Gesellschaftliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland haben wichtige Konsequenzen für die jeweiligen Debatten über die Bedeutung von Werten und Moral im politischen Prozess und bei politischen Entscheidungen. Der wichtigste Unterschied bezieht sich auf die Rolle der Religion in der amerikanischen Öffentlichkeit und im politischen Leben. In den Vereinigten Staaten bleibt Religion eine wichtige Quelle persönlicher Moralvorstellungen und -vorsätze. Trotz der verfassungsrechtlich verankerten Trennung von Kirche und Staat und Laizismus in weiten Teilen der Bevölkerung stechen Amerikaner unter den hoch entwickelten Ländern wegen ihrer Religiosität weiterhin heraus: Amerika sei zusammen mit Irland und Italien eines der religiöses-ten Länder der Welt, behaupten amerikanische Wissenschaftler.
Die größere Religiosität der Amerikaner findet Ausdruck im Verhalten wie in Überzeugungen: Sechs von zehn Amerikanern sagen, dass ihnen Religion sehr wichtig ist. Eine beträchtliche Mehrheit glaubt an Gott. Vier von zehn Amerikanern behaupten, wöchentlich ein Gotteshaus aufzusuchen. Amerikaner haben außerdem eine überaus positive Sicht auf die Rolle der Religion in der Gesellschaft, weil sie überzeugt sind, dass Religion es einem Individuum ermöglicht, ein besseres Leben zu führen. Religion trägt für sie damit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bei. Religiöse Elemente drücken markant die amerikanische Sichtweise der Welt und ihren Platz darin aus. Viele Amerikaner teilen die kollektive Wahrnehmung der Vereinigten Staaten als eine außergewöhnlichen, "auserwählten" Nation. So sehen Amerikaner keinen Widerspruch zwischen Modernität und Religiosität. Die USA haben sich erneuert, Religion jedoch bleibt vitaler Bestandteil des privaten und öffentlichen Lebens. Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten sind modern, laizistisch und religiös; es gibt keinen wahrgenommenen Widerspruch zwischen diesen drei Attributen und keine Vorbehalte gegenüber Religion im öffentlichen Leben.
Deutschland und die meisten anderen westeuropäischen Länder sind dagegen säkularer geworden - was traditionelle religiöse Überzeugungen ebenso betrifft, wie die Beteiligung an institutionalisierter Religion: Immer weniger Menschen gehen in die Kirche; in Anbetracht einer Geschichte der religiösen Spaltung halten Europäer das Eindringen der Religion in das politische Leben für unklug. Trotz der Existenz gesetzlich anerkannter Kirchen und der Partnerschaft von Kirche und Staat beim Angebot einer religiösen Erziehung in deutschen öffentlichen Schulen sowie anderen sozialen Dienstleistungen scheinen die Deutschen eine Trennung zwischen religiöser und politischer Sprache und Debatte zu bevorzugen. Historische Erfahrung ist für Deutsche wichtiger als Religion, wenn sie über die deutsche Rolle in Europa und der Welt nachdenken.
Bei allen Unterschieden teilen Deutschland und die USA dennoch wichtige Gemeinsamkeiten: Globalisierung und all ihre Folgen - größerer wirtschaftlicher Wettbewerb und geographische Verlagerung, massive Migration und das Eindringen fremder kultureller Einflüsse durch weltweite Kommunikation und Mobilität - erzeugen soziale und wirtschaftlichen Belastungen sowohl in Deutschland als auch den Vereinigten Staaten. Viele Deutsche und Amerikaner fühlen sich wirtschaftlich und sozial verwundbar, da die traditionellen Säulen der Gesellschaft - politische Institutionen, Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, soziale Sicherungssysteme, Gemeindestrukturen und sogar die Familie - bedroht zu sein scheinen und ihnen nicht länger ihre einstige Bedeutung zukommt. Deutsche und Amerikaner sehen sich außerdem mit Problemen religiöser, ethnischer und kultureller Vielfalt konfrontiert. In den Vereinigten Staaten stärkt soziale Unsicherheit populistische und protektionistische Kräfte. In Deutschland und anderen Teilen Europas manifestieren sich die durch die Globalisierung hervorgerufene Unsicherheit und Verletzlichkeit in unterschiedlicher Weise: Opposition zur weiteren Erweiterung der EU, wachsende Sorgen über Immigration und muslimische Minderheiten, Angst vor dem Verlust kultureller Determinanten und Lebensweisen, die die europäischen Gesellschaften geprägt haben. In den Vereinigten Staaten wie in Deutschland konfrontiert uns die Globalisierung mit Entscheidungen darüber, welche Art von Gesellschaft wir sein werden und wie wir mit Vielfalt in der Welt umgehen werden. Diese Entscheidungen werden Werte beinhalten.
