Im ukrainischen Fernsehen war im Herbst 2006 in einer äußerst populären Sendereihe über Korruption eine aufschlussreiche Einspielung zu sehen. Es ging um den Bau einer neuen Schutzummantelung, des so genannten Sarkophags, für den berühmt-berüchtigten Reaktor 4 des 1986 explodierten Atomkraftwerks Tschernobyl - um eben jene Schutzhülle, die mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bis 2007 fertig gestellt sein soll. Doch wann sie tatsächlich und ob sie überhaupt einmal fertig wird, ist bis heute unklar. Auf dem Fernsehschirm diskutierten drei dem Äußeren nach westeuropäische Geschäftsleute (nicht etwa irgendwelche Mafiosi) im Büro des Direktors des Atomkraftwerks Tschernobyl. Sie sprachen mit unterschiedlichem Akzent Russisch. Das ist kein Wunder, denn in der Ukraine sprechen alle, selbst die dort geborenen Russen, Russisch mit Akzent. Der Ausländer unter den dreien ließ sich problemlos identifizieren: der Vertreter einer deutschen Dienstleistungsgruppe für die Nuklearindustrie. Er machte seinen ukrainischen Kollegen einen Vorschlag, wie man den Kostenplan zum Bau eines Werkes für die Entsorgung radioaktiver Abfälle erstellt und bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung dafür 20 Millionen Euro beantragt, von denen er 500 000 direkt auf die Konten seiner Gesprächspartner zu überweisen versprach. 1
Der Deutsche raschelte mit den Papieren, erklärte das Prozedere, nannte Zahlen. Die Ukrainer stöhnten erschrocken: "Oh Gott!". Die Szene wirkte fast biblisch: das uralte Thema der Versuchung der kleinen Dämonen. Es war schade, dass die Einspielung abbrach (das Gangsterstück gelang nicht, irgendetwas lief bei der deutschen Firma schief); der Direktor des Atomkraftwerks (der in der Einspielung gestöhnt und geächzt hatte) bestätigte, wenn auch sichtbar nervös im weiteren Verlauf der Sendung: "Ja, es gab eine solche Unterredung." Dagegen lehnte in einer anderen Einspielung der Leiter des Büros der Europäischen Kommission in der Ukraine jegliches Interview zu EU-Verstrickungen in dieser Korruptionsaffäre ab. Er wirkte auf dem Fernsehschirm sehr eindrucksvoll: rasantes Auftreten, hageres, intelligentes Gesicht, zusammengekniffene Augen, ironisch, der Anflug eines verächtlichen Lächelns - man wurde unwillkürlich an die Kardinäle auf Bildern El Grecos erinnert-, und quasi aus dem Mundwinkel: - No comments. - No comments?, fragte der Journalist irritiert nach. - No comments, bestätigte der Europäische Kommissionsleiter und lächelte, eine Machtdemonstration, ein Triumph der Gleichgültigkeit.
Wer sind wir denn, dass er uns eine Antwort schuldig wäre? Oder gar, und das klingt vermessen, eine Rechtfertigung? Offen gestanden, als Schriftstellerin erfreute mich dieser Vorfall, erschien er mir doch wie eine Kopie einer Szene in meinem neuen Roman, dessen Heldin eine Journalistin ist und all jenes erlebt, was noch nicht völlig abgestumpfte Vertreter ihres Metiers in einer Welt erleben, die von verantwortungslosen Machtmenschen beherrscht wird.
Es gibt freilich ein "Aber". In psychologischer Hinsicht wird die Verantwortungslosigkeit der Regierenden in der Ukraine vor allem als nationales Problem angesehen, als Erblast der Sowjetvergangenheit und als Kinderkrankheit einer noch jungen Demokratie. Deshalb waren die ukrainischen Zuschauer äußerst verstört von der Enthüllung, dass sich auch innerhalb der Grenzen der Schengen-Staaten die Vertreter gewachsener und reifer europäischer Demokratien zuweilen so wie unsere ukrainischen Mafiosi verhalten. Was der Moderator der Sendung mit kindlicher Beleidigung in der Stimme so kommentierte: Die Korruption in der Ukraine ist wirklich eine üble Sache, doch die Korruption in der EU, ja, das ist natürlich etwas ganz anderes. Oder?
