STAMMZELLGESETZ
Forscher fordern die Abschaffung der Stichtagsregelung. Ethiker haben Bedenken.
Es sind ein paar niedrige Zahlen, an denen sich viele Forscher stören. Zweimal die Eins, zweimal die Zwei, viermal die Null und dazwischen zwei Punkte: 01.01.2002. Wegen dieser Zahlen, besser gesagt wegen dieses Datums, kommt die Forschung nicht voran. Sagen Wissenschaftler. An diesem Datum darf nichts geändert werden und die Menschenwürde der Embryonen müsse geschützt werden. Sagen Ethiker. Es geht um das Leben kranker Patienten. Sagen Wissenschaftler. Die so genannte Stichtagsregelung im Stammzellgesetz, das der Bundestag im Januar 2002 verabschiedete, besagt, dass Forscher in Deutschland nur menschliche embryonale Stammzelllinien benutzen dürfen, die vor dem 1. Januar 2002 hergestellt wurden. Damit sollte verhindert werden, dass durch deutsche Wissenschaftler ein so großer Bedarf an Embryonen entsteht, dass diese extra dafür gezüchtet und getötet werden.
Doch nach fünf Jahren ist eine Änderung nötig. Darin waren sich alle Forscher unter den 24 Sachverständigen einig, die an der öffentlichen Anhörung im Forschungsausschuss teilnahmen. Grundlage der Anhörung war ein Gesetzentwurf der FDP-Fraktion ( 16/383 ), in dem die Liberalen die Abschaffung des Stichtages fordern sowie einen Verzicht auf die Drohung, dass deutsche Forscher bestraft werden können, wenn sie sich an internationalen Projekten beteiligen, die mit in Deutschland verbotenen Stammzellen arbeiten. Über sieben Stunden befragten die Abgeordneten die Experten zum Stand der Forschung sowie zu rechtlichen und ethischen Aspekten der Gesetzeslage.
Das Material sei veraltet und für die Forschung meist nicht mehr zu gebrauchen, lautete die einhellige Meinung der Wissenschaftler über die Probleme der deutschen Stammzellforschung. Als Herkunftsländer dienen die USA, Israel oder Schweden, weil dort die Gesetze liberaler sind. "Nur ein Prozent unserer Zellen wachsen überhaupt an", beklagte sich Professor Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biologie in Münster. Vielfach seien die Zellen schon mutiert. Dadurch würden die Forschungsergebnisse verfälscht. Der schlechte Zustand liege auch an der Zucht. Inzwischen hätten die Forscher mehr Ahnung davon, wie die Kulturen, in denen Stammzelllinien angelegt werden, beschaffen sein müssten. Statt nur ein Prozent würden jetzt 30 bis 40 Prozent anwachsen. Mit den Stammzellen eines einzigen Embryos könnten Forscher auf der ganzen Welt theoretisch "sehr, sehr weit kommen", zeigte sich Schöler überzeugt. Vor allem mit Zellen jüngeren Datums. Älteres Material sei schlechter. Deswegen müsse der Stichtag abgeschafft werden.
Professor Heinrich Sauer vom Physiologischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen unterstützte dies. "Dass die Kulturen nicht gut sind, liegt daran, dass wir die Bedingungen noch nicht verstanden haben. Auch dafür wollen wir forschen", sagte er. Er ist sich sicher, dass irgendwann ein gewisser Vorrat an "stabilen Linien" vorhanden sei, mit dem Wissenschaftler arbeiten könnten. Bis dahin sei es aber noch ein weiter Weg.
Die embryonalen Stammzellen, die Forscher in Deutschland verwenden dürfen, müssen im Ausland gezüchtet sein. Das war der Kompromiss zwischen denjenigen, die Stammzellforschung generell ablehnen, und denjenigen, die auch in Deutschland diese Forschung zulassen wollen. Durch diesen Kompromiss sollte verhindert werden, dass das Embryonenschutzgesetz von 1991 ausgehöhlt wird. Das besagt, dass Embryonen nicht zu Forschungszwecken getötet werden dürfen. Doch genau das geschieht: Forscher entnehmen wenige Tage alten Embryonen Stammzellen, die danach sterben die Embryonen.
Monatelange Diskussionen gingen dem Kompromiss voraus. 2001 forderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Forschung an menschlichen Embryonen zu ermöglichen. Sie empfahl der Politik, dafür den Import von Stammzellen aus dem Ausland zuzulassen. Für Aufregung sorgte die Ankündigung der Bonner Mediziner Oliver Brüstle und Otmar Wiestler im Juni desselben Jahres, embryonale Stammzellen aus Israel importieren zu wollen. Erlaubt wurde es den beiden erst im Dezember 2002, nachdem das Stammzellgesetz in Kraft getreten war. Vorher hatte sich die Enquete-Kommission des Bundestages gegen die Einfuhr von Stammzellen gewandt. Der von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ins Leben gerufene Nationale Ethikrat, der nach Schröders Wunsch eine Diskussion ohne "ideologische Scheuklappen" fördern sollte, votierte dagegen mehrheitlich für einen Import. Ende vergangenen Jahres hatte die DFG dann gefordert, dass Stammzellgesetz zu überarbeiten.
