Wie auch anderswo in Russland stützt sich die Öffentlichkeit in Tschetschenien auf Gerüchte. So erzählt man sich in der Hauptstadt Grosny, der Regierungschef der Kaukasusrepublik Ramsan Kadyrow sei einmal von einem Verkehrspolizisten wegen Raserei angehalten worden. Dieser habe nicht sofort erkannt, wen er vor sich hatte, und hartnäckig den Führerschein verlangt. Bis Ramsan Kadyrow ausstieg und dem erschrockenen Ordnungshüter barsch befahl, in seinen Kofferraum zu klettern. Er gehorchte.
Dafür, dass diese Geschichte stimmt, spricht die tolldreiste Art, mit der in Tschetschenien Auto gefahren wird. Ob in Lada-Kleinwagen oder angebeulten BMW - die jungen Männer rasen, als seien sie nach zwölf Jahren Faustrecht und Krieg süchtig nach Adrenalin. Und Ramsan Kadyrow, der starke Mann der Republik, gilt als Autonarr. Zum Fuhrpark des 30-Jährigen gehören diverse Jeeps, Cayenne-Porsche, Ferraris und ein Bentley. Dafür, dass in seinem Kofferraum ein Milizionär verschwand, spricht auch, dass Verkehrsregeln und andere Gesetze in Tschetschenien ohnehin nicht viel gelten und Kadyrows bewaffnete Anhängerschaft hunderte Landsleute hat verschwinden lassen.
Seit 2002 wurden nach Angaben der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial insgesamt 1948 Menschen verschleppt, 1229 davon sind entweder tot oder verschollen. 2006 waren es bislang 143 Verschleppte - 62 von ihnen verschwanden oder kamen um. Die Zahlen sinken, aber laut Memorial verbirgt sich dahinter eine wesentlich höhere Dunkelziffer, weil viele Angehörige aus Angst schweigen.
Musaid Achmedow schweigt nicht. Sein Sohn Idris wurde in der Nacht zum 20. Juli 2003 von einem sechsköpfigen russisch-tschetschenischen Rollkommando aus seinem Elternhaus in Nowie Atagi entführt, eine halbe Autostunde südlich von Grosny. Seitdem fehlt jede Spur von dem damals 21-Jährigen. Der verzweifelte Vater wandte sich an alle Instanzen, von der Rayonmiliz bis zu Wladimir Putin in Moskau. Er fuhr mit dem Zug nach Perm am Ural und ins mittelsibirische Krasnojarsk. Dort, so Gerüchte, säßen junge Tschetschenen als mutmaßliche Terroristen in Untersuchungshaft. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich. Achmedow selbst wurde zweimal nachts in den Wald geschleppt und zusammengeschlagen. Von Männern in Zivil, die ihm drohten, er sei ein toter Mann, wenn er nicht aufhöre, Lärm zu machen. "Ich weiß nicht", sagt der Krankenhauspförtner, "ob sie mich das nächste Mal im Krankenhaus oder zu Hause holen."
Es klingt paradox, aber Achmedow sagt auch, in Tschetschenien hätte kaum jemand überlebt, wenn nicht Ramsan Kadyrow im März an die Macht gekommen wäre. Viele versichern in Grosny, damit habe der Wiederaufbau begonnen. Allerdings verbirgt sich hinter dem Lob oft Angst vor Kadyrow. Ramsan ist der Sohn Achmad Kadyrows, des ersten Präsidenten Tschetscheniens von Moskaus Gnaden. Sein Vater starb im Mai 2004 bei einem Bombenattentat. Der amtierende Präsident Ala Alchanow, ein ehemaliger Polizist, gilt als Interimsfigur. Auf den Straßen von Grosny hängen Plakate mit Ramsan Kadyrows Kindergesicht: "Ramsan Kadyrow vertrauen wir zu 100 Prozent."
