan nach wie vor die Schaffung selbsttragender Sicherheit und der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen sind. Wie weit wir davon noch entfernt sind, haben uns die letzten Wochen sehr deutlich vor Augen geführt. Deshalb glaube ich, dass wir die afghanische Regierung sehr stark dabei unterstützen müssen, die folgenden drei Ziele zu erreichen: Zunächst einmal geht es um die Stabilisierung und die Sicherheit, dann darum, gutes Regieren durchzusetzen, und darum, die weitere Entwicklung zu unterstützen.
Die Verbesserung der Sicherheitslage ist die Voraussetzung für die Erreichbarkeit der beiden weiteren Ziele. Deshalb ist - das ist in der Debatte schon angesprochen worden - der weitere Aufbau von Polizei und Armee in afghanischer Eigenverantwortung dringend notwendig. Wir müssen über unseren Beitrag hierfür diskutieren.
An zweiter Stelle steht die gute Regierungsführung. Es gibt in Afghanistan viele Absichtserklärungen und konkrete Vorschläge wie die Pflicht für einzelne Minister, ihre Einkunftsquellen offenzulegen. Es ist wichtig, dass wir bei allen Gesprächen, bei allen anstehenden Konferenzen, bei jeder Gelegenheit darauf drängen, dass die Grundstrukturen, die für eine gute Regierungsführung notwendig sind, auch durchgesetzt werden. Obwohl Karzai in seiner letzten Rede wieder deutlich herausgestellt hat, dass er das nun machen will, ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere Deutschland den Druck weiterhin aufrechterhält, damit gegen das Geschwür der Korruption in Afghanistan engagiert vorgegangen wird.
Der dritte Punkt bezieht sich auf die weitere Entwicklung. Natürlich ist klar, dass Deutschland neben den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in der Entwicklungshilfe ebenfalls sehr stark engagieren, gefragt ist. Deshalb wollen wir unser Engagement auf diesem Gebiet fortsetzen.
Unsere Fraktion begrüßt es, dass die Bundesregierung die Afghanistan-Konferenzen im kommenden Jahr angestoßen hat und engagiert begleiten will. Auch das ist für uns klar: Es wird keinen Schnellschuss bezüglich der Afghanistan-Strategie geben. Ohne ein Gesamtkonzept können und wollen wir bei diesen Konferenzen keine seriöse Entscheidung zur Zukunft unseres Engagements treffen. Natürlich ist klar, dass sich unser Engagement an erfüllbaren Erfolgskriterien orientieren muss, die bei der Bevölkerung in Deutschland auf Rückhalt stoßen und im Deutschen Bundestag nach Möglichkeit mit Unterstützung aller Fraktionen - wenn sich die Linke herausnimmt, wird das nicht zu erreichen sein - durchgesetzt werden können.
Ich begrüße ausdrücklich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg bei seinem Antrittsbesuch in Kabul deutliche Worte gegenüber Präsident Karzai gefunden hat und deutlich gesagt hat, was unsere Erwartungshaltung ist. Dies muss auch unsere Strategie für die Afghanistan-Konferenzen sein. Wir müssen deutlich machen, was wir von unseren afghanischen Partnern erwarten. Wir haben diese Erwartungen zu Recht; denn die Bundesrepublik leistet einen nicht unerheblichen Beitrag, der für viele Angehörige von Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfern eine große Belastung ist. Deshalb ist es richtig, dass unsere Interessen ernsthaft formuliert und gegenüber der afghanischen Regierung durchgesetzt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention gebeten. - Bitte schön, Herr Kollege.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Mißfelder, Sie haben mich angesprochen, weil wir hier über die Videoaufnahmen und die Meldungen, die heute durch die Presse gehen, reden. Wenn wir über diese neuen Fotos, Zeichnungen und die Originalzitate der Ärzte aus den Krankenhäusern in Afghanistan reden, dann reden wir nicht nur über die Unwahrheiten, die seitens der Bundeswehr und des Ministeriums und dieses Herrn, der immer noch auf der Regierungsbank sitzt und nichts anderes tut als lächeln oder lachen, verbreitet worden sind, sondern auch über 142 in Afghanistan getötete Menschen. Das heißt, wir reden über Afghanistan, über die Kinder und Jugendlichen, die dort auf Befehl eines deutschen Obersts im Bombenhagel umgekommen sind. Wir reden darüber, dass diese Offensivstrategie dazu beiträgt, dass der Krieg in Afghanistan immer schlimmer und skrupelloser wird, dass damit der Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert wird. Jede solche Bombardierung mit zivilen Opfern, die hier im Deutschen Bundestag, auch vom neuen Verteidigungsminister, gerechtfertigt wird, brutalisiert und verlängert den Widerstand und den Krieg in Afghanistan, lässt ihn eskalieren. Darüber reden wir. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und stellen Sie sich nicht hinter diesen ewig nur lachenden oder lächelnden Minister, der die Regierungsbank besser heute als morgen verlassen sollte!
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Herr Kollege Ströbele, ich nehme das, was Sie gesagt haben, natürlich zur Kenntnis. Ich finde, dass jedes Menschenleben, das - egal auf welcher Seite - in dieser Auseinandersetzung verloren geht, eines zu viel ist. Ich glaube, dass dies bei jeder Debatte hier deutlich geworden ist. Angesichts der Diskussionen im Wahlkreis, aber auch im privaten Umfeld spürt jeder einzelne Abgeordnete die Last, die auf ihm liegt, wenn es hier darum geht, Einsätze zu verlängern. Ich sehe gerade auch an den Gesichtern der Kollegen in Ihrer Fraktion, dass sie es sich in dieser Debatte nicht leicht machen; das war auch in der Vergangenheit der Fall.
Herr Ströbele, ich verstehe, dass Sie jede Gelegenheit nutzen - sei es durch Zwischenrufe, sei es durch Interventionen -, um Ihre persönliche Haltung deutlich zu machen. Aber diskutieren Sie das auch in Ihrer eigenen Fraktion!
In den vergangenen Jahren wurden die Einsätze in Afghanistan mit einer breiten Mehrheit beschlossen. Sie können nicht wegen eines Artikels in der heutigen Ausgabe der Bild-Zeitung so tun, als trage nur eine Person in der Bundesregierung die Verantwortung, die heute gar nicht mehr für das Ressort zuständig ist. Tatsächlich tragen wir eine Gesamtverantwortung. Dies zu erwähnen, gehört zur Redlichkeit dazu.
Herr Ströbele, Sie greifen den Fall, der in dem Artikel geschildert ist, heraus, um Ihre persönliche Fundamentalkritik am Einsatz zu begründen. Dies lasse ich Ihnen einfach nicht durchgehen. Ich bin der Meinung, dass wir uns mit der Sache auseinandersetzen müssen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir ein paar Vorbemerkungen zu dem Gesagten.
Kollege Mißfelder, es geht nicht um einen einzigen Artikel. Es geht darum, dass aufgrund dessen, was in diesem Artikel steht, heute der oberste Soldat der Republik entlassen worden ist.
Sie machen den gleichen Fehler wie der Außenminister. Auch er hat in seiner Rede ein bisschen banal über diesen Zwischenfall gesprochen, was im Übrigen massiv dem Ansatz des Verteidigungsministers widerspricht, der ja angekündigt hat, es gebe jetzt eine herausragende Kooperation zwischen den Ressorts. Das scheint noch nicht der Fall zu sein.
Zweite Vorbemerkung. Herr Minister, Sie haben sich in der Vergangenheit geweigert, einen eigenständigen Bericht über diesen Zwischenfall vorzulegen, über den wir hier im Plenum diskutieren könnten. Dies taten Sie mit der Argumentation, es gebe nur diesen einen Bericht von COM ISAF und der sei geheim. Vorhin haben Sie gesagt, es gebe deutlich mehr Berichte. Deshalb müssen Sie Ihre Bewertung hinterfragen. Legen Sie hier bitte einen Bericht vor. Jetzt gibt es ja die Möglichkeit; Sie haben selber gesagt, dass es mehr Quellen gibt. Wir brauchen einen Bericht, damit wir hier endlich darüber diskutieren können.
Wir diskutieren heute über die Verlängerung des ISAF-Mandates. Dabei geht es nicht um Planspiele, sondern darum, dass wir Frauen und Männer in Einsätze schicken, in denen es auch um ihr Leben geht. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch seitens meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Aufbauhelferinnen und -helfern und natürlich erst recht ihren Familien für den Einsatz, den sie erbringen, von ganzem Herzen zu danken.
Dieser Einsatz erfordert eine Gegenleistung von der Politik. Diese Gegenleistung kann nur sein, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir schauen, welchen Auftrag wir erteilen. Der Auftrag muss klar sein, er muss durchdacht sein, und er muss Aussicht auf Erfolg und Wirksamkeit haben. Das sind drei Anforderungen, denen das Konzept der Bundesregierung mit dem schönen Titel ?Übergabe in Verantwortung? leider nicht gerecht wird.
Dieses Konzept bleibt sehr viele Antworten schuldig. Damit meine ich nicht nur Antworten auf Zwischenfragen, die an den Bundesaußenminister gestellt werden. Ich meine fundamentale Fragen, die wir hier stellen müssen.
Ich zitiere: Mein Eindruck ist, wir werden ?von der Regierung im Unklaren gelassen? und nur ?in einer Salamitaktik? über die Strategie informiert. Das Zitat stammt vom Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg, 30. Juni 2008, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich kann nur sagen: Er hatte damals recht. Die Situation hat sich bisher aber nicht verändert. Die Konsequenz, die der damalige Abgeordnete gezogen hat, war: Wir brauchen eine Kommission zur Bewertung des Einsatzes in Afghanistan, nicht nur um darzustellen, was schlecht läuft, sondern auch um dazustellen, was gut läuft. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Notwendigkeit einer solchen Kommission gerade mit der Ernennung des neuen Verteidigungsministers endlich Reife erreicht hat. Wir brauchen eine Bewertung. Wir brauchen eine Evaluation dessen, was in Afghanistan passiert. Das schulden wir nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch den Menschen in Afghanistan und der deutschen Öffentlichkeit.
Es gibt aber noch mehr Fragen, die wir derzeit nicht klären können. Der Kostenansatz explodiert um nahezu 40 Prozent; es sind 230 Millionen Euro mehr. Ich habe in den letzten Tagen sehr häufig versucht, Herr Minister, aus Ihrem Haus eine schriftliche Begründung für diese Kostenexplosion zu bekommen. Ich habe keine bekommen. Ich finde, das entspricht nicht Ihrem Ansatz von Transparenz. Es ist sehr bedauernswert und nahezu ein Skandal, dass wir im Hohen Hause über einen Ansatz diskutieren, dessen Grundlage fehlt; wir wissen nicht, warum die Kosten so steigen.
Es gibt noch mehr Fragen. Der Entwicklungshilfeminister hat vorgestern verkündet, 52 Millionen Euro mehr für den zivilen Aufbau zur Verfügung zu stellen. Wenn man genau hinschaut, muss man feststellen, dass dieses Geld von der Vorgängerregierung bereits versprochen und beschlossen worden ist. Hier wird uns altes Geld als frisches verkauft; auch das hat mit Transparenz und Ehrlichkeit überhaupt nichts zu tun. Wer so stiefmütterlich mit dem Ansatz für den zivilen Bereich umgeht, legt den Grundstein für eine sichere Niederlagenstrategie.
Wir als Grüne stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan. Genau deswegen fordern wir eine Bewertung und einen längst überfälligen Strategiewechsel. Vor allem fordern wir einen klar formulierten konkreten Zeitplan, der die Perspektive für einen Abzug aufzeigt, zumal die Kanadier und die Niederländer das machen. Das ist nicht unbedingt als großer Erfolg für die Taliban verkauft worden, Herr Minister.
Wir müssen die Worte ?Verantwortung? und ?Engagement? - sie sind häufig gefallen - endlich mit Sinn füllen. Das müssen wir tun, weil wir es den Menschen schulden: der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizeiausbildern und zivilen Helfern, vor allem aber den Menschen in Afghanistan.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Holger Haibach ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Holger Haibach (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Analyse beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Realität. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder hier im Haus die Realität schon betrachtet und richtig erkannt hat.
- Weil Sie ihn gerade ansprechen, würde ich gerne das eine oder andere zu dem, was in dieser Debatte bisher geäußert worden ist, sagen.
Wir haben einen großen Teil dieses Vormittags mit der Diskussion über einen Bericht verbracht, den noch keiner von uns gelesen hat.
Trotzdem sind wir der Meinung, wir könnten schon jetzt unsere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, dass dies die falsche Betrachtung der Realität ist.
Ich finde, wir sollten uns die Dinge erst einmal in aller Ruhe anschauen und dann unsere Schlüsse ziehen.
- Sie möchten vielleicht gerne darüber diskutieren. Das hat mit dem ursprünglichen Thema aber nur relativ wenig zu tun.
Zweitens. Herr Schmidt und Herr Nouripour haben die Kanadier dafür gelobt, dass sie eine Kommission eingesetzt haben. Es ist richtig: Die Kanadier haben eine Kommission eingesetzt. Sie haben den Bericht dieser Kommission auch entgegengenommen, aber etwas anderes gemacht. Sie haben ihre Soldaten nämlich entgegen der Empfehlung dieses Berichts länger in Afghanistan gelassen. Insofern kann man die Kanadier hier nicht als gutes Beispiel anführen und sagen: Das kann man auch in Deutschland so machen.
Eine Kommission bringt nur dann etwas, wenn man auch bereit ist, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen finde ich, dass man darüber noch einmal nachdenken muss. Die Kanadier setzen übrigens wieder eine Kommission ein; zumindest ist das geplant. Insofern glaube ich, dass uns eine Strukturdebatte an dieser Stelle nicht weiterhilft.
Ein letzter Punkt. Kollege Gehrcke hat vorhin in seiner Zwischenfrage gesagt, es gehe um die Selbstbestimmung der Afghanen.
Das ist völlig richtig,
und das bestreitet hier auch keiner. Aber ausgerechnet Ihre Fraktion ist nicht bereit, den Afghanen die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sagen nämlich: kein Militär, keine Unterstützung und kein Schutz unserer Entwicklungshelfer in Afghanistan. Diese Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, ist die falsche Politik.
Wir sollten einmal in der Rückschau betrachten, was in Afghanistan bereits erreicht wurde.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?
Holger Haibach (CDU/CSU):
Aber gerne.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Lieber Kollege, ich weiß, dass Sie ein gebildeter und kenntnisreicher Entwicklungspolitiker sind. Trotzdem kann man zu falschen Schlüssen kommen. Meinen Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung bedeutet, dass man den Afghanen dieses Recht erst einmal vorenthält und zensierende Anforderungen an sie stellt? Ich fand das Auftreten des Verteidigungsministers zu Guttenberg in Afghanistan brüskierend für das Volk. Dem Präsidenten, den ich nicht sympathisch finde und dessen rechtliche Grundlage sehr dünn ist,
sind in einer Art und Weise Vorhaltungen gemacht worden, die man nur an den Tag legt, wenn man einen kolonialen Ansatz verfolgt.
Deswegen meine Frage: Glauben Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung heute tatsächlich über Militär und die Vorenthaltung der Selbstbestimmung gehen kann?
Holger Haibach (CDU/CSU):
Ich glaube, in Kenntnis des Charakters des Kollegen Guttenberg kann ich den Begriff ?kolonial? sofort zurückweisen.
Zu Ihrer Frage, Herr Gehrcke. Es ist völlig unbestreitbar - das wird, wenn man seinen Worten Glauben schenkt, nicht einmal vom afghanischen Präsidenten bestritten -, dass es in der afghanischen Regierung große Defizite gibt, zum Beispiel beim Aufbau eines Rechtsstaates und bei der Korruptionsbekämpfung. Nichts anderes hat der Bundesverteidigungsminister gesagt. Er hat zu Recht deutlich gemacht, dass es darum geht, den Präsidenten hinsichtlich seiner Rede zur Amtseinführung beim Wort zu nehmen. Ich glaube, dass es nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere Pflicht, das zu tun.
Noch einmal zurück zu der Frage, was wir für den Wiederaufbau in Afghanistan tun. Ich habe die Äußerungen in den letzten Wochen zu diesem Thema verfolgt. Aber ich finde, sie sind ein wenig einseitig. Deutschland ist mit 1,2 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Es ist nicht so, als würden wir uns unserer Verantwortung an dieser Stelle in irgendeiner Form entziehen. Es ist bei allen Problemen und bei allen Defiziten, die es definitiv gibt, auch nicht so, als hätten wir nichts erreicht. Über unsere Investitionsagentur sind 400 000 neue Arbeitsplätze in Afghanistan geschaffen worden. Von unserer Mikrokreditfinanzierung profitieren 400 000 Haushalte, Handwerker, Händler und Dienstleister; sie haben eine Existenz. 500 000 Schüler können eine Grundschule besuchen. Das alles ist auch das Ergebnis deutscher Entwicklungspolitik. Das muss an dieser Stelle einmal anerkannt werden.
Natürlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutschland kritisch begleitet, und zwar zu Recht. Natürlich stellen sich Fragen. Ist unser Einsatz dort richtig? Ist dieser Einsatz auch gut verzahnt? Über diese wichtige Frage ist schon intensiv diskutiert worden. Das Afghanistan-Mandat der internationalen Gemeinschaft kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir die richtige Zielsetzung haben, wenn wir zivile und militärische Komponenten miteinander verzahnen und wenn wir mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft die richtige Verabredung, was Arbeitsteilung und Burden-Sharing betrifft, finden. Deshalb ist es richtig, keine Vorfestlegung zu machen, wie wir uns verhalten, wenn es eine Afghanistan-Konferenz Ende Januar gegeben haben wird, sondern jetzt das Afghanistan-Mandat zu verlängern und im Januar im Lichte der neuen Beschlüsse unsere Entscheidungen zu treffen. Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen.
Dass zur Selbstbestimmung der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen gehört, ist unbestritten. In Meseberg hat das Kabinett unter anderem beschlossen, dass die Zahl der deutschen Polizisten, die zur Ausbildung der afghanischen Polizei herangezogen werden sollen, von 70 auf 200 erhöht werden soll.
Das ist notwendig. Natürlich wissen wir, dass wir noch einiges zu tun haben, wenn wir zu einem Aufbau staatlicher Strukturen kommen wollen. Zum Aufbau staatlicher Strukturen gibt es, wie wir wissen, keine Alternative. Deswegen denke ich, dass wir unsere Rolle dabei spielen müssen.
Wir brauchen an dieser Stelle aber auch den Dialog, den Wiederaufbau, die sichtbare Friedensdividende, wie Herr Niebel es genannt hat. An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Ich bin froh, dass der neue Minister als eine der ersten Maßnahmen verkündet hat, dass er durch Umschichtungen im Haushalt in diesem Jahr 52 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt, damit mehr Wiederaufbau, mehr Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden kann. Das ist ganz klar ein Zeichen dafür, dass wir erkannt haben, was für Afghanistan notwendig ist.
Wenn man sich die Kritik der Nichtregierungsorganisationen anschaut - diese Woche fand die VENRO-Konferenz statt -, wird man zugestehen, dass man über vieles diskutieren kann. Wer die Presseberichterstattung verfolgt, muss jedoch den Eindruck gewinnen, das alles sei niemals erkannt worden und nichts davon sei Teil deutscher Politik. Ich will ein Beispiel anführen. Wir müssen uns intensiv Gedanken darüber machen, wie wir nicht nur in den Städten und in den Gegenden rund um unsere PRTs Sicherheit schaffen und beim Wiederaufbau vorankommen, sondern auch in den ländlichen Räumen. Da ist Deutschland durchaus Vorreiter. Nehmen wir das Konzept der Provincial Development Funds. Da sitzen Afghanen, zivile Entwicklungshelfer und Militärs an einem Tisch und entscheiden gleichberechtigt darüber, wie beträchtliche Mengen an Geld zur Stärkung ländlicher Regionen verteilt werden. Das kommt in der Öffentlichkeit kaum zur Sprache; man hört immer nur Kritik. Mit diesem Konzept hat Deutschland aber eine Vorreiterrolle eingenommen; denn bisher gibt es kaum ein anderes Land, das in Afghanistan ebenfalls diese Politik verfolgt.
Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es notwendig ist, insbesondere drei entwicklungspolitische Ziele zu sehen.
Erstens. Wir müssen die Kapazitäten auf der afghanischen Seite ausbauen; dazu habe ich etwas gesagt. Das bedeutet, dass wir die größeren finanziellen Mittel, die uns jetzt zur Verfügung stehen, in den staatlichen Aufbau, in die Bildung und natürlich auch in den Aufbau entsprechender Sicherheitsstrukturen, einer Rechtsstaatlichkeit stecken.
Zweitens. Wir müssen die internationale Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung stärken. Ich denke, dass auf der Konferenz in London Ende Januar nächsten Jahres dafür gesorgt werden kann, dass dies geschieht.
Drittens. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Mittel noch unmittelbarer bei der Bevölkerung ankommen. Es gibt einen dicken Bericht darüber, wie die internationale Gemeinschaft, wie das internationale Engagement in Afghanistan gesehen wird. Es ist vollkommen klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger, die Menschen in Afghanistan das Gefühl haben, dass die Hilfe bei ihnen ankommt, dann steigt auch die Akzeptanz und dann ist es möglich, mit dem Wiederaufbau nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen zu erreichen. Ich glaube, das muss unser entscheidendes Ziel sein.
Dazu gehört am Ende auch, dass wir uns im internationalen Bereich über den regionalen Ansatz einig werden. Pakistan ist von einer ganz entscheidenden Bedeutung für Afghanistan; denn wenn es dort zu einer instabilen Lage kommt, wird es sehr schwierig. Das betrifft aber auch viele andere Staaten wie China, Indien, den Iran und die zentralasiatischen Staaten. All das muss in unserer Entwicklungszusammenarbeit auch eine Rolle spielen.
Fazit ist: Ich glaube, wir haben eine gute Strategie, mit der wir weiter gut voranschreiten können. Wir müssen unsere Entscheidungen im Lichte der Konferenz von London betrachten. Wenn wir das machen, dann, so glaube ich, können wir trotz der schwierigen Lage in Afghanistan am Ende auch Erfolg haben.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.
Karin Evers-Meyer (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterstützen den ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dieser Einsatz ist richtig und notwendig; denn ein sicheres Afghanistan liegt im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen dort.
Für den Einsatz unserer Armee ist das Parlament verantwortlich; ich betone das heute ganz besonders. Herr Minister zu Guttenberg, deswegen haben Sie mit der Zuweisung der Verantwortung an Herrn Staatssekretär Wichert und den Generalinspekteur Schneiderhan zwar schnell, unserer Meinung nach aber längst nicht ausreichend gehandelt. Es geht hier um politische Verantwortung.
Sie, Herr Minister zu Guttenberg, haben die tragischen Ereignisse in dieser Nacht, den Bombenabwurf auf zwei Tanklaster und die Menschenmenge, noch bis gestern als angemessen bezeichnet, und der frühere Verteidigungsminister Jung hat nach Presseberichten sowohl das Parlament als auch die Staatsanwaltschaft nicht korrekt informiert. In diesem Zusammenhang haben wir heute mit besonderem Interesse verfolgt, wie er von der Regierungsbank daran gehindert wurde, an das Rednerpult zu treten. Wenn das, was wir gerade gehört haben, wirklich richtig ist, dass er nämlich im Anschluss an die Parlamentssitzung bei Phoenix zu diesem Thema Stellung nimmt, dann halten wir das für eine Respektlosigkeit ohnegleichen dem Parlament gegenüber.
Herr Jung, ich fordere Sie hier in aller Ernsthaftigkeit auf, hier vor dem Parlament Stellung zu nehmen und nicht zuerst vor den Medien.
Nun zurück zu unserem Thema. An der Begründung für den deutschen Afghanistan-Einsatz hat sich nichts geändert. Ich muss sagen: Leider hat sich daran noch nichts geändert, weil die Lage in Afghanistan eben nicht so stabil ist, wie wir uns das wünschen. Wir wollen einen Rückfall Afghanistans in die Zeiten des Bürgerkriegs und in die Zeiten der Talibanherrschaft verhindern. Deswegen sind deutsche Soldaten in Afghanistan und leisten dort anspruchsvolle Arbeit - eben auch unter Einsatz ihres Lebens. Sie unterstützen vor Ort die internationalen Bemühungen und die Bemühungen Afghanistans zur Stabilisierung des Landes. Dieses Ziel - ein stabiles Afghanistan für die Menschen Afghanistans - ist und bleibt richtig.
Aber ohne die Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten wird dieses Ziel in weite Ferne rücken, nicht zuletzt deshalb, weil unser Einsatz auch die afghanische Regierung und die internationalen Partner auffordert, aktiver beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Frage, wie lange dieser Einsatz noch dauert, noch länger unbeantwortet lassen können. Es ist sogar höchste Zeit, dass wir uns über die zeitliche Perspektive dieses Einsatzes verständigen. Das erwartet nicht nur die deutsche Öffentlichkeit von uns; das schulden wir vor allen Dingen auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken.
Am Ende unseres Einsatzes muss die Regierung in Afghanistan selbst in der Lage sein, Verantwortung für die Sicherheit im Land zu übernehmen. Damit das gelingt, müssen wir Afghanistan eine klare Perspektive geben: Auch Afghanistan braucht einen Zeitplan und damit eine konkrete Zielvorgabe, eine Perspektive für die Entwicklung des Landes, eine Perspektive für das internationale Engagement und vor allem auch eine Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten, die uns zu Recht immer häufiger fragen, wie lange der Einsatz in Afghanistan wohl dauern wird. Deswegen muss jetzt im Interesse Afghanistans und in unserem Interesse die Grundlage für einen durchdachten Abzug geschaffen werden.
Die Zeit dafür ist doppelt günstig. Nach den Präsidentschaftswahlen gibt es jetzt Gelegenheit, Defizite beim Wiederaufbau offen anzusprechen. Hinzu kommt, dass der aktuelle Afghanistan-Compact im nächsten Jahr ausläuft. Das können wir nutzen, um auch unserem Engagement in Afghanistan eine neue Perspektive zu geben.
Was die SPD-Fraktion will, ist ein verbindlicher Fahrplan, der gemeinsam mit der afghanischen Regierung und unseren internationalen Partnern erarbeitet wird. Am Ende des Fahrplans muss stehen, dass die Afghanen alleine für die Sicherheit ihres Landes sorgen können. Das Ziel ist ambitioniert, aber wir sollten den Anspruch haben, dieses Ziel zu erreichen. In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitskräften. An 90 Prozent aller ISAF-Einsätze sind mittlerweile afghanische Armeeeinheiten beteiligt. Das ist ein Fortschritt. Ich weiß aber, dass zur Wahrheit auch gehört, dass nur knapp die Hälfte der afghanischen Bataillone in der Lage ist, auch eigenständige Operationen durchzuführen. Das macht deutlich: Wir bewegen etwas, aber wir können und müssen noch etwas mehr tun, insbesondere in Sachen militärischer und polizeilicher Ausbildung.
Deswegen fordern wir von der Bundesregierung heute verlässliche Aussagen darüber, mit welchen Zielen sie in die Gespräche mit der afghanischen Regierung geht. Wir fordern klare Konzepte und deutliche Forderungen in Richtung Afghanistan-Konferenz. Das ist die Voraussetzung dafür, dass konkrete Ziele vereinbart werden können. Das Gleiche gilt für den neuen Afghanistan-Compact. Das Engagement der internationalen Partner muss mehr als bisher zielgerichtet koordiniert werden. Der neue Pakt muss tragfähige Ziele für den Aufbau des Landes benennen, und dazu gehört eben auch ein konkreter Zeitplan.
Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sich noch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei zu bemühen. Sicherlich können wir die Wirkung unseres Engagements noch erhöhen, wenn wir uns mehr auf Brennpunkte konzentrieren und die Zusammenarbeit mit den zivilen Helfern und Organisationen weiter ausbauen. Ich erinnere daran: Die Grundlage des ISAF-Einsatzes ist ?Keine Sicherheit ohne Aufbau und kein Aufbau ohne Sicherheit?. Das muss heute mehr gelten denn je.
Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ein entsprechend klares Konzept vorzulegen. Ein klares ?Weiter so wie bisher!? reicht einmal mehr nicht aus.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung Herrn Kollegen Oppermann.
Thomas Oppermann (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsminister hat heute Morgen hier erklärt, dass er uns als Parlament direkt darüber informiert, dass der Generalinspekteur militärisch Verantwortung übernommen hat und dass der Staatssekretär administrativ Verantwortung übernommen hat. Uns wurde aber nicht erklärt, wer die politische Verantwortung trägt.
Der amtierende Verteidigungsminister war noch nicht zuständig, als sich die Luftangriffe in Afghanistan ereigneten. Aber der damals zuständige und verantwortliche Minister ist heute hier im Plenum. Wenn wir jetzt hören, dass ein Interview mit dem Verteidigungsminister a. D. Jung bei Phoenix bevorsteht, dann finde ich, dass das Parlament den Anspruch und das Recht hat, vorher persönlich Herrn Jung zu hören.
Wenn Herr Jung als nicht mehr zuständiger Minister hier nicht reden darf, dann muss allerdings jemand anderes die politische Verantwortung übernehmen und über die politische Verantwortung reden. Wenn Herr Jung es nicht tun kann, dann kann es nur die Person tun, die damals im Amt war und heute im Amt ist; das ist die Bundeskanzlerin.
Ich beantrage zunächst, dass der Informationsanspruch des Parlamentes dadurch erfüllt wird, dass jetzt Verteidigungsminister a. D. Jung das Wort erhält.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat der Kollege Altmaier.
Peter Altmaier (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es handelt sich bei den Vorwürfen, über die wir heute Morgen diskutiert haben, um einen ernsten Vorfall. Der Bundesminister der Verteidigung hat in angemessener, umfassender und klarer Weise dem Parlament Rechenschaft darüber abgelegt. Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion dafür ganz herzlich bedanken.
Ich finde es, Herr Kollege Oppermann, mit Verlaub gesagt, der Situation nicht angemessen, wenn Sie versuchen, bei der Ernsthaftigkeit dieses Themas mit Geschäftsordnungsanträgen und mit Vorwürfen, die durch nichts begründet sind,
eine Debatte, die in angemessener Art und Weise geführt worden ist, für parteipolitische Zwecke auszuschlachten.
Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesminister für Arbeit und Soziales in nächster Zeit ein Phoenix-Interview geben wird.
Mir ist auch kein Argument bekannt, das dafür spricht, Ihrem Geschäftsordnungsantrag zuzustimmen.
Deshalb beantragen wir, diesen Geschäftsordnungsantrag abzulehnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Antrag zur Geschäftsordnung gestellt worden. Eine Gegenrede ist ermöglicht worden. Es besteht nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, darüber abzustimmen.
- Nicht zwingend.
Ich verweise auf § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung:
Der Präsident kann die Worterteilung bei Geschäftsordnungsanträgen, denen entsprochen werden muss ..., auf den Antragsteller, bei anderen Anträgen auf einen Sprecher jeder Fraktion beschränken.
Ich hätte also die Worterteilung auf den Antragsteller beschränken können. Ich habe aber mehr zugelassen.
- Der Präsident entscheidet. Ich entscheide so, weil es in der Sache nicht mehr bringt, sondern nur die Zeit verlängert.
Ich bitte deshalb jetzt um Abstimmung.
- Die Kollegin will einen weiteren Geschäftsordnungsantrag stellen. Wir sind aber in der Abstimmung über den vorliegenden Geschäftsordnungsantrag.
Der Kollege Oppermann hat einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, und über diesen Antrag lasse ich abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! -
Wir sind uns nicht einig. Deshalb muss ausgezählt werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. - Darf ich darum bitten, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die nicht Schriftführer sind, den Saal definitiv verlassen? - Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze an den Türen einzunehmen. Darf ich um ein Zeichen bitten, ob die Schriftführer ihre Plätze eingenommen haben? - Ja, das ist der Fall.
Der Saal ist derzeit leer. Ich weise noch einmal darauf hin, dass wir über den Geschäftsordnungsantrag der SPD-Fraktion abstimmen. Ich bitte nun, mit dem Auszählen zu beginnen.
Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die zunächst vor der Tür standen, im Saal? - Dann bitte ich Sie, Platz zu nehmen. Die Auszählung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag bekannt: Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 293 Abgeordnete, Enthaltung keine.
Der Geschäftsordnungsantrag ist damit abgelehnt.
Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag hat Herr Bundesminister Jung angeboten, eine Stellungnahme abzugeben.