Das Ausmaß der Enttäuschung lässt sich nur begreifen, wenn man weiß, welch breiten Raum der "Mythos Europa" im ukrainischen Bewusstsein einnimmt. Er spielte nirgendwo sonst in Europa eine solch gewichtige Rolle bei der Herausbildung nationaler Identität - abgesehen vielleicht vom Balkan, der in dieser Hinsicht keine zufällige Parallele darstellt. In der Geschichte der Ukraine wie auch der Balkanländer war die Bedrohung durch das Osmanische Reich stets latent. Mitte des 17.Jahrhunderts war die Ukraine aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen an zwei Fronten - gegen die Türken und gegen die Polen - gezwungen, ein militärisches Bündnis mit dem Moskauer Großfürstentum einzugehen, in dessen Folge sich die Ukraine wenigstens den erhofften Zugang zum Meer sicherte. Doch der Preis dafür war hoch - zu hoch, wie sich herausstellte: Die Anfänge einer konstitutionellen Entwicklung in der Ukraine wurden im Keim erstickt, und Ende des 18. Jahrhunderts verlor die Ukraine auch ihre politische Autonomie.
Mit Ausnahme der westlichen Gebiete war die Ukraine in den folgenden beiden Jahrhunderten Teil des russischen Imperiums, an dessen organisatorischer Herausbildung sich Ukrainer wesentlich beteiligten (die Idee der"Bildungsmission Kiews" im Russischen Reich wurde von den ukrainischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts getragen - ein schwacher Widerhall findet sich noch beim russisch schreibenden Ukrainer Nikolai Gogol). Die "Mission" wurde beendet und die Ukraine zur kolonialen Provinz Russlands, ein Reservoir an menschlichen und natürlichen Ressourcen. Durch die ukrainische nationale Wiedergeburt im 19. und 20. Jahrhundert zog sich als roter Faden "die Rückkehr nach Europa als eine Rückkehr zu sich selbst". Das heißt: Rückkehr zu einer seinerzeit nicht realisierten Verfassung, zu den vom russischen Imperium verwehrten "Rechten und Freiheiten des dritten Standes", zu einer gewählten Regierung, zu all dem, was im Industriezeitalter nur als "Mythos" überlebte, vor allem eine Rückkehr zum Gefühl, dass "wir einst freie Kosaken waren" (die Zaporoger Kosaken des Dnipro, die sich im 16. Jahrhundert als östlicher Vorposten des Malteserordens gegen das Osmanische Reich gegründet hatten, spielen für das kulturelle Selbstverständnis der Ukrainer eine wohl bedeutendere Rolle als das mittelalterliche Rittertum für das der Westeuropäer).
So verkörpert der Mythos "Europa" in der Vorstellung eines Ukrainers der Gegenwart (gleichgültig, ob er schon einmal in Mittel- oder Westeuropa war) nach wie vor das "verlorene Paradies", einen Ort, an dem Gerechtigkeit und Wohlstand herrschen und vor allem die Menschenrechte geachtet werden: Liberté, egalité, fraternité wehen als unsichtbare Banner im Wind. Wir Ukrainer wurden einst aus diesem Paradies vertrieben, doch nun wollen wir wie unsere Nachbarn, die Polen und die Balten, heimkehren. So oder ganz ähnlich würden es ein Kiewer Geschäftsmann, ein Student aus dem Donbass, ein Lemberger Taxifahrer und ein Hafenarbeiter aus Odessa ausdrücken.
Auch deshalb riefen bei mir westliche Kommentare, in denen die "Orangene Revolution" als Ergebnis unserer gerade erst erwachten "prowestlichen Orientierung" gesehen wurde, immer ein mildes Lächeln hervor. Ich bin mir 120-prozentig sicher, dass die "Orientierung" der Millionen von Menschen, die im November 2004 auf die Straßen gingen und gerechte Wahlen forderten, rein ukrainisch war - an den Westen dachten wir in jenem Herbst nicht mehr als der Westen an uns. Dabei stellte sich heraus, dass die Werte, für die die Menschen - ohne Übertreibung gesagt - bereit waren, ihr Leben einzusetzen, nämlich "Freiheit" und "Gleichheit aller vor dem Gesetz" sowie das Recht, über die Zukunft der Heimat zu bestimmen, dass diese Werte "zufällig" mit den grundlegenden Werten der etablierten europäischen Demokratien übereinstimmten. Unsere intellektuellen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts, die trotz Gefängnis und Gulag unbeirrt auf die Zugehörigkeit der Ukraine zur europäischen Kulturlandschaft beharrten, sind also durchaus lebendig.
