Eigentlich wollen alle nur das eine: das gute Leben. Bloß: Wie kommt man dran? Wie machen das die Leute in den Büchern? Faust zum Beispiel. Was will der, und wie glaubt er es zu erreichen? Und sind alle Mittel angemessen, mit denen er sich strebend bemüht? Selbst wenn man diese Fragen zu beantworten versucht, kann man daraus nur schwerlich Schlüsse ziehen, ob Faust nun gut gehandelt hat oder nicht und was einem das für eigene Handlungsentscheidungen bringt. Immerhin hat dieser Studierstuben-Langweiler im Duett mit dem Teufel mehr erlebt, als er ohne ihn sich hätte ausmalen können. Und erlöst wird er am Ende auch.
Viele Erfahrungen möchte man im so genannten wirklichen Leben gar nicht machen. Aber wenn man mit Raskolnikow in Dostojewkijs "Verbrechen und Strafe" einer alten Frau den Kopf mit einem Beil zerschlägt, ist kaum vorstellbar, dass diese literarisch vermittelte Erfahrung im Leben des Lesers keine Spuren hinterlässt. Also ein Beitrag zur moralischen Erziehung?
Ethik als philosophische Disziplin fragt nach der Begründung der Moral. Das ist etwas anderes als Literatur, die auch mit Moral zu tun hat, Handlungsmöglichkeiten durchspielt und manchmal auch hinterfragt - aber keine Wissenschaft ist. In der Lehr- und Exempeldichtung, beispielsweise in Fabeln, bekommen Leser und Zuhörer deutlich mitgeteilt, was sie aus einer Geschichte zu lernen haben. Doch zu eindeutige moralische Aussagen verderben das Lesevergnügen. Wer wollte schon einen Text lesen, der den Untertitel "Ein ethischer Roman" trägt? Auf die Fragen, wer wieso wie handeln soll, kann die Literatur keine allgemeinen Antworten geben, noch am ehesten versucht das vielleicht die Trivialliteratur. Interessant sind die subtileren Varianten, die um so wirkungsvoller zu sein scheinen.
Es ist einen Versuch wert, Literatur als Schnittstelle von Ethik und Leben zu betrachten. Vielleicht kann sie vermitteln zwischen den Fragen, die sich im Leben stellen, und den Gründen, um die sich die Ethik bemüht. Bei solchen Grenzgängen ist Vorsicht geboten. Wenn man sich mit dem Verhältnis von Dichtung und Philosophie beschäftigt, liegt die Gefahr nahe, ins Poetisch-Diffuse zu fliehen, um sich nicht den Mühen begrifflicher Arbeit aussetzen zu müssen. Es bleibt eine anregende Schwierigkeit, die Selbstständigkeit von Literatur und Ethik anzuerkennen und dennoch die vielfältigen wechselseitigen Bezüge und Verschränkungen zu sehen.
Die Fragen nach dem guten Leben, nach dem richtigen Handeln stellen sich im Leben und werden in der Literatur nicht beantwortet - aber anschaulich dargestellt und zugespitzt. Die Literatur ist nicht die brave Magd der Ethik, die all jenen, die sich nicht philosophisch mit ethischen Fragen auseinandersetzen wollen oder können, Reflexions-Spielplätze zur Verfügung stellt und damit die Einsicht in die Prinzipien guten Handelns fördert. Möglicherweise ist es das Zweckfreie, das Vorläufige, das nicht Verallgemeinerbare am literarischen Spiel, das der Leser als angemessener empfindet als die Gründe und Antworten der Wissenschaft. Lesen ist ein Miterleben, das gefahrlos scheint, aber nicht ganz folgenlos ist.
Man sieht zu und erlebt mit, wie sich Entscheidungen auswirken, wie sich Helden verrennen und Nicht-Helden glücklich werden. Und das alles ist möglich vom eigenen Bett aus, mit warmen Füßen, und wenn es zu schrecklich wird, legt man das Buch einfach weg. Lesend begegnet man Vorbildern im Handeln und abschreckenden Gestalten, verzweifelt Strebenden, fröhlich Scheiternden. Diese Begegnungen verändern und erweitern das moralische Empfinden. Leseerlebnisse und literarische Muster prägen das Fühlen, Denken, Handeln und Sprechen, sie können ein Gefühl für Zusammenhänge vermitteln und dazu führen, mehr oder weniger reflektiert das eigene Selbst- und Weltbild zu überprüfen. So also könnte der Zusammenhang von Literatur und Ethik aussehen. Aber was verbindet eigentlich Literatur und Leben?
