Viele haben genug von einem Diskurs über ethische Fragestellungen, in dem mit erhobenem Zeigefinger und moralinsaurer Miene Werte, Gebote und Verbote, Pflichten, Rechte, Sollen, Solidarität und Gerechtigkeit beschworen werden. Moralisten taugen vielleicht noch als exotische Gäste in abendlichen Talkshows, beweisen aber auch, dass diese Terminologie inhaltsleer zu werden droht oder unmerklich längst geworden ist.
Man mag nicht mehr hinhören. Die Wörter sind verschlammt. Auf die immer wieder gestellte Frage, ob wir das, was wir technisch können, auch tun dürfen, scheint als einzige sinnvolle Antwort zu bleiben: Wer sollte es uns verbieten?
Auch wenn die Abwehr gegenüber einer bestimmten Terminologie, mit der über ethische Fragen gesprochen wird, verständlich sein mag, so bleiben die ethischen Probleme, die gelöst werden müssen, bestehen. Fragen, die die Anwendung dessen betreffen, was technisch machbar ist, werden nicht einfach dadurch gelöst, dass man die Sprache kritisiert, mit der über diese Fragen diskutiert wird.
Wie soll man aber noch über Fragen, die zur Ethik gehören, sprechen, wenn das Vokabular ausgehöhlt ist? Wie sich über notwendige Entscheidungsfindung verständigen, wenn die Sprache dafür brüchig geworden ist? Die Marketing-Experten, die "nichts müssen" erfunden haben, fügen noch einen Satz an: "Denk doch mal drüber nach, was dich wirklich glücklich macht." Sie wechseln damit die Perspektive, aus der heraus man sich mit den Fragen der Ethik auseinandersetzen kann. Wie wollen wir eigentlich leben? Was macht uns glücklich? Wie sieht ein gelungenes Leben aus? Die Art und Weise, wie die Frage nach der Ethik formuliert worden ist, wirkt für viele Ohren ungewöhnlich: Im Diskurs über Ethik werden normalerweise andere Fragen gestellt. Fragen, die nicht darauf abzielen, sich über Bedingungen und Kriterien eines gelungenen Lebens zu verständigen, sondern die klären wollen, was erlaubt oder verboten ist, was gesollt ist, was Pflichten und Rechte sind.
Der Slogan mit der Frage nach dem Glück erinnert daran, dass es nicht nur eine Weise gibt, über Ethik zu sprechen. Innerhalb der Philosophie haben sich drei Paradigmen etabliert, innerhalb derer ethische Fragestellungen diskutiert werden. Selbst dann, wenn Experten meinen, ein genauerer Blick zeige, dass es zwischen den Paradigmen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gebe und sich die Paradigmen in vielen Punkten eher ergänzten als gegeneinander stünden, lassen sich doch grob eine Kantische Ethik, eine Utilitaristische, also am Nutzen ausgerichtete Ethik und eine Aristotelische Ethik voneinander unterscheiden.
Der Kernbegriff der Ethik Kants ist der Kategorische Imperativ. Die bekannteste Formulierung ist die Selbstzweckformel mit den charakteristischen Wörtern ,dürfen' und ,müssen': Jeder Mensch darf nie bloß als Mittel, sondern muss immer zugleich als Zweck an sich behandelt werden. Jeder Mensch, so Kant, hat einen Zweck in sich selbst, und dieser Zweck ist begründet durch die Fähigkeit zum guten Willen eines Menschen. Dieser gute Wille gründet in der Vernunftnatur des Menschen und hat einen unbedingten Wert.
Der Wille ist gut, wenn sich ein Mensch in den Leitlinien seines Handelns ausschließlich am Kategorischen Imperativ orientiert. In einer stark popularisierenden und auch der Sache nach verzerrten Version der Ethik Kants könnte man noch hinzufügen: Selbst dann, wenn es ihm von Natur aus widerstrebt, soll er seine Pflicht tun und gemäß dem Kategorischen Imperativ handeln. Die Würde und Autonomie des Menschen besteht genau darin, dass er sich in seinen subjektiven Neigungen ausschließlich an dem Kategorischen Imperativ orientieren kann.
Dass die Ethik Kants, obwohl sie eine Tendenz zum Rigorismus hat, ein nach wie vor wichtiges Paradigma in der ethischen Diskussion in Deutschland ist, hat gute Gründe: Viele Ethiker sind der Auffassung, mit Kant ließen sich die Menschenrechte befriedigender begründen als mit anderen ethischen Paradigmen. Manche sind zudem der Auffassung, das moralische Vokabular Kants treffe tatsächlich das ethische Phänomen, das in Frage steht: Es gebe tatsächlich so etwas wie ein unbedingtes Sollen, das keiner weiteren Begründung fähig sei.