Ich bin nicht so naiv zu glauben, dies sei ein ausreichender Grund für einen raschen EU-Beitritt der Ukraine. Außerdem bewegt mich eine ganz andere Frage: Inwieweit beschränkt sich die heutige EU nicht nur auf die Grenzziehungen von Schengen, sondern gewährleistet für jene kulturelle Landschaft ein zuverlässiges politisches Klima, die auch meine geistige Sphäre darstellt? Vielleicht ist es ja am Ende ganz gut, wenn die Ukraine erst "reift", um alle geforderten Standards dereuropäischen Mitgliedschaft zu erfüllen, und eventuell wird sich währenddessen herausstellen, dass der europäische Mythos nur in der romantischen Vorstellung europäischer Provinzler existiert und man weder in Rom (das Recht) noch in Canossa (die Moral) oder in Paris (liberté, egalité, fraternité! jawohl!) ernsthaft an Rom, Canossa oder Paris glaubt. Vielleicht wird sich zeigen, dass die europäische kulturelle Identität schon längst von einer Armee zynischer Politiker und Geschäftsleute zertrampelt worden ist, die Europa übersichtlich und bequem aufteilen in einen Salon, in dem man laut gemeinsamer Verordnung alle Knöpfe geschlossen haben muss, und in ein Vorzimmer, in dem man sich ungeniert gehen lassen kann und all das erlaubt ist, was im Salon verpönt ist, etwa die eigenen Grundsätze ganz schnell vergessen und den Einheimischen vorschlagen: Klauen wir unseren Steuerzahlern ein paar Millionen, ihr bekommt natürlich auch ein Stückchen vom Kuchen, aber eins dürft ihr nie vergessen: Korrupt seid ihr hier im Vorzimmer, bei uns im Salon gilt es als unanständig, dieses Wort auch nur auszusprechen.
Mit anderen Worten: Ist die Kultur in Europa überhaupt noch in der Lage, einen positiven Einfluss auf politische Realitäten auszuüben? Ich habe den dringenden Verdacht, dass mit der Beantwortung dieser Frage mehr oder weniger auch die Zukunft der Demokratie im 21. Jahrhundert abhängt, und dies geht die "reifen" und "jungen" Demokratien gleichermaßen an. Geschlossene Gesellschaften lassen sich in der heutigen Welt nicht mehr etablieren.
In der Ukraine schlagen sich europäische Unglücksfälle ungewöhnlich intensiv nieder - wie eine grelle Ölfarbe auf einer blassen Pastellskizze. Es ist bemerkenswert, wenn gerade mal gut zwei Jahre nach der Orangenen Revolution (die, ich wiederhole es gerne, in erster Linie ein kulturelles Phänomen war, eine Bewegung moralischen Protests, ein Kampf um Werte) die ukrainische Politelite vor den Augen der fassungslosen Gesellschaft mit derLeichtigkeit eines Jahrmarktgauklers alle "orangenen" Werte verschwinden lässt. Diese Groteske à la Gogol sticht natürlich ins Auge. Das Pastell dagegen ist dezenter, subtiler, man kann es, wenn man möchte, auch übersehen. Schauen wir uns zum Beispiel den EU-Russland-Gipfel an, der im Oktober 2006 in Finnland stattfand. An diesen Tagen wurden in Russland ungeniert Georgier nur deshalb deportiert, weil sie Georgier sind, die Miliz hielt auf der Straße verdächtige dunkelhäutige und farbige Menschen an, und in der Folge wurden diese "Verdächtigen" dann - angestachelt durch die Behörden - von russischen Ultranationalisten straffrei in finsteren Ecken verprügelt.
