Intellektuelle und Stammtischler haben gemeinsam, dass sie Politiker gern moralisch aburteilen. Nun gibt es moralisches Fehlverhalten nicht nur in der Politik. Aber das "garstig Lied" Politik wird öffentlich gesungen. Es klingt dem Spießbürger als ewiger Streit unangenehm im Ohr. Er mag keinen Streit. Aber nach Regeln zu streiten, das ist schon fast die ganze Moral der Politik.
Auch eine intellektuell anspruchsvolle Ethik wird der Politik nicht gerecht, wenn sie "von oben herab" kommt. Die großen Ziele, Friede, Freiheit, Gerechtigkeit, sind unter Demokraten nicht umstritten. Aber die quälende Diskrepanz zwischen den Zielen und der gesellschaftlichen Realität wird gern der Politik zur Last gelegt. Unsere Gegenthese lautet: Diese Diskrepanz macht Politik erst nötig. Friede ist immer gefährdet, Freiheit muss immer geschützt, Gerechtigkeit immer gesucht werden. Die Ziele bleiben ständige Aufgaben, Politik kann keine heile Welt schaffen, muss vielmehr dem Unheil wehren, das jeweils Bessere suchen.
Idealisten meinen, Politik könne oder solle Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit unmittelbar verwirklichen. Politik hat es aber mit dem Konflikt- und Gefahrenpotential menschlicher Gesellschaft zu tun, mit den unvermeidlichen Interessenkonflikten und der Gefahr ihrer gewaltsamen Austragung. Geordnete Konfliktregelung angesichts immer drohender Gewalt ist ihre Aufgabe. Die ethische Grundforderung an Politik lautet, sich dabei an den übergeordneten Zielen zu orientieren. Aber auch diese Orientierung ist nicht konfliktfrei. Die Ziele selbst enthalten Konfliktpotenzial. Sie stehen in Spannung zueinander. Freiheitsverlangen kann Frieden gefährden, Gerechtigkeitsstreben kann Freiheiten einschränken. Die Ziele bedingen zwar einander, aber im Konkreten müssen sie immer neu miteinander vereinbart werden. Zudem werden sie unterschiedlich interpretiert. Politik ist ständig begleitet von dem Streit darüber, was Friedenssicherung, Schutz der Freiheitsrechte, gerechter Ausgleich von Ansprüchen erfordert.
Sind also die Ziele des Politischen schon in sich konfliktträchtig, so begegnen wir auf der Ebene der Mittel einem weiteren Grundkonflikt. Die Mittel, die Politik um ihrer Ziele willen braucht, sind gefährlich; sie können missbraucht werden. Politik ist Machthandeln. Sie bündelt die Interessen Vieler, um sie im Geflecht von Interessen wirksam wahrnehmen zu können. Verbands- und Parteibildung ist unentbehrlich. Der politische Verband schließlich, den wir Staat nennen, setzt verbindliches Recht und muss es äußerstenfalls mit Zwangsgewalt durchsetzen können. Manche Moralisten hätten gern, dass Macht verschwindet. Aber in einer Gesellschaft und Staatenwelt von Interessenten und Konkurrenten gibt es kein Machtvakuum. Wo eine Großgruppe, ein Staat Macht nicht mehr wahrnimmt, verschwindet sie nicht, sondern geht an andere über. Deshalb kommt es ethisch auf verantwortbares Machthandeln an, auf die Kunst der Machtbalance.
Machtgebrauch ordnen, dem Missbrauch wehren, aber auch Wirksamkeit sichern, dazu dienen die in jahrhundertlangen Kämpfen entwickelten Institutionen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Sie sind nicht wertfreie Instrumente, sondern Ausdruck politischer Moral. Ethik der Politik ist zentral Institutionenethik. Deshalb muss die moralische Grundforderung an politische Akteure lauten, die Institutionen zu achten und ihren Sinn möglichst gut zu erfüllen. Daran vor allem müssen die Bürger ihre Politiker messen, negativ wie positiv; dem Missbrauch, dem Regelverstoß wehren, aber auch Erfolg im Sinn der Institutionen einfordern; nämlich friedliche Konfliktregelung in freiheitlicher und sozial ausgleichender Ordnung.
Erst in Verbindung mit politischer Ziel- und Institutionenethik ist es sinnvoll, nach der Ethik politischen Handelns zu fragen. Auch gute Institutionen erfüllen ihren Sinn nicht von selbst. Dieser muss vielmehr von den politischen Akteuren gewollt und möglichst gut realisiert werden. Die dazu erforderlichen Grundtugenden sind die Klugheit (politische Urteilskraft) und die Gerechtigkeit. Letztere gilt seit den Ursprüngen politischer Ethik als die zentrale ethische Forderung an die Regierenden.