Auf viele ethische Fragen, vor denen wir heute stehen, lassen sich mit einer Kantischen Ethik klare Antworten geben - einmal abgesehen davon, ob wir die Antworten und die Begründungen dafür teilen oder nicht. Wenn man sich von einem Paradigma, das sich an der Ethik Kants orientiert, verabschiedet, dann also nicht, weil die Ethik Kants keine Antwortmöglichkeiten auf drängende ethische Fragen zulässt, sondern weil man die Sprache, in der die Fragen und Antworten formuliert werden, für viele im Grunde unverständlich hält.
Anders Aristoteles. Ein zentraler Begriff in der Aristotelischen Ethik ist der Begriff der "Tugend". Das klingt zwar auch verstaubt. Das griechische Wort, das mit "Tugend" übersetzt wird, meint aber eigentlich "Bestheit". Aristoteles fragt danach, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Mensch sich in seinem bestmöglichen Zustand befindet, und das heißt, ein bestmögliches Leben lebt. Die Grundfrage der Ethik ist nicht mehr die Frage, was ich tun soll, was erlaubt und verboten ist, sondern die Frage, wie ein Mensch ein gelungenes Leben führen kann. Oder, anders formuliert, was für ein Mensch jemand sein möchte und, damit verbunden, in welcher Gesellschaft er leben können will. Es geht dann nicht mehr um die Frage, ob wir alles tun dürfen, was wir technisch können. Es geht darum, ob wir tatsächlich in einer Gesellschaft leben wollen, in der das, was heute und morgen technisch möglich ist, übermorgen praktisch umgesetzt wird.
Die Grundfrage jeder Ethik, was richtig und falsch ist, bleibt bei Aristoteles bestehen. Zentral ist für den zeitlos aktuellen griechischen Denker aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert der Hinweis, dass das Wollen so aufgeklärt wie möglich sein muss, damit das gelungene Leben nicht verfehlt wird. "Denk doch mal drüber nach, was du wirklich willst", sozusagen. Hier gibt es tatsächlich ein Problem.
In dem, was man will, kann man nämlich irren. Das trivialste Beispiel hierfür sind Lottogewinner, die durch ihren Gewinn nicht wie erhofft sorgenlos, sondern unglücklich werden. Man will etwas, weil man meint, das, was man wolle, sei gut für einen und befördere das gelungene Leben. Und wenn man das Erwünschte erreicht hat, stellt man fest, dass man dem, was man wollte - Geld, Macht, Eigennutz -, einen falschen Wert beigemessen hat. Man dachte, man wird glücklich und zufrieden, wird es aber nicht.
Manche unserer Wünsche sind unaufgeklärt, weil sie nicht zu dem erwünschten Ziel, dem gelungenen Leben, führen. Deshalb fordern die Möbelhaus-Lebensberater zu Recht: "Denk doch mal darüber nach, was dich wirklich glücklich macht." Auch aus philosophischer Sicht ist dem nichts hinzuzufügen. Was not tut, ist nachzudenken.
Nachdenken also über das gelungene Leben und über die Fragen, ob die Konsequenzen und Folgen unserer Entscheidungen tatsächlich zum gelungenen Leben beitragen oder nicht. Nachdenken darüber, ob es wünschenswert ist, dass Eltern über das Erbgut ihrer Kinder bestimmen können, und dabei abwägen, ob die Folgen - so attraktiv sie auch zunächst scheinen mögen - bei genauerer Überlegung wirklich wünschenswert sind. Kinder könnten sich beispielsweise mit gutem Recht bei ihren Eltern über das zugeteilte Erbgut beschweren. Macht das Familien auf Dauer - auf die Dauer des Lebens - glücklich? Zum Nachdenken gehört, dass man sich überlegt, ob man selbst wollen würde, dass die eigenen Eltern unser Erbgut mitbestimmt und ausgewählt hätten.
Viel Ethik mit wenig Moralisieren ist also machbar. Indem alle Beteiligten in einer Gesellschaft beispielsweise darüber nachdenken, was dafür und dagegen spricht, sich als Menschen zu verstehen, die Verantwortung für sich, für andere, für die Gesellschaft übernehmen wollen. Nicht, weil sie es gefälligst sollen, sondern weil sie sich als Menschen verstehen und ein Leben führen wollen, in dem sie Verantwortung übernehmen. Eine Verständigung über die Grundlagen einer Gesellschaft wird so möglich, ohne andere an den Pranger zu stellen.
Am Ende kann sogar Einigkeit darüber entstehen, was in der Gesellschaft dringend getan werden muss, was für jeden "Pflicht" ist, damit alle ein gelungenes Leben führen können. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Der Autor ist Rektor der Hochschule für Philosophie in München. Er hat in den vergangenen Jahren vor allem über Platon und Aristoteles geforscht. 2006 erschien sein Buch "Platons Theologie".