Herr Minister, bitte.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen, dass ich es gerade in dieser wichtigen und ernsten Debatte für notwendig erachte, dass Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Vertrauen und dass dies auch und gerade für mich im Hinblick auf die Information für das Parlament gilt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte allerdings Folgendes erbitten: Sie haben von diesen Vorwürfen, von diesen Berichterstattungen und von dem gesprochen, was hier alles im Einzelnen behauptet worden ist. Ich möchte die Chance haben, diese Unterlagen zu überprüfen, auch den Sachverhalt zu überprüfen, um dann korrekt Ihnen gegenüber, vor dem Parlament, Stellung nehmen zu können, und zwar im Laufe des heutigen Tages. Dies halte ich für ein sachgerechtes Vorgehen. Ich bitte diesbezüglich um Ihre entsprechende Zustimmung.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 17/39 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Altersteilzeitgesetzes
- Drucksache 17/20 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich darf Sie bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Gespräche außerhalb des Saales fortzuführen und den Rednerinnen und Rednern der nächsten Debatte Aufmerksamkeit zu schenken.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hubertus Heil von der SPD-Fraktion.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis dafür, dass dies für den Bundesminister für Arbeit und Soziales aufgrund der Debatte, die wir eben geführt haben, und der Berichterstattungen kein einfacher Tag ist. Mich hat eben eine Nachricht erreicht, die auf die Situation, in der sich der Minister in seinem neuen Amt befindet, ein bezeichnendes Licht wirft. Ich habe gerade gehört, dass auf der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer, nachdem gestern Abend mit dem Bundesarbeitsminister beraten wurde, mit sage und schreibe 15 Stimmen bei einer Enthaltung entschieden wurde, dass im Rahmen der Reform des SGB II - Stichwort ?Jobcenter? - der alte von Olaf Scholz erarbeitete und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpedierte Kompromiss und Gesetzentwurf beschlossen werden soll. Das zeigt den Rückhalt, den Sie in der Arbeitsmarktpolitik haben.
Es ist also in mehrerlei Hinsicht kein einfacher Tag für den Bundesarbeitsminister. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass er sich, wie er eben gesagt hat, die nötige Zeit nimmt, und finde es fair, dass er heute in der alten Angelegenheit Stellung nimmt. Wir brauchen aber im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, zumal in diesen Zeiten, einen Bundesminister für Arbeit und Soziales, der den Kopf und den Rücken frei hat, um sich um den Arbeitsmarkt in diesem Land zu kümmern.
Herr Fuchtel, als zuständiger Staatssekretär sind Sie hier in Vertretung des Ministers; vielleicht hören Sie einmal zu. Es geht nämlich um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion in dieser Krise unerlässlich ist. Es ist richtig und vernünftig, dass Sie in der Tradition von Olaf Scholz im nächsten Jahr die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes wieder verlängert haben, um ein Instrument zur Verfügung zu haben, den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland effektiv begegnen zu können. Umso weniger verstehe ich aber, dass Sie gerade in dieser Krise ein weiteres wichtiges Instrument, nämlich die geförderte Altersteilzeit, die eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt, auslaufen lassen wollen. Das ist weder logisch noch sinnvoll.
Deshalb legt die SPD-Bundestagsfraktion heute einen Gesetzentwurf vor, der die Verlängerung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit um fünf Jahre vorsieht. Wir sind der festen Überzeugung, dass es notwendig und richtig ist, sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt genau anzusehen. Ja, es ist richtig, dass im Jahre 2009 die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise abgefedert werden konnten, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bis dato nicht so schrecklich war wie prognostiziert. Aber wir müssen feststellen, dass diese Aussage für bestimmte Altersgruppen auf dem Arbeitsmarkt bereits in diesem Jahr so nicht gilt. Probleme gibt es bei unter 25-Jährigen und über 50-Jährigen. Gerade deshalb ist es notwendig, eine Beschäftigungsbrücke, das heißt geförderte Altersteilzeit, zu bauen und zu erhalten.
Die Frage ist doch, meine Damen und Herren von der Koalition, ob wir in dieser Situation pragmatisch reagieren, um das zu tun, was notwendig ist, nämlich Beschäftigung zu sichern und vor allen Dingen Berufseinstiegschancen für Jüngere zu schaffen. Ich kann die ideologische Position, mit der Sie uns hier begegnen, nicht verstehen.
Dann auch noch Ihre falschen Argumente: Es gibt eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen zur Altersteilzeit aus dem Herbst letzten Jahres,
in der all die Argumente, die Frau Connemann gleich noch einmal auflisten wird, entkräftet werden. Es ist schlicht und ergreifend falsch, dass die geförderte Altersteilzeit den Trend zur Frühverrentung unterstützt. Im Gegenteil: Wir in der Verantwortung der Bundesregierung haben in den letzten Jahren den Trend zur Frühverrentung in diesem Land gestoppt und umgekehrt. Das ist gut so, und das ist richtig so.
- Entschuldigen Sie, ist Ihnen aufgefallen, dass die Regelung der geförderten Altersteilzeit noch in Kraft ist
und dass die geförderte Altersteilzeit also kein Brandbeschleuniger für den Trend zur Frühverrentung sein kann?
Denn wir haben diese zurückgedrängt. Wenn Sie einmal ein bisschen nachdenken würden, dann würde sich das auch Ihnen erschließen.
Helmut Kohl hat einmal den schönen Satz gesagt: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. Ich habe damals als Jungsozialist oft darüber geschmunzelt. Inzwischen, mit zunehmendem Lebensalter, begreife ich, was der philosophiebegabte Altbundeskanzler damit gemeint hat. Die Realität im nächsten Jahr wird sein, dass sich die Probleme am Arbeitsmarkt infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise verschärfen werden. Das wissen wir alle. Aber die Wirklichkeit ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in Deutschland die gerade in diesen Zeiten notwendigen Instrumente, um dieser Entwicklung zu begegnen, verweigert.
Frau Connemann, als niedersächsischer Kollege will ich Ihnen im Vorfeld Ihrer Rede einen Tipp geben. Bevor Sie wieder erzählen, das Instrument der Altersteilzeit werde von den Unternehmen zum Personalabbau missbraucht, empfehle ich Ihnen, sich die Salzgitter AG in unserem Heimatland Niedersachsen anzuschauen. Das ist ein Unternehmen, das mit dem Werk in Peine auch in meinem Wahlkreis vertreten ist. Es hat in den letzten Jahren das Instrument der geförderten Altersteilzeit sehr wohl genutzt, um in einer Branche, die sehr konjunkturabhängig ist, Beschäftigungsbrücken zu bauen, um Jüngeren konsequent den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.
Wenn wir davon ausgehen, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise Kurzarbeit oder neue Instrumente zur Verkürzung der Arbeitszeit - auch der Wochenarbeitszeit, wie sie Herr Kannegiesser und die IG Metall ins Gespräch gebracht haben - grundsätzlich Instrumente zur Beschäftigungssicherung sein können, dann sollten wir uns das bewährte Instrument der geförderten Altersteilzeit nicht entgehen lassen.
Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf binnen kürzester Zeit erarbeitet und vorgelegt. Ich bitte Sie von der Koalition, nicht aus ideologischen Gründen oder weil er von uns als Opposition vorgelegt worden ist, an dieser Stelle tatsächlich noch einmal nachzudenken und umzukehren. Die jungen Menschen, die unter 25-Jährigen, verdienen eine Chance. Die Chance, Älteren - die es wollen oder auch brauchen - durch Arbeitszeitverkürzung, das heißt durch geförderte Altersteilzeit, einen flexiblen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, ist nicht nur pragmatisch richtig, sondern auch menschengerecht und in dieser Phase des Arbeitsmarktes unerlässlich.
Deshalb ist unser Vorschlag konsequent. Wir haben damit zu rechnen, dass auch im Bundesrat entsprechende Initiativen ergriffen werden. Ich bitte Sie an dieser Stelle, sowohl auf das zu hören, was aus dem Bereich der Personalvorstände und der Unternehmensleitungen, als auch auf das, was von den Gewerkschaften und aus dem Bereich der Betriebs- und Personalräte gefordert wird.
Es ist eine Chance, ein in dieser Krise notwendiges Instrument nicht zu verspielen, das eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt. Deshalb ist es auch eine gesamtwirtschaftliche Frage, ob wir über dieses Instrument dem drohenden Fachkräftemangel der Zukunft begegnen können, indem wir jungen Menschen konsequent einen Einstieg über die Möglichkeit der geförderten Altersteilzeit ermöglichen,
damit sie diese Beschäftigungsbrücken zwischen den Generationen beschreiten können.
Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, in Zeiten, in denen der Bundesarbeitsminister mit Dingen aus seiner Vergangenheit belastet ist, den Blick für die Gegenwart und die Zukunft am Arbeitsmarkt nicht zu verlieren und unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Gitta Connemann.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seit der Bundestagswahl scheinen Sie sich ein neues Hobby zugelegt zu haben: der Kollege Heil das der Hellseherei; denn er wusste schon vor meiner Rede, was ich sagen würde.
Sie haben offenbar ein weiteres Hobby, nämlich einen Sport der besonderen Art: die Rolle rückwärts.
Herr Kollege Heil, Ihre Rede war eine bemerkenswerte Darbietung dieser neuen Disziplin. Ich habe wirklich mit Ihnen gelitten; denn Sie müssen sich bei dieser Übung außerordentlich verrenkt haben. Die Linken haben in der vergangenen Legislaturperiode viermal die Verlängerung der geltenden Altersteilzeitregelung beantragt.
Viermal haben Sie diesen Antrag abgelehnt, meine Damen und Herren von der SPD.
Heute bringen Sie einen nahezu inhaltsgleichen Gesetzentwurf ein. Das nenne ich eine Rolle rückwärts.
Doch wenn Sie glauben, dafür eine Goldmedaille zu gewinnen, muss ich Sie enttäuschen, liebe Sportsfreunde;
denn die Rolle rückwärts ist keine olympische Disziplin. Damit schaffen Sie es noch nicht einmal aufs Podium; denn wir werden Ihren gemeinsamen Verrenkungen mit den Linken auf Kosten der Arbeitslosenversicherung nicht zustimmen, und genau darum geht es heute.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? - Der Herr Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Sehr gerne, Herr Kollege.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Liebe Kollegin Connemann, Ihnen sollte eigentlich bekannt sein, was Koalitionsverträge bedeuten, und Sie sollten wissen, dass Sie uns, Ihren damaligen Koalitionspartner, in der letzten Legislaturperiode daran gehindert haben, die Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu verlängern.
Meine Frage ist: Meinen Sie mit ?Rolle rückwärts? auch die ?Rolle Rüttgers?, die Position des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der gegenüber Gewerkschaften und Arbeitgebern eine Verlängerung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit ganz ausdrücklich befürwortet hat? Meine Frage ist: Wollen Sie Herrn Rüttgers auch in die kommunistische Ecke rücken?
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Lieber Herr Kollege Heil, allenfalls in sportlicher Hinsicht. Ich beurteile in diesem Plenum Ihre Leistung, und Fakt ist, dass die Koalitionsvereinbarung auch mit Ihren Stimmen geschlossen worden ist. Übrigens ging von Ihrem damaligen Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, langjähriger Parteivorsitzender und Vizekanzler, die Initiative zur Beendigung der geförderten Altersteilzeit aus.
Dabei ging es im Wesentlichen, und zwar aus gutem Grund, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
- Ich bin noch nicht fertig.
- Gut, vielen Dank, dass Sie selbst bestimmen, wann die Frage beantwortet ist. Ich hätte Ihnen gerne noch erklärt, wie der Staat fördert, und darauf hingewiesen, dass er weiterhin fördert. Sie erzeugen einen Irrglauben, wenn Sie sagen, dass die Altersteilzeit nicht weitergeführt werden kann. Tatsache ist, dass sie auch nach 2009 weitergeführt werden wird, und zwar mit einer erheblichen staatlichen Förderung. Der Betrag, mit dem das Teilzeitgehalt aufgestockt wird, ist von Steuern und Sozialabgaben befreit. Davon profitieren heute 500 000 Arbeitnehmer. Diese erhebliche Förderung wird es weiterhin geben.
Es geht um den zweiten Teil, nämlich um die Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit die Mindestaufstockung des Gehalts um 20 Prozent übernimmt, wenn der frei werdende Arbeitsplatz neu besetzt bzw. ein Ausgebildeter dafür eingestellt wird. Diese Förderung aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung erfolgt in 20 Prozent der Fälle. Mit einer außerordentlich hohen Summe. 1,3 Milliarden Euro werden pro Jahr für nur 94 000 Beschäftigte in Altersteilzeit aufgewandt, und zwar aus Beiträgen, die an sich das Risiko der Arbeitslosigkeit absichern sollen. Das geht auf Kosten aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Das heißt, viele subventionieren die Frührente einiger weniger. Das ist in jeder Hinsicht ungerecht. Deswegen sagen wir sehr deutlich: Mit dieser Frühverrentung muss am Ende dieses Jahres endlich Schluss sein.
Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode mit Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Nun starten Sie aber wieder in Ihrer Paradedisziplin: Es geht zurück in die Vergangenheit. Nun soll die Förderung mit Arbeitslosengeldern fortgeführt werden, nur mit einigen kleinen Änderungen, mit Marginalien, sodass die Grundprobleme erhalten bleiben:
Erstens. Die Altersteilzeit ist fast nie, was ihr Name verspricht. Sie ist keine echte Teilzeit mit halbierter Arbeitszeit, wie es der Gesetzgeber 1996 eigentlich wollte. Heute wählen fast 90 Prozent das sogenannte Blockmodell.
Bis zu einem Stichtag wird voll gearbeitet. Dann folgt abrupt die Freizeitphase. Ein gleitender Übergang in den Ruhestand findet gerade nicht statt. Damit sind nicht nur gesundheitliche Risiken verbunden. Die Älteren verlassen die Betriebe faktisch einige Jahre vor der Altersgrenze. Das ist ein großer Verlust angesichts der demografischen Entwicklung. Gerade diese wird von der SPD in ihrem Gesetzentwurf als Begründung angeführt. Dort heißt es:
Die demografische Entwicklung macht es erforderlich, das Beschäftigungspotenzial der Älteren voll auszuschöpfen.
Absolut richtig, liebe SPD! Weiter steht dort, man müsse ihr wertvolles Erfahrungswissen länger in den Unternehmen nutzen. Absolut richtig! Aber wenn Sie flexible Übergänge wirklich wollen, dann müssen Sie konsequenterweise das Blockmodell abschaffen. Davon steht in Ihrem Gesetzentwurf ebenso wenig wie in den damaligen Anträgen der Linken.
Das macht im Umkehrschluss deutlich, was Sie eigentlich wollen: Weiter mit der subventionierten Frühverrentung.
Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher Rentenversicherung und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, vor allem Besserverdienende, die kaum arbeitslos gewesen sind. Die Büroberufe der öffentlichen Verwaltung und im Kreditgewerbe liegen dabei vorne. Im Baugewerbe profitieren dagegen nur 2 Prozent von der Frühverrentung. Das heißt, die Rede vom Bauarbeiter, der in die Altersteilzeit geht, ist eigentlich eine Mär, die der heutigen Realität faktisch nicht entspricht.
Gerade diejenigen, die körperlich hart arbeiten müssen und wenig verdienen - der Bauarbeiter und die Friseurin -, können sich dieses Modell nicht leisten, müssen es aber mit ihren Beitrags- und Steuermitteln finanzieren. Die Kleinen zahlen für die Großen; das ist unsozial.
Deswegen werden wir es nicht mittragen.
Drittens. Lieber Herr Kollege Heil, die Altersteilzeit hat nicht zu mehr Einstellungen geführt. Dies möchte der Kollege Heil nicht hören; deswegen dreht er mir offensichtlich den Rücken zu. - Sicherlich sind Auszubildende übernommen worden. Allerdings wären sie ohnehin übernommen worden; denn angesichts des trotz der Krise bestehenden Fachkräftebedarfs hat jedes Unternehmen ein Interesse daran, seinen qualifizierten Nachwuchs zu behalten. Mitnahmeeffekte anstatt einer Beschäftigungsbrücke. So findet sich in einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit die Deutung - ich zitiere -, ?dass es vermehrt zu Mitnahmeeffekten durch Unternehmen kam, die Auszubildende sowieso eingestellt bzw. übernommen hätten.?
Viertens. Diese Mitnahmepraxis wird insbesondere von Konzernen genutzt. Auf die Betriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten entfallen mehr als ein Drittel der Altersteilzeitbeschäftigten. Dagegen beträgt der Anteil in Betrieben mit weniger als 20 Arbeitnehmern weniger als 2 Prozent, obwohl mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland in solchen Betrieben arbeitet. Das heißt, die Altersteilzeit gehört in den Großbetrieben zum Standard. Die Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich bequem und auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler von älteren Arbeitnehmern zu verabschieden; auch das ist unsozial.
Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit nach 2009 mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu fördern. Die Förderung ist unsozial, der Nutzen zweifelhaft; Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert. Herr Kollege Heil, davon geht auch ein vollkommen falsches Signal aus: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert von der Allgemeinheit. Genau das brauchen wir nicht. Wir brauchen in dieser Gesellschaft die Älteren ebenso wie die Jüngeren. Wir dürfen kein Konkurrenzverhältnis erzeugen; das ist mit uns von der Union nicht zu machen.