Währenddessen erklärte im finnischen Lahti der Präsident jenes Landes, das vor über 200 Jahren Europa die erste Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte schenkte (ich hoffe doch, dass dieses Dokument noch zum Bestand des europäischen Wertekanons gehört?), dass man die Frage der Menschenrechte nicht mit Angelegenheiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vermischensolle. In der Übersetzung aus dem Pastell der Diplomatensprache heißt das wohl: die Frage russischer Gaslieferungen nicht mit dem russischen Rechtsradikalismus zu vermischen. Ihren Rechtsradikalismus können die Russen behalten, das Gas nehmen wir. Schon gut, ich werde nicht weiter der Werte liberté, egalité, fraternité gedenken, aber sollte die Zwischenkriegszeit Europas, an die sich noch genügend Zeitzeugen erinnern, die europäische Politik nicht gelehrt haben, dass es keine "ausländischen" Faschismen gibt? Dass der heute gnädigerweise so genannte, als "innere Angelegenheit" tolerierte Faschismus morgen mit Springerstiefeln gegen die eigene Tür treten wird? Oder, entsprechend dem technischen Fortschritt im 21. Jahrhundert, neben dir mit radioaktiven Polonium im Gepäck im Flugzeug sitzen wird?
Das historische Gedächtnis bildet den Kern der Kultur, und wenn es verloren geht, dann geht auch die Fähigkeit verloren, Zukunftsperspektiven einzuschätzen, überhaupt die längerfristigen Folgen seiner Unternehmungen zu bedenken. An dieser Stelle ist es angebracht, an eine andere höchst interessante Geschichte zu erinnern, die freilich nicht mehr in Öl, sondern mit fettem, immer noch dampfendem Blut gemalt ist: 1933 war das Jahr des Genozids am ukrainischen Volk (Holodomor), als einer der fruchtbarsten Böden Europas mit Millionen von toten Bauern übersät war und das von diesen Bauern mit Waffengewalt erpresste Getreide zu Dumpingpreisen auf denWeltmarkt geworfen wurde. Unter den Hauptaufkäufern dieses "seltsamerweise" so billigen (nach Schätzungen von Historikern etwa zwei Menschenleben pro Tonne) Sowjetweizens war Hitlerdeutschland. Franzosen und Briten saßen als Gäste von Stalin beim Dinner im Kreml und schrieben anschließend für ihre Zeitungen, dass von einer Hungersnot in der Ukraine keine Rede sein könne. Währenddessen wuchs und gedieh in Frankreichs undGroßbritanniens unmittelbarer Nachbarschaft ein Regime, dass bald darauf versuchen sollte, ganz Europa in ein Konzentrationslager zu verwandeln, noch schrecklicher als jene bereits existierenden Sowjetlager. Diese Geschichte ist ein eigentlich überflüssiger Hinweis darauf, wie gefährlich es sein kann, die kurzfristigen Vorteile wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Fragen der Menschenrechte nicht "zu mischen".
Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sollten uns gelehrt haben, dass es, unabhängig davon, wo gestern noch die Berliner Mauer stand und heute die Grenze der Schengen-Zone verläuft, nur eine europäische Geschichte gibt, die tief in ihrem Inneren durch einen Leichenzug miteinander verbunden ist, von dem wir häufig nicht einmal etwas ahnen (und uns nur dann wundern, wenn Teile davon sichtbar werden). Mit der Geschichte ist es so wie mit dem Strafgesetzbuch: Unwissenheit befreit nicht von Verantwortung. Jedes Mal, wenn Freunde im Westen, häufig Schriftsteller und Journalisten, auf noch vergrabene Leichen im eigenen Keller und auf die Folgen erst heute enthüllter, schwarz-weiß gemalter Halbwahrheiten und verschwiegener Lügen aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Kalten Krieges anspielen, entgegne ich: "Welcome to Ukraine!"
