Große Koalition hin oder her: Wolfgang Thierse ist bei vielen Mitgliedern der Unionsfraktion nicht sehr beliebt. Das hat er in den vergangenen sieben Jahren als Bundestagspräsident mehrfach zu spüren bekommen. Und das signalisierten ihm viele Abgeordnete der CDU/CSU auch bei seiner Wahl zum Vizepräsidenten des 16. Deutschen Bundestags am 18. Oktober. Mit 69 Prozent der Stimmen wurde der Sozialdemokrat gewählt - ein mageres Ergebnis, und schnell wurde deutlich, dass daran das Abstimmungsverhalten innerhalb der Union einen erheblichen Anteil hatte.
Die Spannungen zwischen dem 63-jährigen Thierse und den Christdemokraten sind nicht neu. Bereits bei seiner Wahl zum Präsidenten des letzten Bundestages im Herbst 2002 hatte er nur 59 Prozent der Stimmen erhalten und damit das drittschlechteste Ergebnis der Geschichte erzielt. Kurz vor dieser Wahl musste er sich vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl als "schlimmsten Präsidenten seit Hermann Göring" und vom damaligen Unions-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz als "schlechtesten Präsidenten, den wir je hatten" bezeichnen lassen. In der Legislaturperiode 1998 bis 2002 erlebte die Union mit der Parteispendenaffäre eine ihrer größten Krisen. Wolfgang Thierse beließ es in diesem Zusammenhang nicht bei Andeutungen. Immer wieder forderte er eine radikale Aufklärung, eine Reform der Parteienfinanzierung, die Offenlegung der Parteivermögen und eine schärfere Prüfung der Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Die Union unterstellte ihm, der gegen die Partei Strafgelder in Millionenhöhe verhängt hatte, Parteilichkeit.
Dieser Konflikt bestimmte seine erste Amtszeit und war nur ein Beispiel dafür, dass Thierse seine Funktion nicht nur auf repräsentative Aufgaben beschränkte und auch vor unbequemen Meinungen nicht zurück-schreckte. So sorgte er 2001 mit seiner Einschätzung zur Lage der östlichen Bundesländer auch in der eigenen Partei für Unmut. Dass der Osten auf der Kippe stehe, so Thierse, fanden die Genossen, allen voran der damalige Bundeskanzler Schröder, gar nicht lustig. Als erster Ostdeutscher im Amt des Präsidenten erlangte er schnell den Ruf, ein Anwalt des Ostens zu sein. Darüber hinaus warnte er jedoch auch vor einer ungehinderten Globalisierung oder kritisierte den gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung. Ein distanziertes Verhältnis pflegte er zu den Medien, um deren Gunst er sich nicht bemühte und in deren Zentrum er sich nicht drängte. Als künftiger Vizepräsident des Bundestages wird er in dieses Rampenlicht auch weit weniger gedrängt werden.