Wir benoten die derzeitige Altersteilzeitregelung ebenso wie die Bundesagentur - ich zitiere -: ?Beliebt, aber nicht zukunftsgerecht.? In der neuesten Studie vom August 2009 lehnt das IAB, die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, die Altersteilzeitregelung mit folgender Begründung ab - ich zitiere -:
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit die falschen Signale. ? Deshalb gewinnen Maßnahmen an Bedeutung, die dazu beitragen, die Beschäftigungsfähigkeit der älteren Mitarbeiter zu erhalten. So sollte die Arbeitsmarktpolitik auf längere Sicht den Fokus auf die Beschäftigung möglichst bis an die Ruhestandsgrenze legen - gerade bei einer bis zum 67. Lebensjahr verlängerten Lebensarbeitszeit.
Liebe Sportsfreunde von der SPD, Ihr Gesetzentwurf weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie wollen die Renaissance der staatlich geförderten Frühverrentung. Das ist angesichts der demografischen Entwicklung ein schwerer Fehler. Sie wissen um diesen Fehler; denn im Jahre 2005 war es kein Geringerer als Ihr Genosse Franz Müntefering, der den Rentenbeginn mit 67 initiierte.
Seine Idee war und ist noch heute richtig - wir haben es mitgetragen -; denn immer weniger Arbeitnehmer müssen in Zukunft immer mehr Menschen im Alter finanzieren. Die Behauptung, damit werde jüngeren Arbeitnehmern der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt, ist tatsächlich längst widerlegt.
In vielen Branchen fehlt trotz der Krise der Nachwuchs.
Mit dem Prinzip der Rente mit 67 ist die Wiederbelebung der staatlich geförderten Frühverrentung vollkommen unvereinbar. Damit wird an Ihrem Gesetzentwurf eines deutlich: Es geht Ihnen letztlich nur darum, ein Feigenblatt zu finden, um sich von der Rente mit 67 und damit auch von der Agenda 2010 zu verabschieden.
Nichts anderes ist dieser Gesetzentwurf: ein Feigenblatt.
Es steht völlig außer Frage, dass wir in bestimmten Branchen mit schwerster Belastung Kranken und Ausgebrannten eine Möglichkeit geben müssen. Das haben wir mit den Programmen getan, die wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam aufgelegt haben. Wir haben dort Möglichkeiten geboten, und zwar durch finanzielle Leistungen, durch die Förderung der beruflichen Weiterbildung, durch Modernisierung und altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedingungen - mit Erfolg: Die Erwerbstätigenquote bei Älteren ist signifikant angestiegen.
Verlassen Sie doch diesen Pfad der Vernunft nicht! Meine Damen und Herren von der SPD wie auch von der Linken, ich kann nur sagen: Nehmen Sie Abstand von diesem Gesetzentwurf! Damit werden Sie weder einen Platz in der Sportgeschichte noch im Bundesgesetzblatt finden. Wir werden ihn ablehnen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der SPD geht angesichts der Situation, die wir zurzeit, in der Krise, in den Betrieben ganz real vorfinden, in die richtige Richtung. Ich werde zu Frau Connemann noch das eine oder andere über die Realität sagen.
Aber ein paar Bemerkungen kann ich natürlich auch der SPD nicht ersparen. Es ist richtig, dass Ihr Weg, die Anhebung des Renteneintrittsalters - dafür sind Sie mit verantwortlich - und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit - in der Zeit, in der Sie regiert haben, ist sie ausgelaufen, und Sie haben nicht dazu beigetragen, dass das vernünftig geregelt wird -, die Probleme herbeigeführt hat, die Sie jetzt versuchen zu regeln. Dass Sie es jetzt regeln wollen, ist schön; aber besonders loben können wir Sie dafür nicht.
- Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Wenn man einen Brand legt, dann kann man nicht dafür gelobt werden, dass man als Erster die Feuerwehr ruft.
Wir müssen daran erinnern, wo Ihre Verantwortung liegt. Hier wird richtigerweise angeführt, dass Sie Ihre Position in der Rentenpolitik ändern. Das eigentliche Problem ist also Ihre Rentenpolitik. Sie sind sich nach wie vor überhaupt nicht einig, was Sie wollen. Auf Ihrem Parteitag hieß es zur Rente mit 67 - ich zitiere -:
Wir werden uns dazu im nächsten Jahr konkret verhalten, wenn die Bundesregierung den Bericht zu der Anhebung der Regelaltersgrenze gibt.
Sie haben im Wahlmanifest von 2005 geschrieben - ich zitiere -:
Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Eintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.
Herausgekommen sind die Rente mit 67 und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit.
Ich sage Ihnen: Das Problem, das Sie zurzeit in dieser Frage haben, ist, dass Sie herumeiern. Sie haben noch keinen Kurs gefunden. In dieser Frage hat die CDU/CSU leider recht. Ich kann nur hoffen, dass Sie Ihren Kurs endlich finden. Denn die letzten Wahlergebnisse und Umfrageergebnisse sind für Sie ja nicht berauschend. Das hängt damit zusammen, dass Sie noch keinen Kurs gefunden haben. Ich kann Ihnen auch sagen: Wenn man sich dreht und wendet, wird man von denen nicht mehr erkannt, wo man her kommt, und von denen nicht akzeptiert, wo man hin will. Das ist Ihr Problem.
Kehren Sie um, und versuchen Sie, zumindest in dieser Frage wieder Sozialdemokraten zu werden; Sie sind es noch nicht ganz.
Zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfes: Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung, weil er tatsächlich versucht, einen Übergang zwischen Menschen, die im Betrieb sind, und Menschen, die in den Betrieb wollen, zu gewährleisten. Allerdings verschließt sich mir jede Logik bei der Frage, warum Sie diese Förderung eigentlich nur dann gewähren wollen, wenn Auszubildende eingestellt werden. Wir haben momentan folgende Situation auf dem Arbeitsmarkt - das dürfte Ihnen doch nicht entgangen sein -: Die Ersten, die rausgeflogen sind, waren die Leiharbeiter. Das waren die Ersten, die die Betriebe verlassen mussten und momentan händeringend Jobs suchen. Die Zweiten, die nicht mehr im Betrieb sind, sind die, die befristete Beschäftigungsverhältnisse hatten. Sie wollen diese befristeten Beschäftigungsverhältnisse jetzt auch noch ausweiten und damit dazu beitragen, dass noch mehr Menschen nicht in einer Beschäftigung sind, übrigens ohne dass ihnen gekündigt werden muss; denn am Kündigungsschutz wollen Sie nichts ändern.
Ich sage: Wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass es nicht nur um die Auszubildenden geht, sondern auch um die vielen Menschen, die ihren Job aufgrund der Krise schon verloren haben, dann liegt man an dieser Stelle falsch. Ihr Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Aber wir brauchen, bitte schön, auch dann eine Förderung, wenn Arbeitslose eingestellt werden oder wenn Leute eingestellt werden, die vorher Leiharbeiter oder befristet Beschäftigte waren und dann arbeitslos geworden sind. Warum wollen Sie die Förderung bei diesen Leuten nicht gewähren? Das ist vollkommen unlogisch. Ändern Sie an dieser Stelle Ihren Gesetzentwurf!
Meine Damen und Herren, Schwarz-Gelb lehnt eine weitere Förderung der Altersteilzeit ab. Das ist natürlich problematisch. Dieses Gesetz ist nämlich nicht von der SPD eingeführt worden, sondern es ist unter Schwarz-Gelb entstanden.
Damals gab es in Ihren Reihen noch Sozialpolitik.
Damals gab es in Ihren Reihen auch noch einen Norbert Blüm. Er hat damals zwar nicht immer das gesagt, was wir gedacht haben. Zur Frage der Altersteilzeit hatten Sie damals aber eine Position, die lautete: Es ist im Prinzip besser, die Jüngeren in die Betriebe zu lassen, als die Alten so lange in den Betrieben zu lassen, bis sie wirklich nicht mehr können.
Das war damals Ihre Position, und die war richtig.
- Nein, sie war richtig. Zu den Grünen komme ich auch noch. Lassen Sie mir nur ein bisschen Zeit, einer nach dem anderen. -
Sie haben damals eine richtige Position vertreten mit dem Ergebnis, dass immer dann, wenn es Beschäftigungsprobleme gab, sodass die Jüngeren nicht in die Betriebe kamen, die Möglichkeit eröffnet wurde, die Auszubildenden trotzdem zu übernehmen und die Älteren - ich sage es einmal so: in Würde -, ohne dass sie vorher arbeitslos wurden, in Rente gehen zu lassen. Das war einmal.
Inzwischen lehnen Sie das vollkommen ab. Sie sagen - das habe ich gerade bei Frau Connemann gehört -, dass Sie Erfahrungswissen länger halten wollen. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zurzeit im Lande passiert. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zum Beispiel in meiner Region geschieht. Dort gibt es vier größere Betriebe in der Größenordnung von 2 000 bis 7 000 Beschäftigten. In einem dieser Betriebe geht es jetzt in der Krise um ein Sparprogramm von 200 Millionen Euro. In einem anderen Betrieb wurde ein Personalabbau um 25 Prozent angekündigt. Im dritten Betrieb sollen Umstrukturierungen stattfinden, damit man sich nach der Krise vernünftig aufstellen kann. All das geht zulasten der Beschäftigung. Mit Ihrer Ablehnung der geförderten Altersteilzeit sagen Sie letztendlich: Die Jungen sollen in die Arbeitslosigkeit gehen, und die Alten sollen arbeiten bis zum Umfallen. - Um es einmal ganz deutlich zu sagen: Wenn Sie die geförderte Altersteilzeit ablehnen, ist das ein Skandal.
Frau Connemann, Sie müssen mir einmal den Beschäftigten zeigen, der ein großes Erfahrungswissen hat, nicht arbeiten will und, obwohl er gebraucht wird, seinen Arbeitsplatz aufgibt. Diesen Beschäftigten gibt es nicht.
Es gibt allerdings Beschäftigte, die ihr Wissen in den Betrieben gerne weiter einsetzen würden,
es aber nicht können, weil in den Betrieben gegenwärtig ein Personalabbau in der Größenordnung von 10 bis 15 Prozent stattfindet.
Im Übrigen trifft das Argument, das Sie vorhin im Hinblick auf eine öffentliche Subventionierung angeführt haben - mit der Folge, dass dann Leute zu Hause bleiben könnten -, auf die Kurzarbeit genauso zu.
Wo ist der Unterschied?
Auch das wird letztendlich von der Bundesagentur finanziert, genauso wie letztendlich auch von der Bundesagentur finanziert wird, dass Menschen rechtzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dies gegeneinander auszuspielen, ist aus meiner Sicht absolut unakzeptabel.
In dieser Frage nehmen Sie die Realität überhaupt nicht zur Kenntnis.
Wie ist die Realität? In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen hatten wir von Mai 2008 bis Mai 2009 eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 16,1 Prozent zu verzeichnen. Ich wiederhole: eine Zunahme um 16,1 Prozent. Bei den Älteren, den über 55-Jährigen, hatten wir im selben Zeitraum eine Zunahme um 17,3 Prozent zu verzeichnen. Das ist die Realität.
Zur Realität gehört auch, dass die Betriebsräte in den Betrieben zurzeit mühsam verhandeln, wie der Personalabbau zu bewerkstelligen ist. Hinzu kommt, dass sich diese Entwicklung in einer Situation, in der die Altersteilzeit dichtgemacht wird, weil die Förderung fehlt, auf andere Beschäftigtengruppen ausweiten wird, zum Beispiel auf die Jungen. Glauben Sie, dass es billiger und für den Staat verträglicher ist, wenn wir die Jungen nicht mehr in die Betriebe lassen? Darauf hätte ich von Ihnen, Frau Sportsfreundin, gerne einmal eine klare Antwort, da Sie sich hier so arrogant hingestellt haben.
Meine Damen und Herren, die Konsequenz Ihrer Ablehnung einer solchen Position ist, dass Sie die Perspektivlosigkeit der Jugend fördern. Es wäre allemal besser, wenn die Jungen beschäftigt würden, als dass die Alten nicht rauskönnen. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei, dass sich ein Teil der Jugend von der Politik und von diesem Staat abwendet. Wenn man der Jugend die Perspektiven verwehrt, muss man sich darüber nicht wundern. Die Wahlbeteiligungen, die wir zurzeit haben, sprechen ihre eigene Sprache. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei, dass die Alten so lange arbeiten müssen und nicht rauskönnen, obwohl in den Betrieben die Arbeit nicht mehr vorhanden ist. Das geht aus meiner Sicht in die vollkommen falsche Richtung.
Eine Bemerkung zu den Grünen: Ich weiß, ihr seid dagegen. Aber wer nicht akzeptiert, dass es für die Älteren würdevoller ist, dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, vernünftig und gesund aus dem Betrieb rauszukommen als vor der Rente in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden - das ist ja die Konsequenz der Zahlen -, braucht mir in diesem Parlament nicht mit Würde zu kommen.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, Sie sagen immer, wir würden die Demografie nicht berücksichtigen. Wir wissen, wie sich die Demografie entwickelt: Bis 2050 haben wir 8 Millionen Einwohner weniger. Wir wissen aber auch, dass sich das Bruttoinlandsprodukt, wenn man eine jährliche Steigerungsrate von 1,5 Prozent unterstellt, im selben Zeitraum verdoppelt. Wir haben also weniger Leute, aber einen doppelt so großen Kuchen; das ist die Demografie. Jetzt frage ich Sie: Sind die einzelnen Kuchenstücke dann kleiner oder größer? Selbstverständlich sind sie größer; das besagt der Dreisatz. Jetzt muss man sich fragen: Warum geht die Rechnung dann nicht auf? Offensichtlich deswegen nicht, weil uns jemand den Kuchen klaut.
Es wäre besser, wenn Sie weniger über die Demografie schwafelten und sich stattdessen um die Kuchendiebe kümmerten. Dann gäbe es auch wieder eine vernünftige Rente.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Vogel das Wort.
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schauen wir uns einmal an, was in dem Gesetzentwurf der SPD steht. Die Analyse in der Begründung ist teilweise korrekt: Wir stehen vor den Herausforderungen des demografischen Wandels, und wir haben einen Fachkräftemangel; deshalb sind Unternehmen und Arbeitsmarkt umso stärker auf das Potenzial der Älteren angewiesen. - Gleichzeitig sagen Sie: Der Arbeitsmarkt war in der Krise bisher relativ robust; aber es bleibt unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass wir Beschäftigung für Ältere und Jüngere schaffen. - So weit, so gut. Aber dann wird es absurd. Denn was ist Ihre Antwort darauf? Die Frühverrentung.
- Nein!
Schauen wir uns einmal an, was Altersteilzeit so, wie Sie sie sich vorstellen, nämlich beitragsfinanziert, heißen würde: Sie wäre nicht nur - darauf hat die Kollegin Connemann hingewiesen - sehr teuer, sondern faktisch ein Anreiz zur Frühverrentung; denn 90 Prozent nutzen die Altersteilzeit in Form des Blockmodells, gehen de facto früher in Rente.
Wenn Sie das auch noch fördern, senden Sie an die Älteren das Signal: Wir wollen euch nicht mehr. - Da liegt der zentrale Widerspruch: Sie führen in Ihrem Gesetzentwurf zwar lang und breit aus, dass die Älteren wichtig seien; Ihre Argumentation läuft aber darauf hinaus, dass die Älteren früher gehen sollten. Das ist absurd, denn dadurch werden die Älteren aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Mit Würde, lieber Herr Ernst, hat das überhaupt nichts zu tun.
Warum ist Altersteilzeit gerade jetzt die falsche Antwort? Wir müssen konstatieren, dass die Trendwende am Arbeitsmarkt endlich geschafft ist. Seit Jahren reden wir - über alle politischen Lager hinweg - davon, dass die Qualität der Arbeit der älteren Menschen in den Unternehmen endlich stärker anerkannt werden müsse und dass, weil das noch nicht der Fall sei, die Chancen Älterer auf dem Arbeitsmarkt heutzutage nicht gut seien. Wenn wir uns jetzt die Zahlen der letzten Jahre anschauen, sehen wir, dass sich bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich ein deutlicher Anstieg feststellen lässt: Der Anteil der 55- bis 59-Jährigen, die sich noch in Beschäftigung befinden, ist in den letzten vier Jahren um mehr als 25 Prozent gestiegen. Bei den 60- bis 65-Jährigen beträgt der Anstieg immerhin noch mehr als 20 Prozent.
- Ja, trotz Altersteilzeit; aber darum geht es jetzt nicht. - An diesen Zahlen zeigt sich, dass der Paradigmenwechsel endlich da ist: Ältere werden von den Unternehmen endlich nachgefragt,
wegen ihres Wissens und wegen ihrer Erfahrung und nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels.