Ramsan gilt als Bullterrier Putins im Kaukasus. Der Kreml erlaubte ihm, eine eigene Privatarmee aufzubauen, die sich - wie er selbst - zum großen Teil aus den ehemaligen antirussischen Partisanen "Bojewiki" rekrutiert. Es sind 15.000 bis 25.000 Mann. Die noch in den Wäldern verbliebenen Bojewiki werden zum Vergleich auf 200 bis 700 Mann geschätzt. Die Zivilbevölkerung fürchtet Kadyrows Gewohnheitskrieger inzwischen mehr als die Bojewiki. Und die handeln ohne Skrupel, auch außerhalb der Teilrepublik. Erst vor zehn Tagen erschossen die "Kriminalis-ten" Kadyrows auf offener Straße in Moskau Mowladi Baissarow, den Exkommandeur einer inzwischen aufgelösten Sondereinheit, der als einer der letzten offenen Feinde und Kritiker Kadyrows galt.
Es heißt, der Premier habe auch die Finanzen der Republik unter seine Kontrolle gebracht. Die Moskauer Zentralpresse wirft Kadyrow vor, er finanziere nicht nur seine Sportwagen mit russischen Staatsgeldern, sondern habe es auch auf die tschetschenischen Ölreserven abgesehen. Kadyrow hütet sich zwar vor direkter Kritik an Putin, ärgert sich aber immer wieder öffentlich über die Moskauer Zentralbürokratie. Die russische Staatsfirma Grosneft streiche die Gewinne für das tschetschenische Öl ein, andererseits tauche die jährliche Aufbauhilfe für Tschetschenien, 5,2 Milliarden Rubel, umgerechnet 153 Millionen Euro, immer erst zum Jahresende in Grosny auf. "Zu spät, um sie noch sinnvoll zu verwenden", bestätigt ein Beamter des russischen Rechnungshofes, "man kann sie höchstens noch stehlen."
Aber es wird gebaut. Die Chaussee zwischen Nowie Atagi und Grosny ist gesperrt, weil dort Rohre für eine Gaspipeline in die tschetschenische Gebirgsregion verlegt werden. Der Asphalt der Straßen in Grosny ist frisch, die Trümmerberge sind zum großen Teil verschwunden, neben zerschossenen Hochhausruinen wachsen neue Plattenbauten mit blitzenden Fenstern. Zwei von vier Minaretten der neuen Zentralmoschee sind schon fertig - und ein Triumphbogen, zwei Achmad-Kadyrow-Denkmäler sowie der renovierte Flugplatz. Allerdings starten und landen dort noch keine Flugzeuge. Auch viele der neuen Wohnungen stehen leer, es heißt, die schicken Zweiraumwohnungen im Stadtzentrum kosten 100.000 Dollar. Andererseits können tschetschenische Flüchtlinge für ihre zerstörten Häuser und Wohnungen eine Pauschalentschädigung von 350.000 Rubeln beantragen, umgerechnet 10.300 Euro. Aber die Leute klagen, man müsse die Hälfte davon den Bürokraten geben, um die andere zu bekommen. Korruption und Potemkinsche Prahlerei schweben über dem Wiederaufbau. Dennoch, es gibt in Grosny wieder Verkehrsstaus und am "Prospekt des Sieges" im Zentrum drängen sich Schönheitssalons, Internetcafes und Restaurants. "Wir haben in Grosny bald mehr Restaurants als Wohnungen", grinst der Taxifahrer Abdul.
"Der Personenkult um Ramsan kotzt mich an", schimpft ein Beamter der Stadtverwaltung in Grosny. "Aber man muss ihm lassen, dass er die Minister dazu zwingt, sich in Gummistiefeln auf den Bau zu stellen und zu kontrollieren."
Kadyrow hat sein eigenes, privates Steuersystem aufgebaut: Die Achmad-Kadyrow-Stiftung, benannt nach seinem Vater. Die tschetschenische Privatwirtschaft zahlt - mehr oder weniger freiwillig. Für Kleinunternehmer in Grosny sollen die Monatsabgaben zwischen umgerechnet 300 und 1.500 Euro liegen, die steinreiche Moskauer Diaspora drückt Dutzende von Millionen ab.
