Es ist ein bisschen wie bei der Gesundheitsreform. Nach langem Hick-Hack, Expertenanhörungen und -gutachten, nach schier endlosen Sitzungen, mehrfach gescheiterten Kompromissvorschlägen, Lenkungsausschuss- und Koalitionsrunden, haben sich Bundesregierung und Koalitionsfraktionen dann doch geeinigt: Die Deutsche Bahn AG (DB), bisher zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes, wird teilweise privatisiert, wobei der Bund formal Eigentümer der Infrastruktur, heißt der Schienen, Bahnhöfe, Sicherheitssysteme und Energieversorgung, bleibt.
Im Unterschied zur Gesundheitsreform jedoch, bei der die Kritik schon formuliert war, ehe Angela Merkel die letzten Modalitäten der Reform vorgestellt hatte, sind mit dem Kompromiss zur Bahnprivatisierung offenbar alle Seiten zufrieden. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) lobte: "Wir haben eine sehr gute Lösung gefunden." Bahn-Chef Mehdorn, der bis zu letzt betont hatte, Bahn und Netz gehörten zusammen, empfindet den Kompromiss als "ein gutes, wichtiges Signal an die Bahn, ihre Mitarbeiter und ihre Kunden." Sogar die Bahngewerkschaft Transnet, stets besorgt um die 229.000 Arbeitsplätze bei der DB, jubelte: "Der Konzern bleibt zusammen." Und der Fahrgastverband Pro Bahn konstatierte: "Der Kompromiss ist eine echte Chance zur Weiterentwicklung." Komplettiert wird der Freudenreigen von Verkehrsexperten und anderen Abgeordneten der Koalitionsfraktionen. In ihren Sitzungen hatten beide Fraktionen dem "vereinbarten Kompromissmodell mit großer Mehrheit" zugestimmt. Als Verlierer der Verhandlungen sieht sich keiner. Das liegt daran, dass der Kompromiss genug Raum zur Interpretation lässt, sodass sich jede Seite der positiven Facetten bedienen kann.
Möglich macht das ein juristischer Winkelzug. Zwar verkauft die Bahn einen Teil ihres Kapitals, maximal bis zu 49 Prozent, an der dem Bahngeschäft zu Grunde liegenden Infrastruktur werden private Investoren jedoch nicht beteiligt. Die Eisenbahninfrastrukturunternehmen, dazu gehören die DB Netz, DB Station und Service und DB Energie, "werden vor der Kapitalprivatisierung ins Eigentum des Bundes überführt". Kurz: Das Netz und alles was dazu gehört bleibt beim Bund. Damit ist eine zentrale Forderung von CDU/CSU und von Experten wie der Monopolkommission der Bundesregierung erfüllt. Allerdings - und dort beginnt der Winkelzug - erhält die DB AG "die Möglichkeit, Schienenverkehr und Infrastruktur in einer wirtschaftlichen Einheit zu betreiben und zu bilanzieren".
Die Bahn soll die Infrastruktur für einen zu vereinbarenden Zeitraum betreiben, sofern sie "die vertraglich beziehungsweise gesetzlich neu geregelten Aufgaben zur Pflege des Netzes strikt einhält". Dies kommt dem sehr nahe, was Bahnchef Hartmut Mehdorn von der Politik gefordert hatte. Noch näher kommt diese Konstruktion dem vor zwei Monaten von Verkehrsminister Tiefensee vorgeschlagenen so genannten Eigentumssicherungsmodell. Dass es dabei selbst Bilanzexperten schwer fällt zu verstehen, wie ein Unternehmen einen riesigen Vermögenswert, und das ist das 34.000 Kilometer lange Schienennetz mit seinen Bahnhöfen, bilanzieren kann, der ihm gar nicht gehört, fällt dabei weniger ins Gewicht.
Wie schwer sich selbst Abgeordnete, die an der Endphase der Verhandlungen beteiligt waren, tun, dieses Privatisierungsmodell in Worte zu fassen, belegt die Definition von CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer: "Besitzer des Schienennetzes wird die Bahn - und zwar in der Weise, dass sie es möglicherweise auch bilanzieren kann. Aber es bleibt auf alle Fälle im Eigentum des Bundes."
Auch wenn formal den Einwänden der meisten Sachverständigen, die sich gegen ein so genanntes integriertes Privatisierungsmodell, bei dem die Bahn inklusive des Schienennetzes privatisiert wird, Rechnung getragen wird - Bund bleibt Eigentümer - widerspricht der Privatisierungskompromiss dennoch teilweise den Expertenvoten. Die Monopolkommission der Bundesregierung unter Vorsitz des Zivilrechtlers Jürgen Basedow, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, beispielsweise hat sich explizit gegen jede Form einer integrierten Privatisierung ausgesprochen. Im Sondergutachten der Kommission heißt es, man komme "zu dem Ergebnis, dass die Privatisierung der Deutschen Bahn AG als vertikal integriertes Unternehmen mitsamt Schienennetz aus wettbewerbspolitischer Sicht ein schwer zu korrigierender Fehler wäre." Dies gelte, "wenn die Deutsche Bahn AG weiterhin über die Infrastruktur - als Eigentümer oder als Verwalter - verfügen kann."
Damit die Bahn ihre Position nicht ausnutzt und privaten Bahnanbietern die Nutzung des Netzes erschwert oder sogar unmöglich macht, sollen, so heißt es in dem Kompromiss, "die Regulierungselemente der Bundesnetzagentur entsprechend den vorliegenden Erfahrungen fortentwickelt" werden.
Zur Erfüllung des grundgesetzlichen Infrastrukturauftrags sollen Bahn und Bund eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung schließen: Darin wird festgelegt, dass der Bund einen jährlichen Infrastrukturbeitrag für das Schienennetz von bis zu 2,5 Milliarden Euro zu erbringen hat. Die Bahn muss dafür im Gegenzug den Verkehrsminister regelmäßig über den Zustand des Netzes und die Verwendung der Gelder informieren.
Mit dem durch die Teilprivatisierung erwirtschafteten Geld will sich die Bahn als europäischer Champion etablieren: Mehdorn will unter anderem die Bahn-Logistikabteilung ausbauen, den Zugang zu Seehäfen öffnen, schnelle Güterstrecken nach Russland bauen und Eisenbahnunternehmen in Osteuropa kaufen. Das ist allerdings nur möglich, wenn Finanzminister Peer Steinbrück die Einnahmen aus der Teilprivatisierung nicht zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes einsetzen will.
Die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG ist eines der Hauptziele der Bahnreform aus dem Jahr 1994. Aufgrund der grundgesetzlich fixierten Infrastrukturverantwortung des Bundes (Artikel 87e Absatz 4) ist allerdings maximal die Privatisierung von 49 Prozent des Unternehmens möglich.
Im Optimalfall liegt der Entwurf eines Privatisierungsgesetzes bis zum 31. März 2007 vor. Der so genannte Referentenentwurf geht an die betroffenen Ministerien, die mehrere Wochen Zeit haben, um Änderungswünsche anzumelden. Nach einer möglichen weiteren Bearbeitung des Entwurfs im Verkehrsminis- terium könnte das Gesetz frühestens in der zweiten Maihälfte im Kabinett vorliegen. Nach der Einbringung in den Bundestag könnte der Entwurf im besten Fall Mitte kommenden Jahres im Verkehrsausschuss zur parlamentarischen Beratung vorliegen.
Spätestens 2009 sollen Bahnaktien an private Investoren verkauft werden. Bahnchef Mehdorn hält gar eine Privatisierung noch 2008 für möglich.