Es war einmal. Nein, Märchen sind es nicht, die Annemarie Griesinger in ihrem Buch zum Besten gibt. Es sind Geschichten, Anekdoten, Persönliches aus den Nähkästchen, aus dem Drumherum der Politik, die die 82-Jährige erzählt. Aber die netten Stories der früheren CDU-Bundestagsabgeordneten sowie Stuttgarter Landesministerin für Soziales und später für Bundes- und Europaangelegenheiten muten heute wie Nachrichten aus einer Welt an, mit der Jüngere nicht mehr viel anfangen können. Ludwig Erhard offeriert nicht nur seinen Gästen, sondern auch seinen Mitarbeitern stets gute Zigarren: Das gefällt Griesinger als Beleg für ihren Grundsatz, dass Politiker auch ihr Personal gut behandeln sollten. Für die Newcomerin im Bundestag ist es damals etwas Besonderes, dass Altkanzler Konrad Adenauer ihr persönlich zum Sportabzeichen gratuliert. Als Schriftführerin im Bundestagspräsidium zieht sie Vizepräsident Carlo Schmid, der während diverser Debatten einnickt, gelegentlich sanft am Hosenbein.
Sie sind halt schon etwas weit weg, die 60er-, 70er-und beginnenden 80er-Jahre. Und selbst der Name Annemarie Griesinger dürfte manch Jüngerem kaum mehr etwas sagen - da tritt man ihr nicht zu nahe. Über die Politik jener Zeit erfährt man in diesem Buch wenig, aber das ist ja auch nicht dessen Anliegen. Wer jedoch in das Atmosphärische dieser Ära eintauchen will, der wird hier fündig. Und staunt vielleicht über den Kontrast. Heute karriereorientierte, fernsehtaugliche, zuweilen auf die Strenge der Political Correctness fixierte Macher. Damals eine joviale, volkstümliche, humorvolle Politikerin, die sich im Württembergischen mit handfester Bodenständigkeit ihres Rückhalts zu versichern weiß. Griesinger zitiert ihren einstigen Beinamen "Feschtles-Marie": So etwas ist bei Politikern unserer Tage eher verpönt.
Manches liest sich einfach vergnüglich. Dass sie zum Beispiel bei einer Kabinettssitzung unter Hans Filbinger beim Streit um die Zahl von Klinikbetten "richtig narret" wird und kurzerhand ihre Handtasche auf den Tisch knallt. Dass beim gescheiterten Misstrauensvotum Rainer Barzels gegen Willy Brandt kurz vor der Abstimmung der als neuer Verteidigungsminister vorgesehene Manfred Wörner auf seinem Sitz im Plenarsaal siegessicher schon seinen ersten Tagesbefehl für die Truppe schreibt. Dass 1959 bei einer Kundgebung in Berlin Theodor Heuss den vorherigen Auftritt Kurt Georg Kiesingers zu dessen Missvergnügen durch den Kakao zieht: So klinge es, "wenn ein Schwabe versucht, hooochdeutsch zu reden". Dass Griesinger als Bundesratsministerin in Bonn Annäherungen zwischen Länderkammer und Regie- rung mit Saitenwürschtle, Wein und Bier zu befördern sucht: "Wenn wir hungrig und narret aufeinander einschlagen, gibt es keinen Kompromiss."
Jenseits der Geschichten und Anekdoten dürfen sich die Leser zuweilen aber auch an Heutiges erinnert fühlen: "Ich will nicht gewählt werden, weil ich einen Rock trage, sondern (...) weil ich etwas im Kopf habe", fordert die Ministerin. Als Anrede bevorzugt sie übrigens "Frau Minister".
Annemarie Griesinger: Heidenei, Frau Minister! Lachen ist die beste Politik. Hohenheim Verlag, Stuttgart 2006; 192 S., 14,80 Euro.