Ausgerechnet jetzt die beitragsfinanzierten Anreize zur Frühverrentung zu verlängern, ist das fatalste Signal, das man geben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
Der zweite Grund, warum das in meinen Augen und in den Augen der FDP die falsche Antwort ist, lautet: weil damit im Grundsatz einfach der Geist von vor 20 Jahren gezeigt wird. Sie sind im Kern noch immer davon überzeugt, dass es nur eine bestimmte Summe an Arbeitsplätzen gibt.
- Doch, doch, doch. - Sie machen sich nur Gedanken darüber, wie man diesen Kuchen, den es gibt, zwischen den verschiedenen Generationen verteilen kann.
- Doch. - Worum wir uns Gedanken machen - das müsste doch die Antwort sein -, ist, wie wir den Kuchen vergrößern können, statt ihn nur anders zu verteilen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
- Ich sage Ihnen, wo unsere Wachstumsstrategie ist.
Was wir machen - damit komme ich genau zum Punkt; das wäre eine wirkliche Antwort für Ältere und Jüngere -, ist, auf Wachstum zu setzen, Herr Heil. Das tun wir
durch eine gute Wirtschaftspolitik, durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
durch bessere Rahmenbedingungen für den Mittelstand
und dadurch, dass wir einen Schwerpunkt auf Bildung legen. Dadurch werden Arbeitsplätze für Junge und für Ältere geschaffen, und das ist die einzig vernünftige Antwort, die man geben kann.
- Ich übernachte relativ selten in Hotels, Herr Heil.
Gehen wir doch einmal weiter und schauen wir uns an, welche Teile der Analyse in Ihrem Antrag durchaus richtig sind. Sie weisen darauf hin: Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie der Renteneinstieg in Deutschland flexibler gestaltet werden kann.
Das ist richtig, natürlich. Die Menschen fangen in einem unterschiedlichen Lebensalter an zu arbeiten. Sie machen unterschiedliche Jobs. Teilweise müssen oder wollen sie zu unterschiedlichen Zeiten in den Ruhestand treten. Das ist richtig. Darüber können wir gerne reden. Das muss aber dann doch mit dem FDP-Modell geregelt werden, nämlich mit korrekten Zu- und Abschlägen, und ohne dass die Älteren künstlich in die Verrentung gedrängt werden, liebe SPD-Kollegen.
Ich halte unter dem Strich fest - ich glaube, zu diesem Schluss muss man bei Ihrem Gesetzentwurf kommen -: Sie loben in Ihrem Gesetzentwurf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihr Erfahrungswissen. Das ist gut. Etwas mehr davon hätte ich mir aber auch bei Ihrem Antrag gewünscht; denn statt einer Umtauschaktion Alt gegen Jung zuzustimmen, wollen wir durch Wirtschaftswachstum dafür sorgen, dass für Ältere und für Jüngere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die einzig vernünftige Antwort.
- Das hat mit Klientelpolitik überhaupt nichts zu tun.
Schauen wir uns aber auch einmal das Verfahren an; denn was Sie da vorschlagen, ist aus meiner Sicht nicht nur inhaltlich ein alter Hut. Warum das der Fall ist, habe ich gerade ja schon ausgeführt. Damit aber nicht genug. Ihr Kollege Scholz, der ehemalige Arbeitsminister, hat im letzten Juli davon gesprochen, er habe einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Altersteilzeit schon fertig in der Schublade; man wolle ihn in der Großen Koalition einbringen. Dazu ist es leider nicht gekommen.
- Das sagt der Herr Scholz. - Genau diesen Gesetzentwurf legen Sie uns jetzt hier vor,
auch wenn Sie, Herr Heil, eben behauptet haben, dass Sie ihn jetzt in kürzester Zeit erarbeitet haben. Das glaubt doch niemand.
Bei allem Verständnis für den Umzugsstress, den Sie im Moment haben - auch ich habe ihn als neugewählter Abgeordneter; es ist nicht so leicht, ein Büro zu finden -:
Bitte entleeren Sie Ihre Aktenordner doch nicht dadurch, dass Sie Ihr Altpapier im Gesetzgebungsverfahren hier ins Plenum kippen. Das hilft niemandem.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geförderte Altersteilzeit ist gescheitert. Sie ist gescheitert als Beschäftigungsbrücke, und sie ist auch gescheitert als Instrument zum Übergang in den Ruhestand.
Die geförderte Altersteilzeit ist ein Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprämie. Das gehört so schnell wie möglich abgeschafft. Es ist richtig, dass sie ausläuft.
Die Altersteilzeit hat uns in den letzten Jahren einen erheblichen Bärendienst erwiesen, weil sie einen Beitrag dazu geleistet hat, dass Deutschland eine ungeheuer negative Kultur der Altersarbeit hat. In fast keinem vergleichbaren europäischen Land ist der Beschäftigungsanteil Älterer so niedrig wie in Deutschland, obwohl sich da langsam etwas ändert. Aber immer noch sind wir da ganz, ganz schlecht.
Ältere werden insbesondere in großen Betrieben - darauf lege ich die Betonung - als defizitäre Wesen betrachtet, die es nicht mehr bringen und die so schnell wie möglich ausgemustert werden müssen. Für dieses Bild ist diese Vorruhestandsregelung in erheblichen Teilen mitverantwortlich. Deswegen gehört sie abgeschafft, weil sie die Älteren mit ihren wertvollen Erfahrungen aus den Betrieben herausdrängt. Sie gehört auch abgeschafft, weil wir wegen der demografischen Entwicklung, die es tatsächlich gibt, Herr Ernst, auf einen gigantischen Fachkräftemangel zulaufen. Das ist sogar bei den Gewerkschaften angekommen. Lesen Sie einmal die neueren Papiere!
Es lohnt sich übrigens, einmal die Frage zu stellen, wer von der geförderten Altersteilzeit profitiert. Es sind die großen Unternehmen, der öffentliche Dienst und die gut verdienenden, hochqualifizierten und überwiegend männlichen Beschäftigten. In 85 Prozent aller Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten gibt es Altersteilzeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich würde gerne erst einmal weiterreden. - In Firmen mit weniger als 50 Beschäftigten sind es nur 4 Prozent.
Herr Ernst, ich frage jetzt Sie: Glauben Sie allen Ernstes, dass in diesen kleineren Betrieben die Belastung für die Beschäftigten weniger groß ist? Glauben Sie, dort gibt es keine Verschleißerscheinungen? Es sind die kleinen und mittleren Betriebe, die nicht davon profitieren. Es sind die Geringqualifizierten und die Geringverdienenden, die nicht davon profitieren. Aber bezahlen sollen sie es.
Das ist Ihre Gerechtigkeitsphilosophie, und das ist die neue Gerechtigkeitsphilosophie der Sozialdemokraten.
Nach den grünen Gerechtigkeitskriterien ist das zutiefst ungerecht. Deswegen lehnen wir das ab.
Jetzt kommen wir zu der Frage, ob dieses Instrument als Kriseninterventionsinstrument geeignet ist, wie Herr Heil es vorgetragen hat.
Anders als die Kurzarbeit reduziert Altersteilzeit das Beschäftigungsvolumen in einem Betrieb nicht, Herr Heil. Darum geht es aber bei großen Auftragseinbrüchen. Dabei geht es darum, das Beschäftigungsvolumen zu reduzieren. Hier werden nur ältere durch jüngere Beschäftigte ersetzt. Der Personalbestand bleibt gleich, er wird nur verjüngt.
Mit anderen Worten: Mit der geförderten Altersteilzeit entledigen sich in erster Linie Großbetriebe ihrer älteren Beschäftigten und formen daraus olympiareife Mannschaften, und das sollen die Kleinbetriebe und die Geringqualifizierten bezahlen. Das machen wir so nicht mit.
Außerdem wirkt dieses Instrument mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Denn das Blockmodell läuft im Regelfall über sechs Jahre. Das heißt, drei Jahre lang bewegt sich in dem Betrieb gar nichts.
So lange gibt es auch keine Mittel der Bundesagentur für Arbeit.
In drei Jahren werden wir hoffentlich die Krise auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen bewältigt haben. Aber dann werden wir auf die nächste Krise zulaufen. Das ist die Krise des Fachkräftemangels.
Ich prognostiziere Ihnen: Der letzte Tag der Krise wird der erste Tag des Fachkräftemangels sein. Deswegen ist es falsch, dass wir die hochqualifizierten älteren Beschäftigten jetzt rauskaufen. Wir werden sie dann dringend brauchen.
Für diese Krisenbewältigung haben wir das Kurzarbeitergeld. Es ist weitaus geeigneter als diese Vorruhestandsregelung.
Herr Heil, noch eine andere Sache: Wirklich skandalös finde ich an Ihrem Gesetzentwurf, dass zukünftig nur die jungen Beschäftigten von Ihrem Vorschlag profitieren können, die schon einen Fuß im Betrieb haben, also entweder diejenigen, die schon eine Ausbildung hinter sich haben, oder diejenigen, die in einer Ausbildung sind. Die 340 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren haben nach Ihrer Auffassung offensichtlich keine Chance verdient. Das ist eine signifikante Verschlechterung des Status quo. Diese Arbeitslosen jedenfalls haben Sie offensichtlich nicht mehr im Blick.
Bei der Neuaufstellung der SPD wollen Sie sich offensichtlich als Partei der Arbeitsplatzbesitzer profilieren.
- Doch. Ganz offensichtlich haben die Arbeitslosen Sie bei der letzten Wahl nicht in hinreichender Zahl gewählt.
Deswegen haben Sie Ihr Recht verwirkt, sie weiter zu vertreten.
Herr Heil, auf ihrem Parteitag hat die SPD gesagt: ?Klarer Blick im Aufbruch?. Das war die Botschaft, mit der Sie aus Dresden zurückgekommen sind. Ich kann nur feststellen: In der Arbeitsmarktpolitik ist Ihr Blick trübe. Ich diagnostiziere bei Ihnen eine fortgeschrittene Alterssichtigkeit, die Ihren Blick sehr trübt.
Mit Aufbruch jedenfalls hat der vorgelegte Gesetzentwurf nichts zu tun. Das sind die Rezepte der 80er-Jahre, die schon damals mehr geschadet als genutzt haben. Aber in den 80er-Jahren hatten Sie, Herr Heil, noch gute Wahlergebnisse. Das ist offensichtlich der Magnet, der Sie zurückzieht. Aber das gehört der Vergangenheit an.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Klaus Ernst.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Pothmer, einige Aussagen möchte ich infrage stellen. Sie sagen, der Personalbestand bleibe gleich. Wie kommen Sie denn darauf? Ist Ihnen entgangen, dass es zurzeit einen massiven Personalabbau in den Betrieben gibt? Ist Ihnen entgangen, dass diejenigen, die die derzeitige Regelung zur Kurzarbeit in Anspruch nehmen, in ein, zwei Jahren entlassen werden? Ist Ihnen entgangen
- Herr Weiß, wenn Sie dran sind, dürfen Sie wieder -, dass es wahrscheinlich vier, fünf Jahre dauern wird, bis wir das frühere Beschäftigungsniveau wieder erreichen werden, weil die Krise sehr lang anhaltend ist und die momentanen Wachstumsraten nicht die durch den Einbruch verursachten Verluste ausgleichen? Wenn das alles so ist, dann geht es nicht um die Frage, ob der Personalbestand gleich bleibt. Entscheidend wird vielmehr die Frage sein, wie viele Menschen auf Dauer nicht von den Betrieben eingestellt werden, eben so lange nicht, bis ein entsprechender Aufschwung einsetzt.
Sie haben den Fachkräftemangel angesprochen. Hier geht es doch um junge Menschen. Man muss ihnen in einer Situation, in der die Beschäftigung insgesamt abnimmt, die Chance geben, nicht nur vernünftig ausgebildet zu werden, sondern nach der Ausbildung auch übernommen zu werden. In allen Betrieben in meiner Region, über die ich einen Überblick habe, kämpfen die Betriebsräte darum, dass die Auszubildenden unbefristet übernommen werden, wobei aber die Betriebe größte Schwierigkeiten machen.
Frau Pothmer, Sie nehmen die Realität nicht zur Kenntnis. Sie halten nur schöne, lustige Reden. Das wollte ich Ihnen sagen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin Pothmer, bitte.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Ernst, das Drama meines Lebens ist, dass Sie mir nicht zuhören.
Ich habe Ihnen - im Prinzip zum Mitschreiben - erklärt, dass das Modell der Altersteilzeit nicht dazu führt, dass das Beschäftigungsvolumen in den Betrieben abnimmt - anders als bei der Kurzarbeit -, sondern dazu, dass ältere lediglich durch jüngere Beschäftigte ersetzt werden.
- Richtig, wenn überhaupt. - Nun komme ich auf die Frage zu sprechen, ob sich die Chancen der Auszubildenden oder derjenigen, die eine Ausbildung beendet haben, dadurch tatsächlich erhöhen. Nicht nur das IAB, sondern alle Forschungsinstitute sagen: Die Mitnahmeeffekte sind unglaublich hoch. Nicht nur die Arbeitgeberverbände, das IAB und die BA, sondern langsam auch die Gewerkschaften stellen die Zukunftsfähigkeit dieses Modells infrage. Lesen Sie das neue Papier der IG Metall zu dieser Frage!
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der Linken, hat es in den 80er-Jahren noch nicht gegeben. Aber Sie wären da gut aufgehoben gewesen.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor in dieser Debatte mit vielen Wortwechseln die Dinge verunklart werden, will ich eines feststellen: Die Inanspruchnahme von Altersteilzeitregelungen ist auch in Zukunft in Deutschland möglich. Daran ändern wir gar nichts. Betriebe können auch in Zukunft Altersteilzeitregelungen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vereinbaren. - Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Die Altersteilzeit wird auch in Zukunft durch den Staat und die Sozialversicherungen gefördert, indem auf die Aufstockungsbeiträge keine Steuern und keine Sozialversicherungsabgaben gezahlt werden müssen. Das ist eine massive Subventionierung der Altersteilzeit durch den Steuerzahler und durch die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in den deutschen Sozialversicherungen. Auch daran ändern wir nichts.
Über was diskutieren wir eigentlich? Wir, die Sozialdemokraten und die CDU/CSU in der Großen Koalition, haben beschlossen, dass eine Regelung im Altersteilzeitgesetz zum Ende dieses Jahres ausläuft: die Regelung, dass dann, wenn ein Betrieb anstelle eines Mitarbeiters, der in Altersteilzeit gegangen ist, einen neuen Mitarbeiter einstellt, Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler von der Bundesagentur für Arbeit zusätzlich zur Verfügung gestellt wird. Die Bilanz bis heute ist, dass in 80 Prozent der Fälle, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebes Altersteilzeit beantragt haben, anschließend überhaupt niemand neu eingestellt worden ist.
Sprich: Trotz der Aussicht auf zusätzliches Geld von der Bundesagentur für Arbeit ist niemand neu eingestellt worden. In der Regel war das ein Arbeitsplatzabbau, kein Arbeitsplatzaufbau.
Verehrte, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten -
- die Große Koalition ist noch nicht lange zu Ende, deswegen darf ich das noch sagen -,
ich bitte Sie, sich wirklich zu überlegen, ob es eine kluge Strategie ist, jetzt, da die Große Koalition beendet ist und Sie sich in der Opposition befinden, nicht nur in der Frage der Altersteilzeit,
sondern auch in immer mehr anderen Politikbereichen das eigene Handeln infrage zu stellen.
Ich behaupte: Die SPD gewinnt dadurch, dass sie sich plötzlich von ihrer eigenen Politik verabschiedet, nicht an Glaubwürdigkeit, sondern verliert an Glaubwürdigkeit.
Wer diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit bei Neueinstellung eines Mitarbeiters weiterführen will, der muss dafür die entsprechenden Finanzmittel aufbringen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Schaaf, bitte.
Anton Schaaf (SPD):
Geschätzter Kollege Weiß, würden Sie mir recht geben und zugestehen, dass der ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz, SPD, schon im letzten Sommer zur Frage der Verlängerung der gesetzlich geförderten Altersteilzeit initiativ geworden ist und es die Union war, die abgelehnt hat, darüber überhaupt zu diskutieren?
Ich möchte noch eines anfügen, was mir sehr wichtig ist, weil wir beide sehr lange in verschiedenen Fragen zusammengearbeitet haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich zumindest die Sozialpolitiker in der Union ganz schnell nach dem sozialdemokratischen Partner sehnen werden, nach dem, was aufseiten des neuen Partners an Marktradikalität da ist.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Erster Punkt. Verehrter Herr Kollege Schaaf, ich nehme an, dass Sie die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP mit hohem Interesse gelesen haben.
Ich kann zum Ergebnis unserer gemeinsamen Koalitionsverhandlungen und zu dem, was als Koalitionsvertrag vorliegt und was die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung hier vorgetragen hat, nur sagen: Ich glaube, dass in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch die neue Koalition einen Weg der Vernunft und des Maßes beschreitet.
