Was ist wahr am Mythos des Rotarmisten "Iwan" und was erdichtet? Welche Gräueltaten hat er wirklich begangen und warum? War der "Iwan", wie Werner Heiduczek 1977 in seinem Roman "Tod am Meer" schrieb, einer, der plünderte und vergewaltigte? Oder war er von Natur aus tapfer, zu großen Entbehrungen bereit und ein bisschen sentimental, wenn er an die Heimat und seine Familie dachte? Die britische Historikerin Catherine Merridale suchte Antworten auf diese Fragen. In den späten 1990er-Jahren hatte sie mit Schulkindern in Russland gearbeitet und bei ihnen ein großes Interesse an diesem Thema gespürt. Denn die Kinder wussten, dass sie von ihren von ihren Eltern und Großeltern nicht die Wahrheit erfuhren. In deren Geschichten war nichts zu hören von Panik, Selbstverstümmelung, Feigheit oder Vergewaltigung. Denn der in die vielen Kriegsdenkmäler eingemeißelte Heldenmythos sollte nicht beschädigt und das kollektive Gedächtnis der Nation eher besänftigt werden.
Catherine Merridale besuchte russische Archive, nahm Einsicht in Feldpostbriefe, in Berichte der Armee und der Geheimpolizei, sie las Tagebücher, Chroniken und Memoiren. Vor allem befragte sie etwa 200 Veteranen des "Großen Vaterländischen Krieges", die zu ihrem Buch erheblich beigetragen haben.
Wie schlecht die Rote Armee auf den Krieg vorbereitet war, zeigte sich bereits während des Feldzugs gegen Finnland im Jahr 1939, in dessen Verlauf sie binnen eines Monats nahezu 18.000 Mann verlor. In ideologischen Schulungen hatten die Soldaten zwar gelernt, für das Vaterland und Stalin in den Kampf zu ziehen, doch über die militärischen Fähigkeiten, um in einem modernen Krieg zu bestehen, verfügten sie nicht. Außerdem herrschte bei Temperaturen 30 Grad unter Null ein erhebliches Defizit an warmer Bekleidung und Verpflegung. Kein Wunder, dass viele Rotarmisten Fahnenflucht begingen oder kapitulierten. Der Krieg gegen den militärisch eigentlich unbedeutenden Nachbarn im Nordwesten geriet zur Katastrophe.
Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 setzte sich diese Katastrophe zunächst fort. Ende 1941 hatte die Rote Armee rund 4,5 Millionen Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen zu beklagen. "Fast die gesamte Vorkriegsarmee war (...) tot oder interniert", bilanziert Merridale. Hinter der Front errichtete der gefürchtete Geheimdienst NKWD Blockaden, um fahnenflüchtige Soldaten abzufangen. Stalins "Befehl 270" war unmissverständlich: Keinen Schritt zurück! Vorwärts bis zum Sieg oder Tod!
Doch woher schöpften die Rotarmisten ihre Motivation, um weiter zu kämpfen? Die Veteranen erzählen über die Intensität der Beziehungen der Soldaten untereinander. Dass sie alles riskierten, um in der Nähe ihrer Kameraden zu bleiben und sich weigerten, an einen anderen Ort versetzt zu werden. Dazu gesellte sich der der Wunsch nach Rache: "Sie legten alles, von den gefallenen Freunden bis zu den abgebrannten Städten, von den hungernden Kindern der Heimat bis zur Sorge über einen weiteren Granatenhagel, alles - sogar den bourgeoisen Wohlstand (im Feindesland, Anmerk. d. Red.) - den Deutschen zur Last. Ob bewusst oder nicht, viele Rotarmisten machten bald auch einem Ärger Luft, der sich im Lauf der Jahrzehnte durch die staatliche Unterdrückung (...) angestaut hatte. Als sie schließlich Ende Januar 1945 ins Feindgebiet überwechselten, konnte sich dieser Ärger praktisch an alles heften." Plünderungen und Vergewaltigungen bildeten die Ursache für den verheerenden Ruf des "Iwans" in der deutschen Bevölkerung.
Nach dem Krieg wurden die Veteranen weder besonders geehrt oder ins gesellschaftliche Leben eingegliedert. Stalin selbst war dafür verantwortlich, der den Sieg ganz für sich beanspruchen wollte und keine Rivalen duldete. Millionen Veteranen - fast neun Millionen Rotarmisten waren gefallen - tat man als "kleine Rädchen der Geschichte" ab. Das führte zu großen Enttäuschungen unter den Kriegsteilnehmern, zu familiären Problemen, Armut, Depression, Alkoholismus und Kriminalität. Doch bei den Veteranen lebte der Mythos fort. Daran zu zweifeln, hätte bedeutet, am Sowjetsystem zu zweifeln. Als wahrer Gewinn bleibt den Veteranen, so resümiert die Autorin, dass das Elend des Krieges sie lehrte, das Überleben um so höher zu schätzen, die Liebe zum Leben.
Das Besondere an dem Buch von Catherine Merridale ist, dass sie die Menschen zum Sprechen gebracht hat. Es ist ein spannendes und ergreifendes Buch, weil es ihr gelungen ist, das unvorstellbar harte Leben der einfachen Soldaten sichtbar zu machen.
Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 - 1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006; 474 S., 22,90 Euro.