Der Trenchcoat. Wir haben uns sofort darauf geeinigt. Sie solle den Trenchcoat anziehen, damit ich sie am Flughafen gleich erkennen kann. Den Trenchcoat, den sie auch auf dem Cover ihres Buches trägt: Über ihr der Schriftzug "Der Feind an meiner Seite", noch weiter oben das Hammer-und-Zirkel-Symbol der verblichenen DDR, hinter ihr irgendein Eingang vom "Palast der Republik". Und sie: genau in der Mitte. Ellen Thiemann. Im Trenchcoat.
Eine Frau, die um Gerechtigkeit kämpft. Um ihre Gerechtigkeit. Und um Wahrheit. Um ihre Wahrheit. Ellen Thiemann, heute 69, weitaus jünger wirkend, blonde Haare im Farah-Fawcett-Stil, modisch gekleidet, keine 1,70 Meter groß, Ohrringe, dezent geschminkte Lippen, rote Fingernägel, Kajal-Strich unter den Lidern. Eine Dame mit Chic und Ausstrahlung. Sie formuliert druckreif, was nicht verwundert: Schließlich war sie Journalistin. Heute malt sie, hat schon erste Ausstellungen bestückt, manches Bild bereits verkauft. Das alles betrachtend, könnte man meinen, dass Ellen Thiemann in Köln am Rhein ein beschauliches Leben führt, in sich ruhend, mit sich und der Welt im Reinen.
Aber sie ist nicht im Reinen, nicht mit sich, schon gar nicht mit der Welt. Die Welt war ungerecht zu ihr, die Welt ist immer noch ungerecht zu ihr. Zu ihr und ihresgleichen. Zu all denen, die unter der Stasi gelitten haben damals in der DDR und in deren Gefängnissen, die weggesperrt, gefoltert und ihrer Würde beraubt worden sind. Ihnen ist nicht in dem Maße Gerechtigkeit widerfahren im neuen Deutschland, wie Ellen Thiemann das - vergeblich - erwartet hat: Dass nämlich die Schergen von damals, die Folterknechte, die Gefängniswärter, die Spitzel, die staatlichen Schläger, die so genannten Richter und Staatsanwälte - dass all die, die Unrecht getan haben, auch für dieses Unrecht belangt würden.
Den Glauben in den Rechtsstaat, sagt Ellen Thiemann mit blitzenden Augen und zieht dabei die Stirn gefährlich kraus, den habe sie längst verloren. Keiner derer, gegen die sie - damals nach einem Fluchtversuch in der berüchtigten Frauenhaftanstalt Hoheneck in Stollberg inhaftiert - wegen unterschiedlichster Anschuldigungen später Verfahren angestrengt hat, ist aufgrund ihrer Anzeigen je verurteilt worden. Nicht Staatsanwältin, nicht Oberrichter, nicht Gefängnisleitung, nicht Gefängnisarzt und auch nicht der Vernehmer.
Ellen Thiemann versteht, in diesem Punkt, die Welt nicht. Zumindest nicht die Welt der Justiz, die sich stets darauf zurückzieht, nur Unrecht, das auch im Sinne der DDR-Gesetze Unrecht war, ahnden zu können. Ellen Thiemann ist Unrecht widerfahren. Jahrelang. Mehr als sie zunächst wusste. Und vielleicht weiß sie nicht mal bis heute alles.
Denn die DDR-Mächtigen haben Ellen Thiemann gewissermaßen mehrfach abgestraft: nicht nur durch die Haft, sondern auch, weil sie ihren eigenen Ehemann auf sie angesetzt haben - als Spitzel. Einem Mann, dem sie, wie sie sagt, lange vertraut hatte. Mit dem sie gemeinsam in den Westen fliehen wollte. Der aber, als es so weit sein sollte, seltsam verhalten die Vorbereitungen zur Flucht begleitete. Der schließlich einen Brief, der Ellen Thiemanns Tante im Westen die vorübergehende Absage eines Fluchtversuchs mitteilen sollte, nicht in einen Briefkasten steckte, sondern einem Stasi-Mann übergab.
All das hat Ellen Thiemann erst vor zwei Jahren erfahren. Als sie neue Unterlagen bei der Birthler-Behörde durchgearbeitet hatte. Als sie erfuhr, dass ihr Mann, auch er Journalist, über Jahre (selbst noch nach dem Fall der Mauer) Freunde, Kollegen, Sportler, Funktionäre ausgeforscht und angeschwärzt hatte. Und auch die eigene Familie. Dass er viele diese Menschen ins Unglück gestürzt hat. Dass er paktiert hat mit einem System, das von Unterdrückung und Repression lebte und dass er sogar sie, Ellen Thiemann, seine eigene Ehefrau, während der Haftbesuche bespitzelt und regelmäßig darüber Berichte bei seinem Führungsoffizier abgegeben hat.
Ellen Thiemann hat sie gefunden, diese Berichte. Sie war, sagt sie, während des Lesens vor Entsetzen oft der Ohnmacht nahe. Sie habe sich manchmal total überfordert gefühlt. Soviel Dreck muss ein Mensch erstmal verkraften.