Vor allen Dingen setzt sie darauf, dass Deutschland möglichst schnell aus dieser Krise herauskommt und vielen Menschen in Deutschland neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden.
Zweiter Punkt. Sie haben in Ihrer Frage eingangs zu Recht angemerkt, dass es vonseiten des damaligen sozialdemokratischen Bundesarbeitsministers Initiativen gab, ob wir diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch einmal verlängern sollten. Ich will Ihnen aber auch sagen - darauf werde ich in meiner Rede zurückkommen, um nicht meine ganze Rede in der Antwort unterzubringen, was man auch machen kann, um die Redezeit zu verlängern -: Wir haben uns auf eine Reihe weiterer Maßnahmen verständigt, um gerade jungen Menschen zusätzlich zu helfen, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlangen. Ich glaube, die Bilanz der Großen Koalition ist, wenn wir auch den einen Wunsch der Sozialdemokraten abgelehnt haben, dass wir insgesamt ein Instrumentarium gerade der Förderung der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Leute geschaffen haben, das sich sehen lassen kann.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Gut.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Kollege Weiß, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie sich große Sorgen um die Zukunft Ihres ehemaligen Koalitionspartners machen.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ich finde, menschliche Anteilnahme ist auch für einen Abgeordneten der Regierungsfraktionen durchaus etwas, was man zeigen kann.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Möglicherweise. Ihr Wahlergebnis war auch nicht so besonders.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Ich weiß nicht, was an meinem Wahlergebnis nicht so besonders war.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Lassen Sie mich meine Frage stellen. - Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner vielleicht ganz besonders helfen würden, wenn Sie ihn darauf hinweisen würden, dass die Rentenpolitik, die dieser Koalitionspartner mit vertreten hat, nämlich die Rente mit 67, abgelehnt werden muss angesichts der Tatsache, dass, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 22. November 2009 zu lesen war, insgesamt 75 Prozent der Bevölkerung diese Rentenpolitik ablehnen? Im Übrigen sind es 70 Prozent der CDU/CSU-Wähler - also auch Sie könnten davon profitieren -, immerhin 74 Prozent der SPD-Wähler und 75 Prozent selbst der FDP-Wähler, die sich eine andere Rentenpolitik wünschen. Könnte es also sein, dass Sie, wenn Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner einen wirklich guten Tipp geben wollten, ihm eher raten müssten, er solle doch bitte schön die Position der Rente mit 67 grundsätzlich überdenken?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Ernst, ich denke, dass ich mit der Vermutung nicht falsch liege, dass vor allen Dingen Sie und Ihre Fraktion in den nächsten vier Jahren noch für viele Rentendebatten in diesem Hause sorgen werden, bei denen wir dieses Thema noch einmal ausführlich besprechen können.
Ich glaube, der Punkt ist folgender: Erstens. Es ist nicht Aufgabe eines frei gewählten Abgeordneten, Politik danach zu machen, welche Stimmung gerade herrscht. Wir haben zuallererst Politik danach zu machen, was für die Zukunft unseres Volkes und vor allem für die Zukunft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland notwendig ist.
Das Zweite ist: Wenn Umfragen gemacht werden, antworten Menschen verständlicherweise aus ihrer Betroffenheit jetzt und heute heraus. Ich will Sie darauf aufmerksam machen, dass wir in der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD beschlossen haben, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben. Das ist das Jahr, in dem der Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in das Rentenalter seinen Höhepunkt erleben wird.
Danach wird Jahr für Jahr ein Drittel weniger junge Leute in Beschäftigung gehen können, als Ältere in Rente gehen. Deswegen ist das Projekt der Rente mit 67 ein Zukunftsprojekt, Herr Ernst.
- Die Kollegen von der Linksfraktion setzen sich deshalb immer vorzeitig hin, weil sie gar keine Antwort auf eine Frage erwarten.
Wer die zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch einmal verlängern will, muss auch über Geld sprechen. Nun ist es so, dass mit Unterstützung der beiden damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD der damalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung für dieses Jahr und für das kommende Jahr 2010 auf 2,8 Prozent festgesetzt hat, eine richtige Festsetzung, weil wir gerade in der Krisensituation Beitragszahlerinnen und Beitragszahler nicht zusätzlich belasten wollen.
Ich hoffe, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht noch einen Antrag stellen, dass wir die Festsetzung auf 2,8 Prozent rückgängig machen.
Wie Sie wissen, kommt auf die Bundesagentur für Arbeit ab dem kommenden Jahr ein massives Finanzierungsdefizit zu. Voraussichtlich müssen wir 16 Milliarden Euro an Bundesmitteln - wir haben sie nicht; wir müssen sie also durch zusätzliche Schuldenaufnahme finanzieren -
an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg überweisen,
und wir wollen das auch tun.
In einer solchen Finanzsituation muss man die Frage stellen: Was sind die wirklich effektiven Arbeitsmarktinstrumente, um Beschäftigung in Deutschland zu sichern?
Das wichtigste Instrument, zu dessen Anwendung wir uns in der Großen Koalition gemeinsam entschieden haben, war und ist die Möglichkeit, den Bezug des Kurzarbeitergeldes zu verlängern. Das ist das wichtigste Instrument in der Krise. Wir wenden erhebliches Geld auf, um Beschäftigung in Deutschland zu sichern.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich dafür bedanken, dass die Bundesregierung gestern auf Initiative des neuen Bundesarbeitsministers Dr. Jung
beschlossen hat,
dass Kurzarbeitergeld auch im nächsten Jahr nicht 6 Monate, wie ursprünglich gesetzlich geregelt, sondern 18 Monate lang bezogen werden kann.
Diese Entscheidung von gestern ist das wichtigste Signal für das nächste Jahr: Wir sichern Beschäftigung in Deutschland durch eine längere Bezugszeit von Kurzarbeitergeld.
Hinzu kommt - auch das haben wir gemeinsam politisch beschlossen; so steht es im Gesetz -, dass die Bundesagentur für Arbeit auch während des gesamten Jahres 2010 die Sozialversicherungsbeiträge ab dem siebten Monat des Bezuges von Kurzarbeitergeld zu 100 Prozent erstattet. Das ist ein wichtiger, für viele Betriebe vielleicht sogar der ausschlaggebende Grund, Kurzarbeiterregelungen zu wählen und keine Entlassungen vorzunehmen.
In dieser finanziellen Situation sollten wir uns tatsächlich darauf konzentrieren, die Mittel aus der Bundeskasse für die Bundesagentur für Arbeit - sie sind ohnehin nicht ausreichend vorhanden, sondern wir müssen sie zusätzlich beschaffen -
für das effektivste arbeitsmarktpolitische Instrument einzusetzen und nicht für Instrumente, bei denen sich schon in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie gar nicht zur Beschäftigungssicherung taugen.
Zu Recht ist auf die Situation der jungen Menschen in der Krise hingewiesen worden. Da der Kollege Schaaf vorhin danach gefragt hat, will ich noch einmal ausdrücklich erwähnen: Die Große Koalition hat zum Ende der letzten Legislaturperiode mit dem Ausbildungsbonus ein wichtiges Instrument geschaffen, um vor allen Dingen jungen Menschen, die einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, eine zusätzliche Hilfe zu geben. Der Ausbildungsbonus ist ein wichtiges neues arbeitsmarktpolitisches Instrument, um jungen Menschen eine Brücke in Arbeit zu ermöglichen.
Kurzarbeitergeld ist nicht nur eine Hilfe, dass Menschen, die schon in Beschäftigung sind, insbesondere ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz nicht verlieren; Kurzarbeitergeld ist darüber hinaus auch eine Hilfe, Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen zu schaffen. Die von der SPD in ihrem Antrag angesprochenen Auszubildenden, die zum Abschluss ihrer Ausbildung darauf hoffen, übernommen zu werden, können dank Kurzarbeitergeld übernommen werden. Ein Betrieb kann einen jungen, fertig ausgebildeten Menschen einstellen und ab dem ersten Tag der Anstellung Kurzarbeitergeld Null beantragen.
Angesichts dessen ist unsere Kurzarbeitergeldregelung auch eine Perspektive für junge Menschen. Betriebe können sagen: Jawohl diesen jungen Mann, diese junge Frau brauchen und wollen wir; unser Betrieb hat zurzeit zwar nicht genügend Arbeit; wir hoffen aber, dass es in den nächsten Monaten wieder aufwärtsgeht; wir stellen ihn oder sie ein. Machen wir erst einmal Kurzarbeitergeld Null und hoffen, dass wir für die Betreffenden dann bald auch ausreichend Arbeit haben, um sie richtig beschäftigen zu können.
Deswegen eröffnet die von uns vorgenommene Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung auch eine Beschäftigungsperspektive für die jungen Leute in unserem Land. Diese Möglichkeit sollte man bitte beachten und auch nutzen.
Ich fasse zusammen: Die Herausforderungen der Zukunft, vor denen wir insbesondere im Hinblick auf die Bewältigung der Krise stehen, meistern wir nicht, indem wir zu alten Rezepten der Arbeitsmarktpolitik, die vielleicht früher einmal gestimmt haben, zurückkehren. Wenn die Mittel knapp sind, dann gilt erst recht: Konzentration auf die Instrumente, die am effektivsten Beschäftigung sichern.
Das ist jetzt in der Krise die Kurzarbeitergeldregelung. In diesem Sinne hat die neue Koalition bereits gehandelt. Wir setzen auf Zukunft und nicht auf Vergangenheit.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD das Wort.
Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Sie haben sich gerade netterweise daran erinnert, dass Herr Scholz doch für die Altersteilzeit gekämpft hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie 2005 bei den Koalitionsverhandlungen dabei waren. Wenn Sie dabei gewesen wären, würden Sie sich - da bin ich mir ganz sicher - auch erinnern, dass sich Herr Müntefering damals schon für eine Verlängerung der Altersteilzeitregelungen eingesetzt hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, an sich könnten wir Party feiern.
Die Altersteilzeit ist ein langjährig erprobtes Arbeitsmarktinstrumentarium, das sich bewährt hat. Ich befürchte aber, die Feier wird ausfallen, wenn Schwarz-Gelb keine Vernunft annimmt.
Sie, liebe Frau Connemann, haben erwähnt, dass 2008 die Altersteilzeit 1,8 Milliarden Euro gekostet hat. Das ist richtig. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass die zukünftigen Kosten niedriger eingeschätzt werden. Wir haben nämlich Modifikationen am Altersteilzeitgesetz vorgenommen. Ich gebe zu: Damit einher geht eine Menge an finanziellen Belastungen, zugegebenermaßen keine Kleinigkeit. Aber, Frau Connemann, Sie werden mir auch zugestehen, dass das im Vergleich zu den Steuerentlastungen, die Sie für Ihre Klientel vornehmen - für Erben, für Unternehmer, für Hotelketten -, eine unbeachtliche Größenordnung ist. Es ist blanker Zynismus, wenn eine Regierung, die Geschenke an ihre Klientel verteilt und das Ganze ?Wachstumsbeschleunigungsgesetz? nennt, eine sinnvolle Verlängerung der Altersteilzeitregelungen ablehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die Arbeitsmarktpolitik von Schwarz-Gelb anschaut, dann stellt man eines fest: Sie ist nicht nur ideenlos, sie ist nicht existent. Sie haben sich zwar gestern zur Kurzarbeit geäußert. Das ist richtig. Ich frage mich, ob Sie mit Ihren neuen Regelungen tatsächlich etwas bewirken werden. Es trifft zu: Kurzarbeit war für das Jahr 2009 ein großartiges Instrument, von Olaf Scholz damals an die Bedürfnisse angepasst. Ich bin mir sicher, dieses Instrument wird auch in 2010 noch beachtliche Wirkungen entfalten. Wir müssen aber auch eines sehen: Es wird immer mehr Firmen geben, die sich Kurzarbeit nicht leisten können,
vor allen Dingen zu den neuen Bedingungen. Es wird auch immer mehr Firmen geben, die Kurzarbeit nicht mehr länger betreiben wollen, weil sie die zukünftigen Probleme sehen. Deshalb wäre es an sich erforderlich, dass Sie eine Fortschreibung arbeitsmarktpolitischer Instrumente in der Krise vornehmen.
Ich sehe aber nicht, dass Sie sich zum Beispiel mit dem Instrumentarium der Transfergesellschaft beschäftigen, das sicherlich viel effizienter gestaltet werden könnte. Und bezüglich des Umganges, den Sie mit der Altersteilzeit pflegen, kann man nur sagen: Das ist ein rein ideologischer Umgang mit einem vernünftigen Instrumentarium.
Altersteilzeit steht schon lange nicht mehr für Frühverrentungspolitik.
Altersteilzeit ist mittlerweile zu einem Instrumentarium geworden, das dazu dient, Arbeitnehmer an die Regelaltersgrenze heranzuführen.
Altersteilzeit verhindert Existenzabstürze. Ich sage: Altersteilzeit ist wesentlich besser als Arbeitslosigkeit und der Bezug von Arbeitslosengeld. Es ist ein vernünftiger Übergang in die Rente. Wir verhindern Altersarmut, wenn über einige Jahre höhere Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt werden, und zwar fast in der Höhe von Vollzeitarbeit.
Das Durchschnittsalter bei der Altersteilzeit ist in den letzten zehn Jahren von 57,7 auf 59,1 Jahre gestiegen. Immer mehr Altersteilzeitbeschäftigte gehen erst mit 63 Jahren oder noch später in Rente. Altersteilzeit ist vor allem eines: Fairness. Es ist Fairness gegenüber denjenigen, denen ansonsten gekündigt würde, Fairness gegenüber denjenigen, die nicht mehr können und trotzdem nicht die Erwerbsminderungsrente bewilligt bekommen. Das betrifft beispielsweise den Pflege- und Sozialbereich. Gerade dort sind besonders viele Altersteilzeitfälle zu beobachten. Es ist Fairness auch gegenüber denjenigen, die unendlich lange gearbeitet haben, die mit 14 oder 15 Jahren in den Beruf eingestiegen sind und die deshalb auch einfach nicht mehr wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krise wird sich auf dem Arbeitsmarkt noch jahrelang auswirken. Die Umsätze in den Firmen sind zwar teilweise angestiegen, aber sie sind von denen des Jahres 2008 noch weit entfernt. Altersteilzeit nutzt somit auch den Jungen. Es ist auch Fairness gegenüber den Jungen. Der DGB hat im letzten Sommer festgestellt, dass die Jugendarbeitslosigkeit dreimal stärker angestiegen ist als die Arbeitslosigkeit im Bereich der anderen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Gerade die Schwelle zum Berufseinstieg ist seit Jahren eine große Hürde, die es zu überwinden gilt.
Außerdem haben wir auf dem Arbeitsmarkt noch unendlich viele Altbewerber, die versorgt werden müssen. Mit der Altersteilzeit erhöhen wir die Chancen. Sie ist ein ganz beachtlicher Arbeitsmarktfaktor. Immerhin gibt es 500 000 Altersteilzeitfälle gleichzeitig. Das betrifft 20 Prozent aller Beschäftigten. Die geförderte Altersteilzeit nimmt - das ist richtig - davon nur einen Anteil von 100 000 ein.
Aber wir müssen eines sehen: Die geförderte Altersteilzeit ist das Zugpferd für die gesamte Altersteilzeit. Unendlich viele Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge knüpfen an die geförderte Altersteilzeit an, und viele dieser Regelungen laufen aus.
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie machen vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen vieles kaputt, wenn Sie dem Altersteilzeitantrag nicht zustimmen.
Sie sollten deshalb noch einmal nachdenken. Sie wissen vielleicht: Hochmut kommt vor dem Fall.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Debatte in ihrem bisherigen Verlauf einmal zusammenfassend vor Augen führt, kann man sagen: Herr Heil, Frau Kramme, das wird nichts! Eine breite Mehrheit in diesem Hause, die über die ohnehin breite Mehrheit der Koalition noch hinausgeht, lehnt Ihr Vorhaben ab, und das ist auch gut so. Ihr Vorschlag ist ein Modell von gestern. Ich freue mich, dass es jetzt im Koalitionsvertrag gelungen ist, das Auslaufen der beitragsgeförderten Altersteilzeit zu vereinbaren. Ich bin lange genug dabei, um sagen zu können, dass die FDP die erste Fraktion in diesem Hause war, die Abstand von diesem beitragsfinanzierten Altersteilzeitmodell genommen hat und schon seit Jahren darauf hinweist, dass es Zeit ist, dieses Modell zu beenden. Ihr Motto, Herr Heil, Frau Kramme, ist: Vorwärts, Leute, es geht zurück! Ich sage Ihnen: Wir, eine Mehrheit in diesem Hause, gehen diesen Weg nicht mit.