Gerechtigkeit muss sich in zwei Dimensionen bewähren. In der konflikthaften Konkurrenz zwischen politischen Verbänden, Parteien, Staaten zeigt sich Gerechtigkeit als die Bereitschaft zu Gegenseitigkeit gemäß der Goldenen Regel. Der Konkurrent oder Gegner soll als Gleicher im Recht respektiert werden. Man soll ihm nicht zumuten, was man selbst nicht zu akzeptieren bereit wäre. Machthandeln, das dem Gegner keine Chance lässt, das ihn demütigen oder gar vernichten will, führt zu Gewalt. Schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse sollte der Mächtigere bedenken, dass sich Machtverhältnisse ändern können. Für die Zivilisierung politischen Streites ist deshalb Gerechtigkeit als Gegenseitigkeit die unentbehrliche moralische Bedingung.
Im Verhältnis der Regierenden zu den Regierten zeigt sich Gerechtigkeit als Bereitschaft, alle Mitglieder des Gemeinwesens an den Gütern der politischen Ordnung teilhaben zu lassen; also an Recht und Frieden sowie an den sozialen und kulturellen Gütern der Gesellschaft. Die pauschale Beschwörung sozialer Gerechtigkeit allerdings in unserer heutigen öffentlichen Diskussion verdeckt, so verständlich sie ist, den Tatbestand, dass der Staat die materiellen und kulturellen Güter der Gesellschaft nicht unmittelbar verteilt; er besitzt sie ja nicht. Vielmehr muss die Politik die Ordnungs- und Verteilungsregeln so gestalten, dass die Kräfte der freien Gesellschaft sich möglichst produktiv entfalten und alle in ihrer Weise teilhaben können. Soziale Gerechtigkeit besteht in einer Balance, im ständigen Ausgleich zum Beispiel zwischen Leistungs-, Bedürfnis- und Chancengerechtigkeit. Auch das, gerade das ist eine konfliktreiche Aufgabe. Aber der Wille zur Balance muss von den politischen Akteuren gefordert werden, übrigens auch von den Bürgern.
Am schwersten tun sich Moralisten mit der Klugheit, weil sie sie mit Verschlagenheit verwechseln. Nun braucht der Politiker tatsächlich angesichts stets wandelbarer Konstellationen ein hohes Maß an taktischem Geschick, an Aufnahme neuer Informationen, an Aufmerksamkeit auf neue Umstände, an Rücksicht auf Widrigkeiten und Opposition. Aber Klugheit verbindet das mit Grundsatztreue. Sie ist nicht Opportunismus, sondern die Fähigkeit, das prinzipiell Gewollte in der Vielfalt der Meinungs- und Machtverhältnisse möglich zu machen. Politische Urteilskraft verliert sich dabei nicht im Alltagsbetrieb, sondern bedenkt Geschichte und Zukunft, verarbeitet Erfahrungen und fragt nach möglichen Entwicklungen. Weder prinzipienloses Taktieren noch prinzipienfeste Gesinnung genügen. Politische Klugheit fragt nach der Verantwortbarkeit der Folgen von Handlungen und Unterlassungen, auch der unerwünschten Nebenfolgen. Politische Ethik ist Verantwortungsethik.
Politik heißt also Streit in Interessen- und Zielkonflikten, Suche nach Kompromissen und nach besseren Lösungen, oft nur nach dem geringeren Übel. Politiker sollten den Mut haben, diesen Streit vor den Bürgern nicht zu verstecken, nicht ihn mit gefälligen moralischen Breitbandvokabeln zuzudecken; vielmehr zu erklären, warum gerade um der hohen Ziele willen gestritten werden muss. Mut zur Wahrhaftigkeit gerade auch in dem, was unpopulär ist, ist gefordert. Der am ehesten zutreffende Tadel der Moralisten ist der, dass es an diesem Mut fehlt.
Ein gut Teil Verantwortung dafür liegt auch bei den Vermittlern von Politik. Die Massenmedien - Betonung auf Masse - erklären den Streit nicht; sie skandalisieren ihn, machen ihn zum Anlass für Empörung oder Verdruss beim Publikum. Deshalb versuchen Politiker, Streit zu vertuschen oder zu verharmlosen. Ein Teufelskreis.
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Eichstätt.