FranCESCO FRANGIALLI
Tourismus kann demokratisieren, sagt der Generalsekretär der
UN-Welttourismusorganisation
Herr Frangialli, die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass sich die weltweite Zahl der Reisenden in andere Länder bis 2020 verdoppeln wird. Woher kommen die Touristen von morgen?
Die meisten neuen Touristen stammen aus den asiatischen Ländern. Der Trend ist übrigens weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit längst in vollem Gange: Bereits im vergangenen Jahr waren 18 Millionen Japaner im Ausland; außerdem 35 Millionen Chinesen und mehrere Millionen Koreaner und Singapurer. Wir gehen davon aus, dass vor allem China und Indien massiv zulegen und 2020 100 Millionen Chinesen und 40 Millionen Inder reisen werden. Aber auch Menschen aus weniger entwickelten Ländern wie Thailand, Indonesien und Malaysia werden viel häufiger unterwegs sein als heute.
Reisen diese neuen Touristen zu uns, so wie wir zu ihnen reisen?
Nein. Neunzig Prozent bleiben in ihrer Region; nur die übrigen zehn Prozent verteilen sich auf die übrigen Kontinente. Die Zukunft des Tourismus liegt in Asien und noch einmal in Asien: Vor vier Jahren hat Asien erstmals mehr Touristen begrüßt als der gesamte amerikanischen Kontinent. Seither verstärkt sich die Tendenz ständig. Sie können sich vorstellen wozu ein Boom der innerasiatischen Reisen führt. Auch den touristischen Aufstieg Afrikas sollte man allerdings nicht verachten: 2006 kamen acht Prozent mehr Reisende als 2005; der weltweite Anstieg der Touristenzahlen war nur halb so hoch.
Was treibt die Reisenden von morgen - wollen sie die Welt entdecken, Abenteuer erleben oder sich einfach nur erholen?
Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die Interessen sich ähneln: warum sollten Asiaten so viel anders denken als wir? Lediglich im Detail dürfte sich einiges ändern: Der in Europa und den USA ausgeprägte Drang nach Urlaub am Strand wird abnehmen; Asiaten zieht es gemeinhin nicht so sehr ans Wasser, nicht einmal wenn sie nicht am Meer leben.
Außerdem beobachten wir, dass die "neuen Touristen" stärker beeinflussbar durch Trends und Werbung sind: Was beziehungsweise wo ist in und out? Diese Fragen werden wichtiger sein als heute.
Ob Tourismus Armut lindert oder hervorruft, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Was sagen Sie und die Vereinten Nationen?
Natürlich gibt es Beispiele, in denen Länder so offensichtlich vom Tourismus profitieren, dass das niemand in Abrede stellen kann: Den Malediven zum Beispiel ist es ausschließlich durch ihre touristischen Einnahmen gelungen, die Liste der 50 am wenigsten entwickelten Länder der Welt zu verlassen. In anderen Ländern ist das ähnlich, wenn auch häufig nicht so deutlich. Andererseits kann Tourismus unbestritten zuweilen auch Armut nicht nur manifestieren, sondern geradezu hervorrufen: Denken Sie zum Beispiel an die Opfer von Sextourismus oder Kinderarbeit in der Tourismusindustrie.
Die UNWTO setzt sich seit 1999 in dem "Global Code of Ethics for Tourism" für verantwortungsbewusstes Reisen und die sensible Begegnung mit den Menschen in den bereisten Ländern ein. Was bringt so ein Code?
Eine wesentliche Motivation für den Code war die Erkenntnis, dass Tourismus viele positive, aber auch einige negative Begleiterscheinungen hat. In neun Punkten sprechen wir diese negativen Aspekte an mit dem Ziel, sie abzumildern - Kinderarbeit zum Beispiel oder auch die Ausbeutung von Prostituierten. Mit der Verabschiedung des Codes haben 140 Staaten sich auf das gleiche Ziel und die selbe Vision festgelegt. Das ist ein großer Schritt. Das Bewusstsein für die Probleme wurde geschärft - und als Folge hat sich einiges getan. Heute wäre zum Beispiel völlig undenkbar dass sich ein großer Reiseanbieter - beispielsweise aus Deutschland - an Kinderprostitution beteiligt. Natürlich gibt es noch Sextourismus und sexuelle Ausbeutung von Kindern; aber es gibt das nicht mehr auf dem offenen Markt. Und das ist kein kleiner Schritt.
