Die Kirchen sorgen sich um den Fortbestand der Demokratie. Sie haben den Eindruck, es müsse allen Beteiligten, vor allem den Bürgern und den Politkern neu ins Bewusstsein gerufen werden, dass das Gemeinwesen eine Sache aller ist, die das Mittun eines jeden verlangt und sich nicht wie von selbst gestaltet. Dabei stehe die Bundesrepublik vor Aufgaben, "die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind" und weder der Markt noch der Staat fügten die Einzelinteressen "harmonisch zum Gemeinwohl", betonen der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, in ihrem Geleitwort zur gemeinsamen Erklärung beider Kirchen "Demokratie braucht Tugenden".
Politische Strukturen und Institutionen mögen klug entworfen und gefestigt, gegen Missbrauch abgesichert sein; sie könnten aus sich nicht das notwendige Maß an Gemeinwohlorientierung gewährleisten. Es seien Menschen, die den Rahmen ausfüllten, erinnern die Kirchen. An die politisch Handelnden - das sind für die Autoren nicht nur die Politiker, sondern auch die Wähler, die Journalisten und die Lobbyisten - müssten daher bestimmte Anforderungen an ihr Verhalten gemäß ihrer jeweiligen demokratischen Aufgabe gestellt werden. Die Demokratie rechne mit einer Ethik des politischen Handelns der Akteure, und die Kirchen wollen dafür den Begriff der Tugenden wieder neu beleben.
In ähnliche Richtung bewegte sich eine Diskussion in der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), die am Wochenende in Bonn tagte. Unter dem Titel "Politische Reformen bedürfen solider Werteorientierung" sollte damit eine Erklärung der bundesweiten Vertretung der katholischen Laien vorbereitet werden, die sich gegen bloßen Pragmatismus in der Lösung anstehender Aufgaben der Politik aussprechen will.
Das gut 50 Seiten starke Demokratie-Papier der Kirchen ist fern jeder Schwarz-Weiß-Malerei. Die Leistungen des demokratischen Rechts- und Sozialstaates Bundesrepublik im vergangenen halben Jahrhundert werden herausgestellt, nicht weniger die politische Leistung der Einigung Deutschlands. Nun aber könne "das Gemeinwesen seinen Bürgerinnen und Bürgern immer weniger die gewohnten Leistungen in den Bereichen Gesundheit, Alterssicherung, Sozialhilfe, Bildung" gewährleisten, stellen die Autoren fest. Offenbar wird ihnen dies am eigentlichen Gegenwartsprob-lem der hohen Arbeitslosigkeit, das die Gefahr der Ausgrenzung Arbeitsloser von den gesellschaftlichen und politischen Prozessen in sich birgt, andererseits an der Zukunftsfrage der demografischen Entwicklung. Da sei es nötig, heißt es in der Erklärung, "das rechte Verhältnis zwischen dem herzustellen, was der Staat leisten soll und was er leisten kann, und den Aufgaben, die die Einzelnen zu übernehmen haben".
Es habe sich, so ein Tenor des Papiers, eine Versorgungsmentalität breit gemacht, die alles von "Vater Staat" erwarte. Das sei die Einstellung von Untertanen, wogegen das Selbstverständnis als Bürgerinnen und Bürger wiedergewonnen werden müsste. Politische Verantwortung gilt nach der Erklärung als eine der zentralen Tugenden, ohne die eine Demokratie nicht Bestand hat. In einer ersten Anmerkung zur Kirchen-Erklärung stellt auch Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Art Politikverdrossenheit fest, die sich an rückläufigen Wahlbeteiligungen und einem "dramatischen Verlust der Bindungskraft der Volksparteien" zeige. Er will allerdings unterschieden wissen "zwischen der Zustimmung zur Demokratie als Staatsform und der Kritik an der Arbeit demokratischer Ins-titutionen oder konkreter Politik".
Lammert wirbt um Fairness bei der Beurteilung, wenn er feststellt, "dass die Probleme, mit denen sich die Politik heute auseinandersetzen muss, objektiv komplexer und schwieriger sind als früher". Das räumen auch die Autoren des Kirchenpapiers ein. Sie stellen aber auch fest, dass vorhersehbare Entwicklungen "wie der demografische Wandel oder die Verengung der künftigen politischen Handlungsspielräume durch eine hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte" von der Politik "lange Zeit nicht angemessen berücksichtigt" worden seien. Als Grund machen die Autoren etwa aus, dass den Politikern das Ausgleichen zwischen eigener unabhängiger Urteilskraft und Parteienloyalität, zwischen Wünschen der Wähler und Einflussnahmen von Lobbyisten nicht immer gelingt. Es ist eine der Stärken des Papiers, diese Orientierungspunkte politischen Handelns zu berücksichtigen und nicht gegeneinander auszuspielen. Politik sei "die Suche nach dem besten Weg im Wettbewerb der Interessen", erklärt Bundestagspräsident Lammert und meint: "Die Abgeordneten dienen dem Gemeinwohl, verpflichtet durch das Grundgesetz, legitimiert durch die Wähler und geleitet von ihrem Gewissen."
An diesem Punkt macht das Kirchen-Papier auf etwas aufmerksam, was gemeinhin wenig bedacht wird: Das Gemeinwohl habe "eine Zukunftsdimension, die oft gegen die Wählerinnen und Wähler hier und heute geltend gemacht werden muss". Gemeint ist damit etwa die hohe Staatsverschuldung oder mangelnde Einschränkung der Umweltbelastung, die die Kosten des gegenwärtigen Wohlstands und der sozialen Sicherung den nachwachsenden Generationen aufbürdet. Als eine Tugend der Politiker benennen sie demnach den Mut, häufiger und deutlicher "Wahrheiten zu sagen, die nicht gern gehört werden". Das sei vielleicht nicht ohne das Risiko einer Wahlniederlage zu verwirklichen, meinen die Autoren, zu denen auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt und der CDU-Abgeordnete Hermann Gröhe gehören. Aber sie sind überzeugt, dass in unserer Demokratie "bei einer Mehrheit von Bürgern Gemeinwohlbereitschaft durch Argumente zu wecken ist".