Ein Text ist ein Text, und ein Leben ist ein Leben. Doch literarische Geschichten und menschliche Leben sind einander ähnlich; möglicherweise sind Leben und Geschichten nur in gegenseitiger Wechselwirkung bedeutsam. Der französische Philosoph Paul Ricœur versucht, dieses Verhältnis zu ergründen. Dabei geht es ihm um das Entstehen und Verstehen von erzählten Geschichten. Für Ricœur ist das Verhältnis von Leben und Geschichten zirkelartig, und diese Kreisbewegung verläuft nicht zweidimensional, sondern in Form einer Spirale: Weil die Wirklichkeit Ansätze und Anreize zum Erzählen enthält, werden Geschichten zum besseren Verständnis der Wirklichkeit erzählt. Diese Geschichten wiederum verändern die Wirklichkeit.
Auf die Ethik bezogen könnte das bedeuten: Fragen nach dem gelungenen Leben, nach dem rechten Handeln stellen sich im Leben. In der Literatur werden sie aufgegriffen, verdichtet, spielerisch dargestellt oder verschleiert. Der Leser nimmt das, was er in der Literatur erlebt, mit in sein Leben. Leseerlebnisse schulen auch das differenziertere Sprechen über diese Fragen, und der präzisere Ausdruck schärft das Denken und vertieft das Empfinden. Dieses bessere Selbst- und Weltverständnis macht aus dem Leser nicht notwendig einen besseren Menschen, der in jeder moralisch relevanten Situation nach einem literarischen Muster handelt. Aber der Umgang mit Literatur kann helfen, das eigene Handeln besser zu verstehen, sich über Ziele und Gründe ein bisschen klarer zu werden.
Wenn die Literatur mit Fragen zu tun hat, die sich im Leben stellen, und wenn Literatur wiederum auf das Leben des Lesenden wirkt, steht die Literatur vermittelnd zwischen den Fragen der Ethik und dem weiten Feld des Lebens, in dem sich ein moralisches Orientierungsvermögen bewähren muss. Im Kreis von Literatur und Leben durchlaufen ethische Fragen den literarischen Erfahrungsraum. Literatur kann ein Medium des Nachdenkens über Fragen der Ethik sein, vor aller Philosophie. Dieser nicht-wissenschaftliche Zugang zu den Fragen nach dem rechten Handeln oder dem gelungenen Leben ist jedem Lesenden möglich. Die Literatur ist auch nachphilosophisch reizvoll: Durch die Auseinandersetzung mit philosophischen Texten für ethische Fragen sensibilisiert, lassen sich in der Literatur unzählige Anknüpfungspunkte finden, Fragen zu präzisieren, Schlüsse daraus zu ziehen und vor allem neue Fragen zu stellen.
So nahe liegend es ist, dass sich Literatur nicht auf die Illustration ethischer Probleme reduzieren lässt, so schwierig ist es, die Möglichkeiten literarischen Erlebens zu fassen. Es ist schon zu viel gesagt, wenn man von Modellen in der Literatur spricht. Paul Ricœur hat die Literatur einmal als "weitläufiges Laboratorium für Gedankenexperimente" bezeichnet. Es ist sehr weitläufig und kein Ort der Wissenschaft, sondern ein Laboratorium, das vielen zugänglich ist. Man muss nicht einmal wissen, dass man drin ist. Das Ethik-Labor hat weniger Eingänge. Das ist keine Wertung; der literarische Einzelfall ist nicht besser als die Versuche allgemeiner Aussagen in der Ethik. Weder Leser noch Autor müssen sich im Klaren sein, welche ethischen Fragen sich in den Geschichten finden, ob ihre Helden nun tugendhaft sind oder was sie sich unter einem gelungenen Leben vorstellen. Lesende sind moralisch nicht unbedingt besser, aber vielleicht sensibler.
Es muss nicht ein Ungenügen an der Theorie sein, das einen in die Welt der Bücher fliehen lässt, in diese Welt, in der es mehr Fragen gibt als Antworten. Man kann das eine tun und das andere nicht lassen, und vielleicht ist beides gar nicht zu trennen. Was nicht dagegen spricht, es in einem halbtheoretischen Text wie diesem zu unterscheiden.
Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Ehe und Familie in der Gesellschaft, Eichstätt.