Ja wirklich, wir als "Vorzimmer", oder, besser gesagt, als zweihundertjähriger "Keller" Europas (dessen Existenz Europa im 20. Jahrhundert total ignorierte und deshalb auch völlig überrumpelt war, als wir plötzlich wieder auf der Landkarte auftauchten), haben ein ganzes Arsenal vergrabener Leichen, und wahrscheinlich kann man sich nirgendwo anschaulicher davon überzeugen, dass totgeschwiegene Geschichte länger lebt und ein Untergrunddasein führt, so wie jene unter die Erde verbannten Flussläufe, die früher oder später doch wieder an der Oberfläche auftauchen. Die Ukraine ist ein gewaltiger und noch immer nicht zur Gänze aufgetauchter Strom aus dem Keller Europas. Es wäre zu einfach, die Ukraine nur durch das Prismader heutigen politischen Gegebenheiten wahrnehmen zu wollen, nämlich als ein Land, das mit all seinem Reichtum nicht ordentlich umgehen kann wegen einer fatalen Regierung und einer schwachen politischen Elite. Aber woher sollten wir eine starke Elite auch nehmen? Es konnte gar keine heranwachsen, denn von 1930 bis in die 1980er Jahre hinein fanden regelmäßig gründliche "Säuberungsaktionen" gegen die ukrainische Bildungsschicht statt.
Dieses Land ist seit jeher eine Kreuzung und Symbiose griechisch-byzantinischer und lateinischer Traditionen, ein besonderer Borschtsch (Nationalgerichte lassen sich auch als Metaphern für nationale Eigenheiten interpretieren). Seinen unverwechselbaren Geschmack verdankt er einer Komposition sehr unterschiedlicher Zutaten, und so sollte dieses Land im Zeitalter der Globalisierung wenigstens als jahrhundertealtes multikulturelles Laboratorium Interesse wecken. Denn hier findet sich fast alles, was das Erbe des Alten Europa ausmacht, von den Ruinen altgriechischer Kolonien über mittelalterliche Burgen und Schlösser bis hin zu orthodoxen Barockkirchen, die in Moscheen umgewandelt wurden, um danach zu Kirchen der Jesuiten zuwerden (und später wieder zu orthodoxen Gotteshäusern, allerdings nur noch russischen Typs, die dann bald zu sowjetischen Fabrik- und Lagerhallen wurden).
Außerdem gehören nicht zuletzt gut 600 Jahre jüdischer Kultur dazu (der Chassidismus ist das Erbe des ukrainischen Judentums), und in der Reihenfolge der Zubereitung kommt noch eine orientalisch-würzige Note mit deutlichen türkischen Einflüssen als direkte Folge von zwei Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen der Kosaken und Türken hinzu.
Trotz aller desaströsen Anstrengungen des Sowjetimperiums, diesen Borschtsch in eine fade Gulagbrühe zu verwandeln (eine ganze Reihe von "Zutaten" wurde liquidiert, Dutzende nationaler Minderheiten, die noch in den 1930er Jahren blühten, existierten zur Zeit des Zerfalls der Sowjetunion in der Ukraine nicht mehr), blieb der "Geschmack" erhalten, nicht nur im Alltag, sondern auch im tieferen Sinn, in einer prinzipiellen ukrainischen kulturellen Polyphonie: in der Toleranz gegenüber dem "Anderen", "Fremden" (zum Beispiel kann man in der Ukraine in jede Kirche gehen, ungeachtet dessen, welcher Konfession und welchem Patriarchat sie angehört, um zu beten, oder alltägliche Straßenszenen beobachten, wenn Bekannte und Freunde in verschiedenen Sprachen miteinander schwatzen).
Aber es gibt im ukrainischen Erfahrungsschatz auch schreckliche und durchaus lehrstückhafte Erfahrungen. Der nach dem Zusammenbruch des Zaren- und des Habsburgerreiches geführte ukrainische Unabhängigkeitskrieg von 1918 bis 1920 gegen Russland und Polen endete mit einer Niederlage. So wurden die zahlreichen europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts stets auch in die Ukraine getragen, und zwar mit besonderer Grausamkeit und so katastrophal, dass jahrzehntelang für Darlegungen und Diskussionen überhaupt nur ein schmaler Streifendes "Katastrophenspektrums" zugänglich war, den man entweder mit Zentral- und Westeuropa (das Grauen des Zweiten Weltkriegs) oder mit dem Rest der kommunistischen Welt teilte (Gulag, Verfolgung und Ermordung Andersdenkender).
Doch dass Stalins Völkermord in der Ukraine mehr Menschenleben als der Zweite Weltkrieg kostete (man schätzt etwa sechs Millionen ermordete Ukrainer); dass der Holocaust im Grunde genommen der zweite Akt der Katastrophe des ukrainischen Judentums war (der erste wurde bereits in den 1930er Jahren aufgeführt, als "jiddischsprachige Städtchen" in Gulags umgesiedelt wurden und die Ukraine einen elementaren Teil ihres kulturellen Reichtums verlor); dass die ukrainische Widerstandsbewegung, die Partisanenarmee, seit 1942 gegen die Naziokkupation und dann gegen die sowjetische Besatzung bis Mitte der 1950er Jahre kämpfte (der letzte ukrainische Partisan beendete am 25.August 1991 seinen Widerstand, einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine); oder dass Tschernobyl in psychologischer Hinsicht für die Ukrainer der Wendepunkt war, außerdem den totalen Bankrott des Sowjetregimes bedeutete (das dann gemäß dem Trägheitsgesetz zerfiel) - all diese gewaltigen, von Generation zu Generation nur mündlich weitergegebenen Gedächtnisschichten der historischen Erfahrung, über die man in offiziellen Formulierungen in der Ukraine erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit spricht (im November 2006 verabschiedete das ukrainische Parlament eine Deklaration, welche die Hungertragödie von 1933 als Genozid bezeichnet), sind außerhalb der Ukraine natürlich Terra incognita. Aber so kann es nicht bleiben, allein schon deshalb, weil ohne die "eliminierte(n) ukrainische(n) Geschichte(n)" die europäische Retrospektive des 20. Jahrhundert einen schiefen Blickwinkel erhält, und auch, weil ohne diese "Geschichte(n)" Historikern, Philosophen und Schriftstellern grundlegendes Material zur Reflexion über den moralischen Wert von Niederlagen im Schicksalslauf von Ländern und Völkern fehlen würde.
"Euch Ukrainern geht's doch gut", sagte mir vor kurzem mit einem neidischen Lächeln eine russische Journalistin, "ihr streitet euch, diskutiert, explodiert, kämpft für etwas, glaubt an etwas... doch wir, wir hatten das Große Russland` , aber was ist uns geblieben außer der Nostalgie an Stalin." (Als ich denRoman "Feldstudien über ukrainischen Sex" [Wien 2006] schrieb, quälte ich mich mit dem ukrainischen "Verliererkomplex", und weil ich nicht wusste, wie ich ihn bewältigen sollte, schwieg ich beleidigt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, wie teuer Völker ihren "Siegerkomplex" bezahlen.)
Es geht nicht nur um die Neubewertung der Erfahrung von Niederlagen. Wesentlicher ist, dass Europa mental noch immer im Nachkriegseuropa lebt, in einer Welt, die vom Kalten Krieg gestaltet wurde. Diese Gestaltung zu verändern, ohne die "Leichen im Keller" auszugraben, wird kaum möglich sein. Der "ukrainische Keller" muss freigelegt werden; davon bin ich felsenfest überzeugt. Die Erfahrungen eines Landes, das seine wie auch immer beschädigte Identität zu einer Zeit bewahrte, als es laut Logik der Geschichte kaum eine Chance hatte, wenigstens seinen Namen zu bewahren, eines Landes, das vor 15 Jahren bei Null anfing, seine Traditionen, einen "dritten Stand", eine Mittelklasse so wiederzubeleben, dass es in Bürgerbewegungen und Massendemonstrationen seine Rechte und Freiheiten einforderte, ein solcher Erfahrungsschatz sollte im gesamteuropäischen Bewusstsein nicht fehlen.
Dies sollte auch eine Frage der gemeinsamen Anstrengung sein, Licht in die finsteren Kellerecken Europas zu bringen, denn es ist äußerst riskant, sie mit ins 21. Jahrhundert zu nehmen. In finsteren Ecken lassen sich bequem dunkle Geschäfte machen, und solange businessmen verschiedener Nationen hinter verschlossenen Türen Transaktionen durchführen, kann - zum Beispiel - jener immer noch nicht endgültig gesicherte Sarkophag des Reaktors 4 endgültig auseinanderbrechen und ohne Rücksicht auf diplomatische Protokolle die EU und die Ukraine auf immer in einer einzigen Zone vereinen - in einer, die für Menschen unbewohnbar sein wird.
Und dann heißt es tatsächlich nur noch: no comments.
1 Übersetzung
aus dem Ukrainischen: Dr. Alexander Kratochvil,
Greifswald.