Dafür gibt es gute Gründe, Frau Kramme und auch Anton Schaaf. Der wichtigste aus meiner Sicht ist: Die Beschäftigungsbrücke trägt nicht. Es ist über lange Jahre eine Lebenslüge der deutschen Sozialpolitik gewesen, dass man für jeden Älteren, den man in den Ruhestand schickt, einen Jüngeren einstellt. Das hat insgesamt nie funktioniert. Im Gegenteil: Die Wiederbesetzungsquote ist seit der Verabschiedung des Altersteilzeitgesetzes von 43 auf heute nur noch 34 Prozent gesunken. Das heißt, zwei von drei Arbeitsplätzen bleiben unbesetzt. Man kann daher nicht sagen, dass dieses Modell erfolgreich gewesen wäre.
Zweiter Punkt. In der Regel wird das Blockmodell gewählt. Neun von zehn Altersteilzeitlern wählen dieses Modell. Das führt im Ergebnis dazu - da stimme ich mit Brigitte Pothmer vollkommen überein -, dass wir die Menschen früher in den Ruhestand schicken. Das halten wir für falsch. Es wird immer gesagt, die jüngeren Facharbeiter müssten eine Chance haben. Aber auch die älteren Menschen sind Facharbeiter; sie sind sogar mehr als das: Sie sind Erfahrungsträger und Träger sozialer Kompetenz, die in den Betrieben eine wichtige Rolle spielen.
Es ist daher wichtig, dass man eine ausgewogene Mischung von Jüngeren und Älteren in den Betrieben erreicht. Diese Balance geht aber verloren, wenn die Älteren per Altersteilzeit aus den Betrieben herausgedrängt werden.
Der dritte Punkt müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, weil Sie doch immer Kämpfer für die Schwachen und Entrechteten sein wollen: Es sind eben nicht die Angehörigen der körperlich belastenden Berufe, die mehrheitlich von der Altersteilzeit Gebrauch machen. Es sind vielmehr - hören Sie genau hin! - die Bankkaufleute und die Versicherungskaufleute - sie gehören nicht unbedingt zur Klientel der SPD -, die die Altersteilzeit regelmäßig wählen. Auf den nächsten Plätzen in der Statistik folgen bei den Frauen die Lehrerinnen und bei den Männern die Chemiearbeiter.
Man kann doch nicht sagen, dass diese Menschen nicht so lange arbeiten können. Offensichtlich spielen da ganz andere Überlegungen eine Rolle.
Vierter Punkt. Es gehen auch Arbeitnehmer mit höheren Einkommen in Altersteilzeit, während Arbeitnehmer in einfachen Arbeitsverhältnissen vielfach gerade nicht von dieser Regelung profitieren.
Fünfter Punkt. Für mich ist auch die überproportionale Nutzung der Altersteilzeit durch Großunternehmen interessant. In den Betrieben mit mehr als 1 000 Beschäftigten arbeiten 14 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 55 und 64 Jahren. Aber fast 30 Prozent der Altersteilzeitler kommen aus diesen Unternehmen. Das heißt, die Großen profitieren und die Kleinen zahlen. Wir sind nicht bereit, das länger mitzumachen. Deswegen sind wir froh, dass die beitragsfinanzierte Altersteilzeit jetzt ausläuft.
Die großen Unternehmen - das hat Peter Weiß zu Recht gesagt - können so weitermachen, wenn sie das wollen - aber dann bitte auf eigene Kosten. Natürlich bleibt die Steuervergünstigung in der Regel erhalten. Aber es kann nicht mehr auf Kosten der Beitragszahler gehandelt werden.
Sechster Punkt. Sagen Sie bitte nicht, das Ganze kostet doch am Ende gar nicht so viel. Es sind brutto 1,4 Milliarden Euro und netto 1 Milliarde Euro. Das ist aus unserer Sicht schon eine relevante Größenordnung. Das Entscheidende ist: Es kostet zu viel und bringt zu wenig. Auch das ist ein wichtiges Argument, die Altersteilzeit zu beenden.
Es gibt zu diesem Thema einiges an Literatur. Ich finde es interessant, dass auch aus den Bundesländern Initiativen kommen. Die Länder Rheinland-Pfalz und Bremen haben einen Antrag eingebracht, der eine bemerkenswerte Analyse enthält. Leider kommt er am Schluss zu dem falschen Ergebnis, man müsse die Altersteilzeit verlängern. Ich will Ihnen die Analyse, die ich durchaus teile, aus der Bundesratsdrucksache 842/09 einmal vortragen:
Notwendig ist daher die Weiterentwicklung von Instrumenten, die einen flexiblen Übergang aus dem Erwerbsleben in die Ruhestandsphase, die einerseits individuelle Entscheidungsmöglichkeiten verbessern bzw. neu eröffnen, und andererseits einer nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates entsprechen.
Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich Ihr Augenmerk lenken: individuelle Entscheidungsmöglichkeiten, Verbesserung der Nachhaltigkeit unseres Sozialstaates.
Dann sind wir sehr schnell bei den Überlegungen, die die FDP als Partei und die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag schon bisher vorgetragen haben und die ich Ihrer eingehenden Lektüre empfehle.
Ich habe den Eindruck, dass sich diejenigen, die sich mit dem FDP-Modell für einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand auf der Basis einer eigenen, freien Entscheidung bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen beschäftigt haben,
dies bisher nur sehr oberflächlich getan haben. Sie werden feststellen: Mit unserem Modell kann die Lücke gefüllt werden. Ich bin in einem Punkt durchaus bei Ihnen: Wenn man die Altersteilzeit abschafft und die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren belässt, dann sollte es ein entsprechendes Angebot geben. Denn ansonsten nimmt der Druck in Richtung Erwerbsminderungsrente deutlich zu. Ein solches geeignetes Instrument sehe ich eher in unserem Vorschlag.
Lassen Sie jetzt einmal die Vollrente weg, Frau Ferner. Wir sehen in unserem Modell Möglichkeiten für eine Teilrente vor.
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das IAB, das nicht unbedingt ein Sprachrohr des Thomas-Dehler-Hauses ist, schlägt vor, dass man die Möglichkeiten, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen, verbessert.
Wir sollten die Menschen entscheiden lassen, Frau Ferner. Welchen Grund gibt es - ich frage Sie sehr direkt -, einem Rentner, der nach einer Altersteilzeit in Form eines Blockmodells in den Ruhestand geht, anschließend vorzuschreiben, dass er nur noch 400 Euro verdienen darf? Es gibt keinen Grund, wenn seine Rente über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Da beschneiden Sie die Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen. Wir wollen ändern, dass jemand, der raus aus dem System ist, nicht mehr zurückkommt.
Deswegen sagen wir: Die Menschen entscheiden selbst, ob und in welchem Umfang sie in den Ruhestand gehen wollen, gerne auch in Form eines Teilrentenbezuges als Alternative zur Altersteilzeit. Die Menschen sollen selber entscheiden, was sie hinzuverdienen wollen. Es gibt keinen Grund, sie zu bevormunden. Das ist ein liberaler Ansatz.
Wenn die heutige Debatte - wie gesagt, der Gesetzentwurf, Frau Kramme, wird wahrscheinlich abgelehnt werden; das deutet sich an - trotzdem einen Sinn gehabt hat, dann ist es der, dass ich Ihnen das noch einmal vortragen
und darum werben durfte, sich mit unserem Modell objektiver als bisher zu befassen. Ich bin sicher: Nichts ist stärker als eine gute Idee, deren Zeit gekommen ist. In den kommenden vier Jahren werden wir uns sicherlich mit diesem Vorschlag noch öfter beschäftigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen sind entschieden dafür, Teilzeitarbeit im Alter zu fördern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten und einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Insofern klingt ?geförderte Altersteilzeit? erst einmal ganz gut. Aber vielleicht nehmen Sie einmal zur Kenntnis - ich wiederhole mich zum x-ten Mal -, dass das, was als ?geförderte Altersteilzeit? bezeichnet wird, ein Etikettenschwindel ist; denn 90 Prozent der Betroffenen - diese Zahl ist schon des Öfteren genannt worden - arbeiten nicht in Teilzeit, sondern in Blockteilzeit, die zunächst eine Vollzeitarbeit ist und dann zu einem früheren Ausstieg führt. Dies ist gar keine Teilzeit,
sondern ein früherer vollständiger Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
Auf die fehlenden Arbeitsmarkteffekte ist meine Kollegin Brigitte Pothmer schon überzeugend eingegangen. Vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken. Von einem gleitenden Übergang ins Alter - Herr Kolb hat es eben schon angesprochen - ist da keine Spur. Insofern gehen der vorliegende Gesetzentwurf der SPD und der Antrag der Linken völlig an den Problemen vorbei und bieten keine Lösungen, sondern schreiben eine schlechte und teure Lösung fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Linken, Sie behaupten immer, dass Sie die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten. Was Sie hier vorlegen, liegt allerdings überhaupt nicht im Interesse der Erwerbstätigen.
Es ist ja richtig: Vielen ist nicht zuzumuten, dass sie bis 65 oder demnächst bis 67 arbeiten; denn sie können einfach nicht mehr. Aber die meisten Menschen wollen nicht von heute auf morgen komplett aufhören, sondern wünschen sich einen gleitenden Übergang in den Ruhestand. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis! Wenn Sie mit den Erwerbstätigen reden, bekommen Sie das mit.
- Ich rede sehr oft mit Erwerbstätigen und komme selber aus einer Arbeiterfamilie.
Ich habe sehr viele Erfahrungen aus dem engeren persönlichen Umfeld. Daher brauchen Sie nicht die ganze Zeit dazwischenzurufen.
Wir brauchen flexiblere Möglichkeiten, sowohl später als auch früher in Rente zu gehen, und mehr Möglichkeiten, Erwerbstätigkeit und Rentenbezug miteinander zu verbinden. Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir bis zu einem bestimmten Alter in Vollzeit arbeiten und dann Knall auf Fall nichts mehr tun. Das schadet vielen Erwerbstätigen. Ich selber habe das in meinem persönlichen Umfeld erfahren. Es ist für viele Menschen ein Problem, wenn sie ihren Arbeitsplatz von heute auf morgen komplett verlassen müssen. Insofern vertreten Sie nicht die Interessen der Erwerbstätigen in diesem Land.
Andere Länder sind schon wesentlich weiter, vor allen Dingen die Länder in Skandinavien. Dort gibt es wesentlich flexiblere Möglichkeiten, den Rentenbezug teilweise vorzuziehen und dies mit einer reduzierten Erwerbstätigkeit zu verbinden. Die Länder in Skandinavien sind ja eher sozialdemokratisch und weniger neoliberal ausgerichtet. Das wird den Lebensbedingungen der Einzelnen wesentlich besser gerecht, als dies bei uns der Fall ist. Das Ergebnis dort ist, dass im Durchschnitt die Erwerbsbeteiligung im Alter gestiegen ist und deutlich höher liegt als bei uns. Das ist ein großer Erfolg dieser Regelung. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, tatsächlich früher in den Ruhestand zu gehen. Auch das ist sehr sinnvoll. Insgesamt betrachtet muss man darauf achten, dass es möglich sein muss, einfacher, unbürokratischer und sozial abgesichert in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Das ist die Richtung, in die wir auch gehen sollten.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir es den Menschen schuldig sind, gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und längerer Lebenserwartungen, mehr Möglichkeiten zu schaffen, wie sie den Übergang in den Ruhestand selbst gestalten können. Eine Verlängerung der geförderten Altersteilzeit, wie Sie das vorschlagen, trägt dazu überhaupt nicht bei.
Wir Grüne setzen nach skandinavischem Vorbild auf eine Stärkung des Konzepts der Teilrente, -
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- wobei auch bei frühzeitigem Ausstieg aus dem Erwerbsleben eine existenzsichernde Rente gewährleistet sein muss.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin gespannt auf die Vorschläge von allen Seiten und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit in den nächsten vier Jahren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Man merkt es: Der Wettbewerb zwischen SED/Linkspartei und SPD ist in diesem Haus angekommen. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist der eingereichte Gesetzentwurf zu erklären.
Er wurde seinerzeit etwas frühzeitig vom Arbeitsminister Scholz vorbereitet.
Es wundert mich, dass er heute nicht anwesend ist, obwohl es doch sein Antrag war.
Offensichtlich ist die Distanz zu diesem Antrag schon so groß.
Ich glaube, dass es um etwas Entscheidendes geht, und wir werden dies im weiteren Verlauf sicherlich noch mehrmals diskutieren. Ob es für die SPD immer gut ausgeht, das wage ich zu bezweifeln.
Es geht darum, nachzudenken, wie für ältere Bürgerinnen und Bürger der Übergang in die Rente flexibler gestaltet werden kann. Das ist sicherlich immer eine interessante Frage. Vor allen Dingen ist es aber wichtig, altersgerechte Arbeitsplätze in unseren Betrieben zur Verfügung zu stellen.
Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass wir in den vergangenen vier Jahren durchaus gute Grundlagen dafür geschaffen haben.
Das belegen auch die Zahlen, die ich hier nennen möchte. Deshalb bin ich über die Begründung, warum die geförderte Altersteilzeit um weitere fünf Jahre verlängert werden soll, die die SPD in ihrem Gesetzentwurf liefert, schon etwas verwundert. Sie begründen es - wenn ich es kurz darstellen darf - damit, dass ältere Menschen über 50 Jahre und junge Menschen unter 25 Jahren angeblich überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. dieser ausgesetzt sind.
Ich darf Ihnen einen Hinweis mit auf den Weg geben, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich innerhalb von vier Monaten der Blickwinkel derart geändert hat. Die Fraktion Die Linke hat am 17. Juni dieses Jahres eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zu diesem Thema gestellt. Was der zuständige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz damals geantwortet hat, ist in der Drucksache 16/13751 vom 7. Juli nachzulesen. Ich zitiere:
Die in der Vorbemerkung der Fragesteller vertretene Auffassung einer grundsätzlich verschlechterten Arbeitsmarktlage Älterer wird von der Bundesregierung nicht geteilt.
Ihre Einstellung scheint aufgrund des Wahlergebnisses sehr getrübt zu sein, wodurch sich Ihr Blickwinkel wohl geändert hat.
In der Drucksache heißt es weiter:
Die Bundesregierung schätzt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 55 bis unter 65 Jahre daher im Vergleich zu anderen Altersgruppen nach wie vor als relativ günstig ein.
Diese Aussage stammt vom damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz. Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten sich daran noch erinnern können. Das waren Erfolge unserer gemeinsamen Regierungspolitik.
Das sollte man nach zwei oder drei Monaten nicht gleich alles infrage stellen.
Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass wir die Beschäftigungsmöglichkeiten der älteren Generation in den vergangenen vier Jahren erheblich verbessert haben. Das belegen die Zahlen: Die Anzahl der 50- bis 54-Jährigen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist zwischen 2005 und 2009 von circa 2 922 000 auf circa 3 282 000 gestiegen. Das zeigt sehr deutlich, dass die Arbeitsmarktinstrumente, die wir in der Vergangenheit geschaffen haben, dazu angetan waren, ältere Menschen in Lohn und Brot zu halten. Das sollte letztendlich doch das Ziel unserer Arbeit sein.
Heute ist von der Finanzkrise und deren Auswirkungen gesprochen worden. Vor allen Dingen vonseiten der Linken und der SPD ist hier ein Bild gezeichnet worden, nach dem der Arbeitsmarkt im nächsten Jahr regelrecht zusammenbrechen wird. Ich sehe eine völlig andere Perspektive: Ich bin davon überzeugt, dass wir einen stabilen Arbeitsmarkt haben werden. Das zeigt sich auch daran, dass für die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen sowie für die Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen während der Krise, die im September 2008 begonnen hat, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind. Das heißt: mehr Beschäftigung für ältere Bürgerinnen und Bürger.
Deshalb zielt dieser Gesetzentwurf völlig an der Sache vorbei.
Heute wurde vielfach bereits dargelegt, dass die Sache mit der Altersteilzeitregelung nicht vorbei ist. Es gibt weiterhin die Möglichkeit für die Tarifparteien, entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Es ist bemerkenswert, dass insbesondere der Kollege Ernst entweder nicht im Bilde ist,oder bewusst verschweigt,
dass die IG Metall für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie bereits einen Tarifvertrag mit diesbezüglichen Regelungen geschlossen hat. Es wurde vereinbart, dass ab dem 57. Lebensjahr Altersteilzeit in den Betrieben bis zum 31. Dezember 2016 möglich ist. Da Sie Mitglied der IG Metall sind, müssten Sie das eigentlich wissen. Das, was Sie hier darstellen, entspricht nicht den Tatsachen. Es wird nichts abgeschafft; im Gegenteil: Die Tarifparteien haben die Möglichkeit, Altersteilzeitregelungen zu vereinbaren. Ihre IG Metall hat diese Möglichkeit ergriffen.