Ellen Thiemann hat, seit sie tausende von Stasi-Berichten ihres Ex-Ehemanns gelesen hat - kurz vor ihrem Austausch hatte sich das Paar 1975 scheiden lassen -, eine neue Mission. Damals, nach einigen Jahren Akklimatisation im Westen, hatte sie das Buch "Stell dich mit den Schergen gut" geschrieben - eine Abrechnung mit den Verhältnissen während ihrer Haft. Nun folgte im vergangenen Jahr "Der Feind an meiner Seite", ein detaillierter Bericht über die Spitzelkarriere ihres Ex-Ehemanns. Das ist nun der Brennstoff, der sie durchs Land treibt. Zu Talk-Shows, Lesungen, Interviews.
Sie sagt, sie hasse ihren Mann nicht; das sei er gar nicht wert. Aber sie rechnet gnadenlos mit ihm ab. Und mit dem System, dem er diente. Sie kennt keine Distanz. Sie wird nie Distanz gewinnen können. Sie hat zuviel gelitten, als dass sie das Trauma von Haft und Verrat je überwinden könnte. Sie scheint immer auf dem Sprung, wenn es gilt, das Unrecht von damals zu brandmarken, die Macht der Diktatoren zu beschreiben, die Ohnmacht der Menschen zu beklagen. Sie hat Schreckliches erlebt und scheint diesen Teufelskreis von Erfahrungen nicht verlassen zu können.
Ich frage: "Alles Schlechte hat auch immer eine gute Seite, sagt ein Sprichwort. Können Sie der Zeit der Flucht, der Haft und der Bespitzelungen trotz allem irgendwas Positives abgewinnen?"
Ellen Thiemann schaut mich mit weit aufgerissenen Augen schier fassungslos an. Als wolle sie mir bedeuten, diese Frage zu stellen sei eine veritable Unverschämtheit. "Was Positives?", zischt sie aus verkniffenen Lippen. "Neeeeiiiiiiiiin! Nie! Was kann denn da-ran positiv gewesen sein?" Welch eine Vergangenheit! Kein freundliches Wort ist ihr in Erinnerung, keine nette Geste, kein bisschen selbstlose Hilfe. Nichts, was auch nur im Entferntesten für sie mit dem Prädikat "Positiv" besetzt sein könnte.
Dagegen: Selbstmordgedanken. Die habe sie gehabt in der Haft, immer wieder; und allein der Wunsch, den damals zwölfjährigen Sohn wieder zu sehen, habe sie am Leben gehalten.
Und dann spricht sie über ihre Ängste, über die Gewalt der Oberen, über die Macht der Stasi-Leute, die auch heute noch in diesem - neuen - Staat nicht ausgeschaltet seien; darüber, dass sie beim Mielke-Prozess als Zuschauerin war und mitten zwischen den alten Seilschaften gesessen habe; dass sie beim Rausgehen über eine Wendeltreppe gefürchtet habe, von einem der Stasi-Leute durch einen einhändigen Killergriff in den Nacken getötet zu werden; dass der geflüchtete Fußballspieler Lutz Eigendorf - im DDR-Jargon: Verräter Eigendorf! - damals in Braunschweig nicht einfach bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sondern durch ein Stasi-Kommando ermordet worden sei - "Ich sage eindeutig: Das war Mord!", wiederholt sie, obwohl es gerichtsfeste Beweise dafür nicht gibt, sondern nur Vermutungen.
Und die Menschen, die um sie herum sitzen und ihr zuhören, legen die Stirn in Falten und schauen verwundert ob des Furors, den diese kleine Frau entfacht, und mancher fragt sich, ob sie nicht doch ein bisschen unter Verfolgungswahn leide.
Sie dagegen, Ellen Thiemann, Kämpferin für Recht und Gerechtigkeit und Widerstandleistende gegen das Vergessen, brandmarkt anderthalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung jene, die sich ihrer Meinung nach schicklich eingeschlichen haben in die schöne neue Welt, Kommunisten und Spitzel von damals, heute gesellschaftlich akzeptiert, und sie donnert vier Decknamen von Gregor Gysi in den Saal, unter denen er für die Stasi gearbeitet haben soll, nennt im gleichen Atemzug den früheren Ministerpräsidenten Stolpe und hat auch den Fußballtrainer Hans Meyer im Visier, der "16 Jahre lang zuverlässig und objektiv" der Staatssicherheit zu Diensten gewesen sei.
"Zum Kotzen", sagt sie, "das ist doch zum Kotzen!" Nein, diese Frau will sich nicht beruhigen. Sie will sich aufregen. Auch über die Gleichgültigkeit, die in Sachen DDR-Unrecht das Land wie ein flauschiges Wolkenfeld überzieht. Das will sie vertreiben, mit ihren wenigen Mitteln. Mit ihrer Sprache. Mit ihren Büchern. Sie will sich wehren gegen die Abwiegler, die heute sagen, es sei so schlimm doch alles nicht gewesen. Gegen die Verklärer, die die Ostalgie der Fernsehshows propagieren, als sei das Leben in der DDR nichts als ein bisschen Operette mit ein paar manchmal schrägen Tönen gewesen.
Sie will aufrütteln, und sie will wach halten. Ihre Erfahrungen mit der DDR-Gesellschaft - sie lassen gar keine andere Reaktion zu. Ellen Thiemann, 69, hat eine Mission. Wahrscheinlich bis ans Ende ihres Daseins. Sie kämpft gegen das Böse. Egal, was die Gesellschaft davon hält.