Ladenschluss
Die Liberalisierung wird bislang in den Ländern nur selten genutzt. Meist haben nur Handelsketten und große Einkaufszentren spätabends geöffnet. Harter Tarifkampf um Zuschläge erwartet.
Die Revolution findet nicht statt. Leute, die in einer Freiburger Supermarktkette gegen 21 Uhr Wein oder Kaffee besorgen wollen, haben zuweilen ein ungewohntes Gefühl: Sie spazieren allein durch das Regalgewirr. In einem Möbelhaus der Breisgau-Kommune herrscht spätabends fast Kirchenstille, von 20 Kassen sind nur zwei besetzt. In Trier hoffen gerade mal zehn Geschäfte bis 22 Uhr auf Kunden, und dies lediglich donnerstags. So läuft es landesweit, wie Jürgen Dehnert von Verdi Rheinland-Pfalz beobachtet: "Nur wenige Geschäfte haben nach 20 Uhr offen, in Innenstädten schließen manche Läden nun um 19 Uhr statt zuvor um 18 Uhr". Ausnahmen seien einige Handelsketten und große Anbieter wie etwa Outlet-Center.
Schlug in Berlin während des Weihnachtstrubels der Spätverkauf noch hohe Wellen, so verriegeln an der Spree inzwischen allenfalls zwei Dutzend Kaufhäuser ihre Türen erst um 22 Uhr. "Die Nacht wird nicht zum Tag", bilanziert Hubertus Pellengahr die Erfahrungen mit der Liberalisierung des Ladenschlusses. Damit sei auch in Zukunft nicht zu rechnen, fügt der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands des deutschen Einzelhandels an. Entpuppen sich frühere Grabenkriege in der Rückschau als Sturm im Wasserglas, wo sich doch kaum etwas ändert? Dieser Eindruck täuscht, die Kontroverse ist keineswegs ausgestanden. Zwar will die große Mehrzahl besonders kleinerer und mittlerer Geschäfte von Öffnungszeiten am späten Abend offenbar nichts wissen. Handelsketten und Einkaufszentren gedenken die neuen Möglichkeiten indes durchaus zu nutzen, wenn auch bislang nur moderat: Führt dies zu einer Kaufkraftverlagerung zu Lasten der Kleinen, beschleunigt dies den Konzentrationsprozess? Sind die Beschäftigten, mehrheitlich bei größeren Unternehmen tätig, wegen ungeliebter spätabendlicher Arbeit die Dummen? Zudem bahnt sich ein massiver Tarifkonflikt an: Die Arbeitgeber wollen Spätzuschläge für Arbeitnehmer abschaffen oder zumindest spürbar reduzieren - und dies wegen des liberalisierten Ladenschlusses.
Nach dem Vorpreschen des Berliner Senats mit der Freigabe der Öffnungszeiten an Werktagen bereits im November hat sich dieses Modell inzwischen weitgehend durchgesetzt. In zwölf Ländern dürfen Händler werktags im Prinzip rund um die Uhr Kunden umwerben, nur in Sachsen-Anhalt und Thüringen ist samstags um 20 Uhr Schluss. Rheinland-Pfalz und Sachsen haben als Limit 22 Uhr von montags bis samstags proklamiert. Allein in Bayern und im Saarland gilt noch die 20-Uhr-Regelung an Werktagen. Für Cornelia Haß, Sprecherin beim Verdi-Bundesverband, zeigen die Erfahrungen, dass vor allem Arbeitszeiten an Freitag- und Samstagabenden in Einkaufszentren Beschäftigte in Mitleidenschaft zögen, was besonders Mütter treffe: "Da werden oft Arbeitseinsätze ad hoc hin- und hergeschoben." Mit großer Sorge sieht Haß die Gefahr, dass kleinere Geschäfte wegen der Kaufkraftverlagerung zu den Großen bedroht würden: Die meisten Läden machten zwar am frühen Abend dicht, doch zu späterer Stunde wandere eben mehr Geld zu Handelsketten. Pellengahr hingegen glaubt nicht, dass die Konzentration im Einzelhandel durch die Freigabe des Ladenschlusses beschleunigt wird. In erster Linie hingen die Chancen eines Geschäfts von Standort und Sortiment ab. Kleinere Läden könnten sogar profitieren, wenn sie im Umfeld eines Kaufhauses abends ebenfalls länger öffneten.
Deren bislang geringe Nutzung stuft Pellengahr nicht als Beleg für ein Scheitern der Lockerungen ein, sondern als Indiz für den verantwortungsbewussten Umgang mit den neuen Möglichkeiten. Flächendeckend lange Öffnungszeiten seien gar nicht das Ziel, sondern in erster Linie mehr Freiraum für Verkauf bei speziellen Anlässen: beim langen Donnerstag, bei abendlichen Weinproben oder Modeschauen, im Umfeld von Volksfesten, vor Weihnachten. Pellengahr plädiert für Absprachen zwischen Händlern in Einkaufszonen. Verdi-Sprecherin Haß lobt das Dortmunder Modell, wo sich Ladenbesitzer, Gewerkschaft und Stadt auf ein gemeinsames Vorgehen verständigten: Im Prinzip ist um 20 Uhr Feierabend, von einzelnen Aktionswochen abgesehen.
Einen Hauptgrund für die bislang zurückhaltende Inanspruchnahme der Liberalisierung ortet Pellengahr in teuren Spätzuschlägen für die Beschäftigten. In der Regel wird von 18.30 Uhr an ein Plus von 20 Prozent und nach 20 Uhr von 50 Prozent gezahlt. Diesen Manteltarifvertrag haben die Arbeitgeber gekündigt. Pellengahr argumentiert, mit den neuen Öffnungszeiten könnten die gewohnten Zuschläge nicht mehr fortdauern. So habe der 50-Prozent-Aufschlag nach 20 Uhr während des alten Ladenschlusses nur in Ausnahmefällen eine Rolle gespielt.
Die Gewerkschaft begreift die Forderung der Arbeitgeber als Kampfansage: Es zeige sich jetzt, dass es sich bei der Liberalisierung weniger um Kundenfreundlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit, sondern um Lohnsenkungen drehe. Haß kritisiert, dass die Arbeitgeber angesichts normaler Öffnungszeiten bis spätabends das Verkaufen auch in solchen Phasen als zuschlagsfreie Normalarbeitszeit deklarieren wollten.