Ein zweiter Aspekt, den die Forscher kritisierten, war die Möglichkeit, dass sie verurteilt werden können, wenn sie sich von Deutschland aus an internationalen Projekten beteiligen. Professor Jörg Hinrich Hacker von der Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung der DFG betonte, diese Regel isoliere deutsche Forscher. Wissenschaftlicher Nachwuchs entscheide sich dagegen, an Stammzellen zu forschen oder gehe ins Ausland. Er plädierte dafür, das Gesetz auf die Wissenschaft im Inland zu beschränken. Für diese Regel sprachen sich ebenfalls die Rechtswissenschaftler aus. Sie argumentierten, dass die Justiz sich nicht einig sei, ab wann sich ein deutscher Forscher strafbar mache. "Stammzellforscher sind unsicher und können von uns Juristen keine klare Antwort bekommen, weil wir uns selbst nicht einig sind", sagte Professor Jochen Taupitz vom Institut für Europäisches und Internationales Medizinrecht der Universität Mannheim. Professor Reinhard Merkel vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Hamburg sah das genauso. Das Risiko, sich strafbar zu machen, schätzte er als erheblich ein. Außerdem stimmte er mit Taupitz überein, dass sich die Justiz nicht einig sei. "Ein Forscher müsste damit rechnen, vor dem einen Richter verurteilt zu werden und vor dem anderen nicht", so Merkel. Im Inland allerdings solle die Forschung an verbotenen Stammzellen strafbar bleiben, meinte Ulrike Riedel, die auch Mitglied der Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" von 2003 bis 2005 war. Bei völliger Straffreiheit befürchtet sie ständige Übertretungen des Gesetzes.
Gegen eine Änderung des Gesetzes waren indes die Ethik-Experten. Hille Haker , Professorin für Moraltheologie und Sozialethik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt meinte, die ethische Sachlage habe sich seit 2002 nicht geändert. Abgesehen davon sei der Staat berechtigt, das Recht der Wissenschaftler auf ungehinderte Forschung einzuschränken, weil der moralische Schutz der Embryonen höher zu bewerten sei. Sie nannte es "fragwürdig", dass manche Wissenschaftler aus Angst vor Wettbewerbsnachteilen den Embryonenschutz aufweichen wollten.
Mitglieder des Forschungsausschusses zeigten sich überzeugt, dass es im Bundestag zu einer Initiative kommen wird, das Gesetz zu ändern. "Ich hoffe, dass wir Ende des Jahres ein Ergebnis haben", sagte die technologiepolitische Sprecherin der FDP, Ulrike Flach, dieser Zeitung. Sie hatte schon einen Tag vor der Anhörung aufgrund der schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen verkündet, die Forscher bestätigten die Argumente, die die FDP in ihrem Gesetzesantrag vorbringe. "Im positivsten Fall" rechnet sie im Frühherbst mit einem Ergebnis. Die Ethiker hätten sie nicht überzeugen können. "Wir haben heute schon einen abgestuften Lebensschutz, zum Beispiel mit dem Paragrafen 218", so Riedel. Deshalb zähle für sie das Argument nicht, die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken verstoße gegen die Menschenwürde. Ihren eigenen Gesetzentwurf werde die Fraktion hinsichtlich der Kriminalisierung von Forschern noch einmal überarbeiten, da dort nicht explizit drinstehe, unter welchen Bedingungen Forscher in Deutschland straffrei bleiben. Die Probleme der Forscher überraschten sie nicht. "Die Entwicklung ist so gelaufen, wie wir sie schon 2001 vorhergesagt haben", sagte Flach. Sie befürchtet, dass es auch dieses Mal zu einem Kompromiss kommen werde, der die Forscher nicht vollständig zufrieden stellt. "Wir sind eine Art Reparaturbetrieb, weil es für eine wirkliche Freigabe der Embryonenforschung in Deutschland keine Mehrheit gibt."
"Es zeichnet sich ab, dass es eine Initiative aus einzelnen Fraktionen geben wird", sagte auch die Ausschussvorsitzende Ulla Burchardt (SPD) dieser Zeitung. Insbesondere, was den Punkt Strafandrohung angehe, hätten die Experten überzeugend dargelegt, dass allein schon die derzeitige Formulierung Unsicherheit bringe. In punkto Stichtagsregelung gebe es im Bundestag vier Gruppen. Zum einen die, die alles beim Alten belassen wollten. Dann die, die die Regelung ändern und zu einem späteren Zeitpunkt erneut überprüfen wollten. Die dritte Gruppe sei für einen "roulierenden Stichtag", also einer, der sich schrittweise verschiebe. Wieder andere wollten ihn völlig abschaffen. Sie persönlich halte die Variante, den Stichtag zu ändern und die Regel später erneut zu überprüfen, für die mehrheitsfähigste Variante. Sie bleibe auch "in der Logik des Gesetzes", das besage, dass die Tötung von Embryonen nicht gefördert werden solle.
Eines hatten die Forscher aber während der Anhörung betont: Hoffnungen auf baldige Therapien für Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer könnten sie nicht machen. "Ich denke, dass wir zu schnell zu viel erwarten. Bis zu klinischen Studien brauchen wir noch mehr Zeit", sagte Sauer.