Sowohl Deutschland als auch die Vereinigten Staaten kommen in Zukunft kaum umhin, sich der Rolle der Religion in der weltweiten Politik zu stellen. Statt sich stetig in Richtung Säkularisierung zu entwickeln, erlebt ein Großteil der Welt ein Wiederaufleben der Religion und religiösen Einflusses. In Anbetracht der globalen demographischen Trends steigt der Anteil der Weltbevölkerung, der Religion als wichtige Leitlinie annimmt. Weder die Vereinigten Staaten noch Deutschland werden in der Lage sein, sich den Herausforderungen eines globalisierten Islams zu entziehen. Wie der dänische Karikaturenstreit zeigt, überkreuzen sich die innen- und außenpolitischen Dimensionen des westlichen Verhältnisses zum Islam und führen zu unvorhergesehenen Konsequenzen.
Obwohl entscheidende Unterschiede zwischen Deutschland und den USA bestehen, die zur Vorsicht bei der Übertragbarkeit amerikanischer Erfahrungen, mahnen, können einige Lehren übernommen werden. Wertedebatten in pluralistischen Gesellschaften sind von Natur aus entzweiend: Auch wenn die gezielte Einführung von Werten in den politischen Diskurs es Parteien möglicherweise erlaubt, die grundlegende Motivation der Wähler zu erreichen, wirken religiöse Argumentationen umso trennender, als dass Religion absolute und oft unvereinbare oder unversöhnliche Wahrheitsansprüche beinhaltet.
Des Weiteren kann die politische Instrumentalisierung von Werten Gegenbewegungen und Zynismus verstärken: Das amerikanische Beispiel unterstreicht zudem die möglichen Gefahren einer Instrumentalisierung von Werten und Religion zum Zweck des politischen Vorteils. Außerdem legen die amerikanischen Erfahrungen nahe, dass weder die Vereinigten Staaten noch Deutschland in der Lage sein werden, sich ethischen und religiösen Fragestellungen zu entziehen. Die Art, in der sie diesen Themen begegnen, wird sich allerdings unterscheiden: Amerikanische Debatten beziehen typischerweise eine große Bandbreite von zivilgesellschaftlichen Gruppen in einen sehr öffentlichen Austausch ein, während die Deutschen sich lieber auf Expertenkommissionen und politische Führungskräfte verlassen, um einen Weg durch ethisch heikles Gebiet zu finden.
Ungeachtet der gewählten Methode könnte eine verantwortungsvolle Diskussion über ethische Prinzipien und Werte für beide Gesellschaften nutzbringend sein: Werte können nämlich Reformmotor sein. Durch die Formulierung wichtiger ethischer Entscheidungsmöglichkeiten kann die politische Elite wieder eine Verbindung zu den grundlegenden Motivationen und Sorgen ihrer Bürger herstellen. Dies könnte der erste Schritt zum Kampf gegen politische Apathie sein und einen breiteren Konsens zur Unterstützung der schwierigen vor uns liegenden Reformen in Politik und Wirtschaft schmieden.
Wenn Politiker die Bürger daran erinnern, dass ihre fundamentalen Werte auf dem Spiel stehen, können sie die Aufmerksamkeit von kurzfristigen und begrenzten Gewinnen und Verlusten auf ein Gefühl der moralischen Verantwortung und die Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl lenken. Wir müssen verstehen, wann Wertekonflikte involviert sind und wann nicht. Wo sie es sind, kann ein besseres Verständnis der erste Schritt dazu sein, einen Konsens darüber zu finden, wie wir entweder diese Unterschiede auflösen oder mit ihnen leben.
Einen Weg, Auseinandersetzungen mit Werten in der Politik zu vermeiden, gibt es nicht. Werte können eine moralbasierte Richtung für unsere Gesellschaften vorgeben und Identitäten in einer sich verändernden Welt festigen. Wie das amerikanische Beispiel zeigt, bergen Wertedebatten allerdings Gefahren - neue Schismata, Kulturkriege, Zynismus oder den Ausschluss von Minderheitsmeinungen. Die Herausforderung wird für Deutschland und die Vereinigten Staaten darin liegen, die Diskussionen über Werte, Normen, Politik und Identität auf verantwortungsvolle und produktive Weise zu führen.
Die Autorin ist Vizepräsidentin am "Center for Strategic and International Studies" in Washington D. C. Dieser Text ist die Zusammenfassung einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie.