14 Kilometer trennen die jungen Marokkaner in Tanger vom Ort ihrer Sehnsucht. Wenn sie im Cafe Hafa sitzen, kiffend, vor sich einen Minzetee und eine Schale Oliven, blicken sie über das azurblaue Meer auf die Lichter von Tarifa, drüben auf der spanischen Seite. Am Horizont gleiten die Fähren wie Sahnetorten über die Meerenge von Gibraltar. Die Überfahrt dauert nur 45 Minuten - Spanien, Europa, der Traum von einem besseren Leben, das alles ist hier nur einen Sprung entfernt.
"Partir" heißt Tahar Ben Jellouns neuestes Buch im französischen Original. Das bedeutet Weggehen, Abhauen, etwas hinter sich lassen. Ein Gedanke, von dem auch Azel, Kenza und die anderen jungen Marokkaner im Buch befallen sind wie von einem Virus. Das Auswandern ist ihnen zur fixen Idee geworden, für die sie bereit sind, alles zu riskieren. Windige Schlepper warten deshalb Nacht für Nacht unten am Hafen und pferchen Dutzende Hoffnungsvolle in schmale Boote, um sie nach Europa zu bringen. Azels Vetter Noureddine ist wie Unzählige andere auf einer solchen Überfahrt ertrunken.
Azel selbst hat in Rabat sogar ein Studium abgeschlossen, doch eine Perspektive hat er in Marokko nicht. Er folgt dem schwulen spanischen Galeristen Miguel nach Barcelona. "Ich breche auf zu anderen Orten, mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche, endlich werde ich meinen Lebensunterhalt verdienen", schreibt er euphorisch in einem Abschiedsbrief an die "geliebte Heimat". Doch er, der die Frauen so liebt, muss dafür Miguels Liebhaber werden. Ein Zugeständnis an die erhoffte Freiheit, an dem Azel bald zu zerbrechen droht.
Der Titel der deutschen Übersetzung, "Verlassen", trifft das Thema dieses wunderbaren, nachdenklichen Romans daher in seiner Zweideutigkeit noch besser. Seine Heimat verlassen und sich verlassen fühlen - das sind die Pole, zwischen denen sich viele Flüchtlinge bewegen, wenn sie den Weg nach Europa geschafft haben. Azel irrt schon kurz nach seiner Ankunft wie ein Fieberkranker durch die Gassen Barcelonas. Er leidet unter der Beziehung zu Miguel, die seine Würde verletzt, er hadert mit seiner Sexualität. In der Fremde fehlt ihm seine Mutter, seine Freundin Siham, die Einsamkeit macht ihn depressiv. Erstaunt muss er feststellen, dass es in den Einwanderervierteln kaum anders zugeht, als in seiner Heimat: Die Gestrandeten halten sich mit kleinen und großen Deals über Wasser, Marokkaner lungern auf der Straße herum wie im Grand Socco in Tanger, sie verkaufen gebrauchte Telefone und gefälschte Uhren und mittendrin stehen afrikanische Prostituierte und warten auf Kunden. Die vielen Illegalen haben keine Arbeit und keine Aufenthaltgenehmigung, von ihrer Verfügbarkeit profitieren vor allem die vielen Tanzlokale und spanische Lebemänner auf der Suche nach schnellem, exotischen Sex.
Das also soll das Paradies Europa sein - Azel wird schnell klar, dass er die Hölle seiner Heimat nur gegen eine andere, viel fremdere Hölle eingetauscht hat.
Die vielen Flüchtlinge, die sich auch jetzt irgendwo in Afrika auf den Weg nach Norden machen, könnte wohl selbst die Ahnung von dieser bitteren Realität kaum von ihrer Flucht abhalten. Im Gegenteil, ihre Zahl wächst weiter an, über 20.000 Flüchtlinge sind allein im letzten Jahr an den Küsten der kanarischen Inseln gestrandet. Fast 2.000, so schätzen private Hilfsorganisationen, sind beim Versuch, über die See nach Europa zu kommen, ertrunken. "Sie wissen natürlich", sagte Tahar Ben Jelloun kürzlich in einem ARD-Fernsehinterview, "dass Europa kein Paradies ist und nicht auf sie wartet. Sie wissen, dass manche enttäuscht zurückgekehrt sind. Aber die Verzweiflung vernebelt ihre Wahrnehmung."
Auch der Autor hat seine Heimat Marokko früh verlassen, nachdem er wegen regimekritischer Texte mit der Zwangsrekrutierung in ein Militärlager bestraft wurde. Heute lebt er in Paris und setzt sich in seinen Büchern und Texten immer wieder mit der Situation der nordafrikanischen Migranten in Frankreich auseinander. In "Verlassen" bekommen die Namenlosen ein Gesicht, ihre Schicksale lassen einen am Ende so traurig wie ratlos zurück. "Wenn in meinem Roman der Versuch, die Heimat zu verlassen, nicht gut ausgeht", sagte Ben Jelloun im gleichen Interview, "dann ist das eine literarische Form, die Öffentlichkeit wachzurütteln und ihr zu zeigen: Diese Leute kommen nicht hierher, um euch das Brot wegzuessen oder den Job zu klauen. Diese Leute sind in einer absolut unerträglichen Situation."
Tahar Ben Jelloun, Verlassen. Roman, Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2006; 265 S., 19,90 Euro.