Die Mehrheit der Historiker scheut diese Unterfangen. Zum einen, weil sich eine Großzügigkeit im Ganzen mit notwendigem Verzicht auf Vertiefung doch eher an die interessierte Öffentlichkeit, denn an die Fachkollegen richtet. Zum anderen fordert ein solche Geschichtsschreibung souveräne Erzähler, die das Studium der Geschichte als ein Ermitteln von Ursachen beherrschen. Solche Erzähler haben die vielfältigen Ursachen der Ereignisse ermittelt, deren Beziehungen untereinander herausgearbeitet und sie schließlich ihrer jeweiligen Bedeutung gemäß angeordnet.
Auch Martin Kutz, ehemals Wissenschaftlicher Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr, verfolgt in seinem Buch "Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte" diesen Ansatz. Europa komme wegen seiner besonderen Politik- und Kriegserfahrung unerwartet eine Verantwortung zu, die für den weiteren Fortgang kriegerischer Entwicklung weltweit zentrale Bedeutung erlangen könne. Darüber im historischen Zusammenhang nachzudenken, ist der Beweggrund seiner Studie. Damit sind Verdienst und Schwäche seiner Publikation zugleich skizziert.
Das Verdienst liegt in dem Anspruch, auf 400 Seiten gedrängt eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Militärs zu schreiben. Kutz will die Kontinuitäten und Brüche im Denken deutscher Soldaten vom Mittelalter bis in die heutige Zeit skizzieren und wagt darüber hinaus auch den Blick auf Herausforderungen an den deutschen Soldaten der Zukunft, etwa im Bereich des Peace-Keeping, der humanitären Intervention oder der asymmetrischen Kriegsführung.
Die Schwäche der Darstellung liegt im vorgenannten Anspruch begründet. So steht manche These des Autors begründungslos im Text - "europäische Militärgeschichte beginnt im Mittelalter" - und bisweilen irritierend unbekümmert erzählt Kutz Geschichte in bester Ranke'scher Vorstellung von einer Geschichte ‚wie es wirklich war'. Hier rutscht der Autor ab und an auf wissenschaftlichem Glatteis und wird den Einspruch von Spezialisten herausfordern.
Im Ganzen gleichen das Verdienst der Studie und vor allem die wichtigen handlungsorientierten Hinweise für die deutsche Militärpraxis in der Zukunft diese Schwächen aber bei weitem aus. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung der Arbeit, leistet sie doch einen Beitrag, die Konsequenzen historischer Erfahrung für aktuelle Sicherheitsdebatten praktisch fruchtbar zu machen.
Wie haben die Führungseliten in Militär und Politik die Herausforderungen und Aufgaben ihrer jeweiligen Epochen gemeistert? Was haben sie von ihren Vorgängern gelernt? Was gilt es, von ihnen zu lernen? In 19 sprachlich ansprechenden Kapiteln führt Kutz seine Leser durch die Vergangenheit. Historische Beispiele des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind Ausgangspunkt, um dann über das Zeitlalter Napoleons den Einstieg in die Moderne zu nehmen und das deutsche Militär im Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts darzustellen.
Den Weg in den Ersten Weltkrieg interpretiert er als Folge der Industrialisierung, den Zweite Weltkrieg als Exerzierfeld entgrenzter Gewalt. Mit einem Schwerpunkt auf dem Mentalitätsvergleich zwischen Wehrmacht und Bundeswehr verlässt Kutz die großen Linien und wird detaillierter: Den Streitkräften der Bundesrepublik etwa widmet er sechs einzelne Kapitel, denen man die kenntnisreiche Zeitzeugenschaft des Autors insbesondere in den Paradigmenwechseln seit den 70er-Jahren anmerkt.
Eine These zieht sich wie ein roter Faden durch die Studie: In der europäischen Geschichte folgten Phasen des Krieges (Gewaltentgrenzung) immer wieder Phasen, in denen nach Instrumenten gesucht wurde, die brutalen Erscheinungsformen des Krieges einzudämmen (Gewalteinhegung). Dieser Zyklus ist eng mit der modernen Staatsbildung verknüpft. Gewalt ging meist von den Großen und Mächtigen aus, um damit die Macht gegenüber anderen Mächten oder in der ent- stehenden Staatenwelt auszuweiten. Viele militärische Erfindungen entstanden zwar aus Notwehr von Schwächeren gegen eine Übermacht, strategische Bedeutung bekamen diese Erfindungen aber erst durch die Übernahme in die Strategie der Großen. Entwicklungsschübe, etwa die Einführung von Feuerwaffen um 1420 durch Karl V. von Frankreich, werden von der Forschung als Fortschritt definiert. Kutz weist darauf hin, dass jeder dieser Fortschritte immer mit einer Steigerung des Vernichtungspotenzials verbunden gewesen ist. Einen schrecklichen Höhepunkt fand dies in der Moderne. Sie wurde der entscheidende Motor für eine technokratisch betriebene Gewaltentgrenzung: Der Mensch wurde zum Material. Die Soldaten aller am Ersten Weltkrieg beteiligten Industrienationen haben diese "Qualität" beweisen.
Clausewitz verdankt sich die intellektuelle Beschreibung des Phänomens Kriegs. Er erkannte, dass Krieg stets eine Tendenz zur Radikalisierung hat. Damit ist die Frage nach Gewaltentgrenzung und ihrer Einhegung als politische und militärische Handlungsoption nicht nur von historischem Interesse. Vielmehr hat sie eine Schlüsselfunktion dafür, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Kriege begonnen, geführt und bestenfalls auch beendet werden können.
Kutz resümierendem Schlusskapitel "Was tun?" wünscht man die Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger. Hier wird deutlich, dass neben technischem Wissen und Können eine moderne Form der Inneren Führung der Bundeswehr notwendig ist. Hierzu gehört die Befähigung des Soldaten zur Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen, internationalen Organisationen oder der Übernahme persönlicher Verantwortung. Ein solcher Anforderungskatalog könnte vielleicht auch ein anderes dringendes Problem Deutschlands lösen: Wieder Menschen aus den Mittelschichten für den Soldatenberuf zu interessieren.
Martin Kutz: Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006; 416 S., 49,90 Euro.