Die Vereinten Nationen - für die Sie ja arbeiten - haben Prognosen für den Klimawandel durch den Ausstoß von Kohlendioxid veröffentlicht, die nicht nur in Deutschland seither heiß diskutiert werden. Kann man in Zeiten, in denen jede Fernreise mit bis zu sechs Tonnen Kohlendioxid zum Klimawandel beiträgt, noch guten Gewissens reisen?
Ich bin ehrlich gesagt etwas überrascht, dass die Öffentlichkeit das Thema ausgerechnet jetzt entdeckt. Die UNWTO hat sich bereits 2003 auf einer Konferenz zu Klimawandel und Tourismus dem Thema gewidmet.
Und was ist dabei herausgekommen?
Der Klimawandel ist ganz zweifelsohne ein Thema, das die Tourismusindustrie angeht - und zwar als Verursacher wie als Opfer: Skigebiete verlieren Schnee, Korallenparadiese ihre Farbe, Wüsten das Wasser. Aus all diesen Gründen verlieren Ferienparadiese ihre Touristen. Gleichzeitig ist die Tourismusindustrie ebenso zweifellos ein Verursacher des Klimawandels. Ich halte es aber für zu einfach zu sagen: Wer auf die Philippinen fliegt, verbraucht sechs Tonnen Kohlendioxid. Diese Rechnungen lassen grundsätzlich außer Acht, was jemand verbraucht, der zu Hause bleibt, Auto fährt und seine Wohnung heizt. Natürlich sollten wir uns um Alternativen bemühen. Aber leider geht das nicht immer und nicht unbegrenzt. Ein Beispiel: Wenn ich zu meinem Haus in die Alpen fahre, in eine Gemeinde, in der ich auch politisch aktiv bin und wo ich nicht nur Urlaub mache, dann kann ich das Auto oder das Flugzeug nehmen und in beiden Fällen CO2 produzieren. Oder ich fahre mit dem Zug und betreibe so quasi ein Atomkraftwerk mit. Was soll ich also tun? Was ich damit sagen will: Es ist nicht immer einfach, das Richtige zu tun. Die Welt ist komplex.
Nun gibt es aber auch in den Vereinten Nationen Stimmen, die von überflüssigen Fernreisen abraten.
Die UNWTO spricht sich für einen verantwortungsvollen Tourismus aus. Die Flugzeugbauer und Reiseveranstalter müssen gehalten werden, effizientere Maschinen zu bauen und diese voll auszulasten. Ich rufe aber nicht dazu auf, zu Hause zu bleiben. Nicht nur weil Reisen etwas ist, das niemandem vorenthalten werden sollte. Sondern auch weil es viel Gutes tut: Als ich neulich in Kambodscha war, beschäftigte ich einen jungen Führer mit fünf kleinen Kindern. Wenn niemand mehr dort hinfliegt, werden vielleicht tausende Tonnen CO2 gespart. Aber es wird auch Hunderten und Tausenden Familien ihre Existenzgrundlage genommen. Der Tourismus verschafft den Entwicklungsländern Einkommen in Höhe von 200 Milliarden Dollar pro Jahr! Klimawandel ist ein globales Thema - Armutsbekämpfung ist es auch!
Eine andere beliebte Frage ist, ob Tourismus einen demokratisierenden Effekt auf autoritäre Regime haben kann. In Burma zum Beispiel ruft die Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi seit Jahren aus ihrem Hausarrest dazu auf, das Land nicht zu bereisen sondern zu boykottieren.
Ich war in Burma und es ist in der Tat ein merkwürdiges Gefühl. Man besucht die Verantwortlichen der Tourismuswirtschaft -und alle tragen eine Uniform. Aber hat Aung San Suu Kyi wirklich deswegen Recht wenn sie sagt: Bleibt zu Hause, ihr unterstützt nur eine Militärdiktatur, die es nicht verdient hat? Ich glaube nicht.
Warum nicht?
Ich lebe in Spanien - also in einem Land, das nahezu 40 Jahre von einem brutalen Diktator regiert wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Tourismus in Spanien einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass Franco zurücktreten musste. Jedes Jahr tauchten Tausende Leute im Land auf, die nach völlig anderen und viel freieren Regeln lebten als die unterdrückte spanische Bevölkerung. Am Ende war die Diskrepanz so groß, dass die Diktatur keine Chance mehr hatte und die Spanier endlich in einer Demokratie leben konnten. Und ich bin sicher: Hätte Burma so viele Touristen im Land wie Thailand - die Militärjunta hätte keine Chance.
Das Interview führte Jeannette Goddar.