Offiziell verkündet Moskau seit Jahren, der Tschetschenienkrieg sei siegreich beendet. In der Tat wird in Grosny fast nur noch zu Hochzeiten geschossen, russische wie tschetschenische Ordnungshüter sagen, die Kampfeinsätze hätten sich gegenüber 2002 um 90 Prozent verringert. Während früher die Federaly, wie die russischen Soldaten und Milizionäre hier genannt werden, breitbeinig auf dem Zentralmarkt von Grosny herumschlenderten, sind Russen in Uniform jetzt praktisch aus dem Straßenbild verschwunden. Die Federaly haben sich in ihren "Blockposty", chaotische Betonburgen an Wegkreuzungen, verschanzt, während auf den Trottoirs junge, bewaffnete Tschetschenen in Tarnanzügen, oft mit schwarzen Baseballmützen patrouillieren - die Milizen Kadyrows. Viele der Kadyrowzy, heißt es, liegen in erbitterten Blutfehden mit den Bojewiki. Andere von ihnen sollen deren Attacken auf die Federaly stillschweigend dulden. Unter russischen Militärstiefeln bleibt der Boden in Tschetschenien weiter heiß. Patrouillen der Federaly geraten immer wieder unter Feuer, erst vergangene Woche starben sieben Milizionäre in einem Hinterhalt im Gebirge.
Der Sieger, zumindest der vorläufige Sieger, heißt Ramsan Kadyrow. Er kommandiert die meisten Gewehrläufe, er fährt die schicksten Sportwagen, seine Anhänger feiern ihn als Finanzier des Wiederaufbaus. Seine Rambos verhaften, wen sie wollen. Allerdings lassen sie auch nicht mehr Leute verschwinden als der islamistische Separatistenhäuptling Schamil Bassajew und seine sklavenhandelnden Feldkommandeure, die nach dem vermeintlichen Sieg von 1996 im Westen jahrelang als Freiheitskämpfer missverstanden wurden. Und weniger als die Federaly nach der Revanche von 2000, die ihren militärischen Sieg mit Foltern und Vergewaltigungen feierten. Statt Minenwerfern arbeiten nun in Grosny Zementmischer. Aber auch wenn keiner mehr von Unabhängigkeit reden möchte in Tschetschenien, unter Kadyrow geht der Krieg für tausende von Tschetschenien weiter.
"Ich glaube auch nicht mehr, dass mein Sohn lebt", sagt Musaid. Er ist 54 Jahre alt, sieht aber 15 Jahre älter aus. "Aber wenn sie mir doch wenigstens sagten, wo er begraben liegt." Die Angst, das nächste Mal, wenn sie ihn holen, selbst totgeschlagen zu werden, hat ihn zermürbt. "Ich möchte nur noch weg von hier", sagt er, "am liebsten weg aus Russland, in den Westen."
Andere Tschetschenen kämpfen noch, zumindest als Teilzeitguerilleros weiter, weil sie mit den Mördern ihrer Kinder, Geschwister oder Eltern abrechnen wollen. "Die Blutrache wird als Problem umso deutlicher, je ruhiger der politische Widerstand wird", sagt ein tschetschenischer Milizoffizier. Und wie die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die mutigste und kundigste Kritikerin des russischen "Antiterror"-Feldzuges in Tschetschenien, die Anfang Oktober in Moskau ermordet wurde, in einem ihrer letzten Artikel schrieb, nutzen viele Kämpfer Kadyrows ihr halboffizielles Gewaltmonopol, um Blutrache zu üben oder sich vor ihr zu schützen.
Auch Ramsan Kadyrow soll hunderten Landsleuten Blut schulden. Er hat Dutzende Leibwächter. Und es heißt, er fahre so halsbrecherisch Auto, weil er nicht glaube, noch lange zu leben. Tschetschenien will den Frieden, aber es ist sich dieses Friedens noch längst nicht sicher.