Das ist das Entscheidende. Dasselbe gilt für die Chemische Industrie und für die Kunststoffverarbeitende Industrie.
Herr Kollege Ernst, es kann nicht sein, dass die Beschäftigten in den kleinen Bauarbeitsbetrieben und die Verkäuferinnen in den Einkaufsläden, also die Beschäftigten in den mittleren und kleinen Betrieben, letztendlich die Zeche dafür zahlen, dass diejenigen, die in Großbetrieben beschäftigt sind, dort, wo die Arbeitsbedingungen möglicherweise sogar noch besser sind, weil sie besser organisierbar sind, frühzeitig in Rente gehen.
Es geht um die Beiträge der Maurer, der Schuster und all der anderen Beschäftigten. Diese Beiträge sind viel zu schade, um in ein solches Programm gesteckt zu werden, Herr Kollege Ernst.
Wir haben der Arbeitslosigkeit in den vergangenen vier Jahren erfolgreich den Kampf angesagt. Wir werden das auch in Zukunft mit Wachstums- und Beschäftigungsprogrammen tun,
die darauf ausgerichtet sind, mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen zu lassen und nicht weniger Arbeitsplätze. Das ist letztendlich das beste Programm, damit Menschen in selbstbestimmter Art und Weise für ihren Lebensunterhalt sorgen können.
Wir werden gerade in dieser bürgerlich-liberalen Koalition im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dafür Sorge tragen,
dass viele neue Arbeitsplätze zukünftig die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme - Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung - schaffen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zu uns spricht die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Elke Ferner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Hier wird in gewisser Weise eine Gespensterdiskussion geführt.
CDU/CSU und FDP, also diejenigen, die in den 80er-Jahren die gesetzliche Grundlage für die Vorruhestandsregelungen geschaffen haben, 1988 das erste Gesetz zur Förderung der Altersteilzeit verabschiedeten und die dann 1996 mit dem jetzigen Altersteilzeitgesetz das Blockmodell nachträglich eingefügt haben -, beklagen sich jetzt darüber, dass die Gesetze nicht in Ordnung sind.
Jetzt gibt es auch noch Beifall von den Grünen. Man könnte sagen, hier bildet sich Jamaika oder ein Fluch der Karibik; die Beurteilung ist jedem selbst überlassen.
Es ist schon merkwürdig, welche Argumente angeführt werden. Einerseits sind Sie stolz darauf, dass die ungeförderte Altersteilzeit fortgeführt wird. Wenn das kein Problem für Sie ist, frage ich mich, warum es ein Problem sein soll, die Altersteilzeit dann durch die Bundesagentur für Arbeit fördern zu lassen,
wenn dadurch junge Menschen nach ihrer Ausbildung die Perspektive eines Jobs in einem Betrieb erhalten
und nicht die Perspektive der Arbeitslosigkeit, eines unbezahlten Praktikums, eines ungewollten Teilzeitbeschäftigungsverhältnisses oder eines befristeten Arbeitsverhältnisses.
Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! Was ist denn mit den jungen Leuten, die ihre Ausbildung absolviert haben und gerade in Zeiten der Krise vor verschlossenen Betriebstüren stehen, weil die Stammbelegschaft ausreicht? Warum soll denn gerade in Zeiten der Krise dieses Instrument nicht verlängert werden? Darauf habe ich bisher überhaupt keine Antwort erhalten.
Sie beklagen, dass die Fortführung etwa 1,3 Milliarden Euro kosten würde.
Jetzt frage ich mich, warum Sie dann diese Hotelkettensubventionierung finanzieren wollen, die in etwa genauso viel kostet.
Was ist Ihnen denn mehr wert: Hotelketten zu subventionieren oder aber dafür zu sorgen, dass junge Leute endlich wieder ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis aufnehmen können? Gerade die jungen Leute, die sich ein Stück weit vom Elternhaus unabhängig machen oder eine Familie gründen möchten, lassen Sie in prekären Beschäftigungsverhältnissen verharren, anstatt mit relativ wenig Geld Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu vermeiden.
Es ist immer wieder merkwürdig, wie aus gleichen Berichten unterschiedliche Zahlen herangezogen werden. Auch ich habe mir diesen IAB-Bericht angeschaut. Ich sage Ihnen hier ganz offen: Gerade im Hinblick auf flexiblere Übergänge wäre es mir lieber, wenn sich mehr Menschen für eine Teilzeitbeschäftigung, für das echte Altersteilzeitmodell, entscheiden würden. Es wird aber niemand in die Altersteilzeit oder in ein Blockmodell gezwungen; jeder kann sich für eine Variante entscheiden. Die Gründe für die Entscheidung, das Blockmodell oder die tatsächliche Teilzeit zu wählen, sind so unterschiedlich wie die Lebenssituationen der Menschen.
Es wundert mich schon, dass ausgerechnet die Freiheitspartei FDP meint, man dürfe nicht mehr selber entscheiden, ob man in Altersteilzeit geht oder nicht. Das ist schon sehr merkwürdig.
Herr Kollege Kolb, Ihr Modell sieht im Übrigen eine Rente ab 60 mit Abschlägen von 25 Prozent vor. Das ist selbst für die meisten Menschen aus Ihrer Klientel überhaupt nicht darstellbar, weil keiner einen so hohen Rentenanspruch hat.
Wir werden uns in diesem Hause mit Sicherheit noch mit den Konzepten für einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in die Rente beschäftigen müssen. Dazu gehört aus unserer Sicht auch, aber nicht alleine die Verlängerung der geförderten Altersteilzeit. Wir werden Ihnen dazu noch etwas vorlegen. Ich bin gespannt, ob Sie in dieser Koalition überhaupt in der Lage sind, zu diesem Thema ein gemeinsames Konzept vorzulegen. Man hat bei Ihrem Vortrag eben die Begeisterung bei den Kollegen von der CDU/CSU förmlich spüren können.
Noch einmal zurück zu den Zahlen. Die Zahlen des IAB zeigen, dass im September 2008 von den freigewordenen Stellen 56,3 Prozent mit jungen ausgebildeten Menschen besetzt worden sind.
Im September 2009 waren es 57,8 Prozent; es gibt also eine Steigerung, selbst wenn es den einen oder anderen Mitnahmeeffekt gibt.
Man muss sich fragen: Wo gibt es überhaupt keinen Mitnahmeeffekt? Mich wundert jetzt gerade das Verhalten der Grünen, die sich, wenn es darum geht, jungen Menschen eine Berufsperspektive zu eröffnen oder sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken, für die Arbeitslosigkeit entscheiden. Das ist wirklich skandalös, liebe Kollegin.
Es ist nicht so, dass nur diese Maßnahme etwas kostet. Arbeitslosigkeit kostet auch Geld. Dequalifizierung kostet auch Geld. Perspektivlosigkeit kostet vielleicht sogar etwas mehr als nur Geld.
Ich frage mich wirklich, warum Sie sich gerade in einer Zeit, in der es darum geht, nicht nur möglichst viele Menschen in den Betrieben zu halten, sondern auch den Wissenstransfer und die Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt zu organisieren, nicht in der Lage sind, über dieses Instrument wenigstens noch einmal nachzudenken.
Ich muss sagen: Von der Union bin ich wirklich enttäuscht. Sie haben schon im letzten Sommer unser Angebot abgelehnt, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Kolb. Möchten Sie diese zulassen?
Elke Ferner (SPD):
Ja, gerne.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Elke Ferner (SPD):
Ich bedanke mich, dass Sie mir die Redezeit verlängern wollen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Kollegin Ferner, gerne, aber warten Sie erst einmal meine Frage ab. - Nachdem Sie aus dem IAB-Kurzbericht stellenweise zitiert haben, würde ich Sie gerne fragen, wie Sie das Fazit dieses IAB-Kurzberichtes bewerten, das wie folgt lautet:
Es spricht vieles dafür, die Förderung der Altersteilzeit in heutiger Form nicht weiter zu verlängern.
Weiter unten heißt es:
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit die falschen Signale und reduziert den Druck auf Unternehmen, rechtzeitig umfassende Konzepte für ein alternsgerechtes Arbeiten zu entwickeln.
Noch weiter unten heißt es:
Dagegen wäre es auf längere Sicht ein falsches Signal, die Förderung des Blockmodells zu verlängern.
Wie bewerten Sie dieses Fazit?
Elke Ferner (SPD):
Ich teile dieses Fazit nicht, Herr Kolb.
Das wird Sie nicht wundern; denn sonst würde dieser Gesetzentwurf heute nicht zur Debatte stehen.
Wir haben eine besondere arbeitsmarktpolitische Situation. Unter normalen Bedingungen, Herr Kolb, wie wir sie Ende 2007 bis Mitte 2008 gehabt haben, hätte ich gesagt: Man macht vielleicht noch eine Verlängerung ohne das Blockmodell, um wenigstens die Brücke für die Jüngeren in die Beschäftigung zu schaffen. Dank - ich sage dies in Anführungszeichen - der Ausbildungsunwilligkeit vieler Betriebe in der Wirtschaft besteht das Problem, dass nicht alle jungen Menschen, die eine qualifizierte Ausbildung machen wollen, einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Warteschlangen sind immens.
Wenn ich mir die Beschäftigungsstruktur hinsichtlich der Sicherheit der Beschäftigung bei den jüngeren Menschen anschaue, dann muss ich sagen, dass ich froh bin, 51 Jahre alt zu sein. Denn in meiner Jugendzeit hatte ich die Sicherheit, dass ich, wenn ich einen ordentlichen Ausbildungsabschluss hinlege, auch in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis komme.
- Nein, das ist Teil der Antwort auf Ihre Frage. Denn die Frage lautete, ob ich das Fazit teile. Ich habe gesagt: Ich teile es nicht,
weil wir jetzt eine andere arbeitsmarktpolitische Situation haben und auch im nächsten Jahr haben werden. Ich muss sagen: Ich bin enttäuscht, dass Ihnen Hotelketten mehr wert sind als die Chance für junge Menschen, in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu kommen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Als Letzter in der Debatte spricht der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frank Heinrich (CDU/CSU):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich verkneife mir, all das schon Gesagte jetzt noch einmal in Zahlen oder Zitaten aufzugreifen, aufzurühren, neu aufzukochen. Ich möchte einen Schritt zurückgehen und zu etwas Grundsätzlichem kommen. Wir reden heute nicht in erster Linie über Zahlen und Konzepte, sondern über Menschen. Wir reden über Menschen, die sich mit Blick auf die Verantwortung für ihr eigenes Leben, ihre Familien und unsere Gesellschaft nicht zurücklehnen wollen, sondern am Erwerbsleben teilhaben und aktiv sein wollen.
Wir reden nicht über Almosen, sondern wir reden über Chancen. Wir reden über Menschen, die nicht nach ihrer Kompetenz oder ihrem Fleiß beurteilt, sondern schlicht und ergreifend auf ihr Alter reduziert werden. Es geht darum, ob das Alter ein Kriterium für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist oder nicht. Ich selbst habe einige Menschen vor Augen, die das sehr wohl betrifft und auch betroffen macht. Ich finde, es verdient Anerkennung, das Schicksal dieser Menschen auf die Agenda zu setzen.
Schon in der Präambel unseres Koalitionsvertrages hat sich die Bundesregierung ausdrücklich zum Fleiß und zur Verantwortungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger geäußert: Deutschland ist ein starkes Land mit starken Menschen, und Menschen brauchen Chancen.
Was die Diskussion über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Altersteilzeit angeht, bin ich jedoch ziemlich verwundert. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie, liebe Kollegen von der SPD, hier ein Medikament in die Verlängerung schicken wollen, das das Mindesthaltbarkeitsdatum schon längst überschritten hat.
Davon stirbt man nicht sofort. Hier geht es aber nicht nur um Schadensbegrenzung. Vielmehr müssen wir an die Menschen und ihre Zukunft denken.
Nachdem wir in den letzten Wochen immer wieder Angriffe von Ihnen erlebt haben - Sie verwendeten Begriffe wie ?Nebeltaktik? und ?Klientelpolitik? -, ist es ziemlich verwunderlich, dass gerade dieser Gesetzentwurf genau diesen Geschmack hinterlässt. Wollen Sie uns etwa anhand eines praktischen Beispiels die Bedeutung dieser beiden Worte erklären?
Sowohl von meinen Fraktionskollegen als auch von Mitgliedern anderer Fraktionen haben wir heute gehört, dass klare Argumente gegen Ihren Gesetzentwurf sprechen. Die demografische Entwicklung hat sich geändert; darauf muss man reagieren. In den Ausführungen wurden gravierende Widersprüche aufgezeigt. Die Blockmodellwirkung ist schädlich für den Arbeitsmarkt. Diese Regelung führte nachweislich zum Abbau von Arbeitsplätzen, insbesondere in großen Firmen. Hinzu kommt, dass ausschließlich Alter mit Alter verrechnet wird. Die Frage nach der Qualifikation wird nicht gestellt. Das Ziel dieses Gesetzes, einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben ins Rentendasein zu ermöglichen, wird so nicht erreicht.
Bei diesem Gestaltungsmittel zu bleiben, wäre vollkommen kontraproduktiv und ein denkbar schlechtes Signal für die Menschen, um die es uns eigentlich geht. Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit den jetzigen Gegebenheiten. Gesetze für eine Gesellschaft werden nämlich nicht ausschließlich auf der nüchternen Basis finanzieller Eckdaten gemacht, sondern sie werden für Menschen gemacht. Dabei geht es auch um Flexibilität; darauf haben meine Kollegen von der FDP hingewiesen.
Es gilt, zwischen Berufsgruppen zu unterscheiden: Zwischen dem Dachdecker und dem Versicherungskaufmann gibt es nun einmal einen gravierenden Unterschied, was die Wahrnehmung dieses Gesetzes angeht. Es gilt, auch regionale Unterschiede mit einzubeziehen: In den neuen Bundesländern, aus denen ich komme, kann man nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie in Niedersachsen oder in Baden-Württemberg. Lieber Kollege Heil, Ihre Bemerkung bezüglich der ?Rolle Rüttgers? ganz am Anfang unserer Debatte bestätigt, dass es solche regionalen Unterschiede gibt und dass die Notwendigkeit besteht, sie mit einzubeziehen.
In Zeiten des demografischen Wandels müssen die Beschäftigungschancen älterer Menschen gestärkt werden und dürfen nicht geschwächt werden.
Dazu haben wir heute gute Vorschläge gehört. Auch hier geht es um individuelle Ausstiegschancen und einen flexibleren Renteneinstieg, aber nicht in Form des Blockmodells.
Damit sind wir noch lange nicht fertig. Wir sind gespannt, welche Vorschläge die Opposition in den Ausschüssen macht. Sie propagieren jetzt - 50 Jahre nach dem Godesberger Programm -, die neue SPD zu sein. Bleiben Sie bitte nicht zu lange bei den Abschiedsschmerzen! Wir möchten, dass Sie nicht bei Gedanken und Konzepten von vorgestern bleiben, wie sie in diesem Gesetzesvorschlag deutlich zum Vorschein gekommen sind.
Sie werden hier gebraucht als Opposition - so sind Sie gewählt worden -, und das sind Sie sich, diesem Parlament und den Bürgern und Bürgerinnen dieses Landes schuldig.
Meine abschließende Bemerkung: Menschen sollen und werden der Mittelpunkt der Politik dieser Koalition sein. Wo es um Menschen geht, die fertig, die krank, die ausgebrannt, die ausgepowert sind, um Berufsgruppen, denen ein Weiterarbeiten nicht zuzumuten ist, gibt es weiterhin die benannte Regelung, wenn auch ohne Förderung durch die Bundesagentur. Wir haben immer wieder betont, dass die Anschlussregelungen zur Kurzarbeit momentan die beste Möglichkeit ist;
dies darf aber nicht der einzige Schritt bleiben. Die CDU/CSU steht für eine nach vorn gerichtete sowie am Menschen orientierte Arbeits- und Sozialpolitik.
Wir, die CDU/CSU, sagen in aller Deutlichkeit: Menschen, die fleißig und verantwortlich in Deutschland leben, dürfen nicht faktisch frühverrentet werden. Sie sind bis ins Alter vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft, auch am Arbeitsmarkt.
Unsere Gesellschaft braucht keine Frühverrentungspraxis, sondern flexible und vielfältige Regelungen, um die längere Lebensarbeitszeit bestmöglich - sowohl ökonomisch als auch sozialethisch vertretbar - zu nutzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Heinrich, das war Ihre erste Rede im Hohen Haus, wozu ich Sie herzlich beglückwünsche. Für Ihre Arbeit hier wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses viel Erfolg und auch Gottes Segen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/20 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 7. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 27. November 2009,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]