Herr Opaschowski, wo haben Sie zu-letzt Urlaub gemacht?
Im Frühjahr auf der kanarischen Insel Fuerteventura. Eine attraktive Mischung aus Amrum und Sylt - aber mit Sonnengarantie.
Sie sind also ein durchschnittlicher Tourist - Sonne, Sand und Spanien...
I'm not a tourist - klar ist doch: Touristen sind immer nur die anderen. Aber im Ernst: Das Klischee vom typischen Touristen ist doch ein elitärer Mythos, den sich ein paar Bildungsbürger haben einfallen lassen. Für die Einheimischen sind wir alle Touristen, die heute hier und morgen wieder fort sind.
Dieser "Tourist an sich": Was treibt ihn immer wieder in die Ferne?
Der Reisende von heute sucht mit einem Wort: Alles! Sonne, Ruhe und Natur, Kon-trast, Kontakt, Kultur und vieles mehr. Nach wie vor gilt: Reisen ist die populärste Form von Glück, wenn es auch meist erkauftes Glück ist. Es sind gerade nicht die ganz großen Ereignisse, die Menschen im Urlaub glücklich machen. Es geht mehr um Stimmung, Harmonie, Geborgenheit - alles, was man eigentlich auch zu Hause finden könnte. Wenn man nur wollte.
Das wird in 50 Jahren genauso sein?
Blicken Sie doch einmal 50 Jahre zurück: Auch 1957 wurde schon massenhaft gereist - wenn auch mehr nach Ruhpolding als nach Rio oder Palma de Mallorca. Selbst in Rezessionszeiten - wie zum Beispiel im Jahr 1967 - wurde alle 90 Sekunden in einem deutschen Reisebüro eine Mallorca-Reise gebucht. Jede halbe Stunde startete eine Chartermaschine mit deutschen Urlaubern an Bord. Das wird im Jahr 2057 nicht wesentlich anders sein. Drei Viertel der künftigen Senioren sind heute schon geboren. Die Reiseziele mögen sich ändern, die Reisesehnsüchte der Menschen nach Wärme, Ferne und Weite nicht.
Aber eine Pauschalreise zum Mond sollte 2057 schon drin sein…
Da irren Sie sich gewaltig. Die Reisebran-che der Zukunft muss zwar neue Wege gehen, mehr auf Fantasie als auf Fun setzen. Aber den Weltraumtourismus können Sie getrost vergessen, weil ihn kaum einer bezahlen kann. 50.000 Euro wird so ein Kurzurlaub im All im Jahr 2057 etwa kosten. Ich bleibe dabei: Das liebste Urlaubsland der Deutschen wird auch in 50 Jahren noch Deutschland sein.
Heute fahren rund 70 Prozent aller Deutschen jedes Jahr einmal in den Urlaub, viele hängen sogar noch den ein oder anderen Kurzurlaub dran. Urlaub scheint für uns etwas Unverzichtbares zu sein.
Das stimmt, aber was früher nur Erholung war, ist heute ein mehrdimensionales Motivbündel geworden. Jeder und jede setzt andere Akzente: Bei den Jugendlichen dominiert die Spaßorientierung, bei der Elterngeneration herrschen mehr die Motive des Abschaltens und Entspannens und der gemeinsamen Unternehmungen vor. Jugendliche fühlen sich auch erholt, wenn sie mit Schlafdefiziten nach Hause kommen.
Womit die Jüngeren einmal nicht im Trend liegen - gerade Wellnessurlaub ist doch im Moment schwer angesagt.
Für Jugendliche sind Abenteuerreisen attraktiver und billiger. Für alle anderen jedoch hat der Eventtourismus, nach der Devise "Wo ist am meisten los?", seinen Höhepunkt längst überschritten. Für sie gilt: Der Wellnesstourismus schwappt als Wohlfühlwelle durch alle Ferienhotels. Wer es sich leisten kann, lässt sich verwöhnen, bevor die Stressrallye zu Hause wieder beginnt. Allerdings: Auch Städtereisen und Kreuzfahrten verbuchen zweistellige Zuwachsraten.
Schon heute ist ein Viertel aller Rei-senden über 60 Jahre alt. Wie verändern die Senioren den Reisemarkt?
Tatsächlich steht dem Tourismus eine Revolution auf leisen Sohlen bevor. Die schrumpfende und alternde Bevölkerung lässt auch die so genannte "Weiße Indus- trie" immer grauer werden. Und nicht zu verachten: Das Gesamtvermögen der Rentner ist millionenschwer. Da entwickelt sich eine vielfältige 50plus-Szene von Familienmenschen und Naturliebhabern, Vielreisenden und Genussmenschen - ein eigenständiger Reisemarkt, in dem nicht "young and fun", sondern Wohlbefinden und Lebensqualität gefragt sind.
Und Singles und kinderlose Paare?
Sie werden die neuen Hätschelkinder der Touristikbranche sein. Jeder dritte Deut-sche bleibt lebenslang kinderlos; bei den Großstädtern ist es bald jeder zweite. Ein lukrativer Markt, der erst einmal verdient sein will. Diese Anspruchskonsumenten wollen im Urlaub etwas erleben, wovon der "familiäre Typ" nur träumen kann. Materiell unabhängig und ohne familiäre Verpflichtungen gehören für diese Zielgruppe Geld und Geltung zusammen. Sie reisen mit dem Gefühl, sich diesen Geltungskonsum "schließlich verdient zu haben". Das kann manche Anbieter schier zur Verzweiflung bringen.
Ungleich größer könnte diese Verzweiflung in 50 Jahren sein: dann, wenn in Deutschland als Folge des demografischen Wandels über zehn Millionen Menschen weniger leben. Gehen der Tourismusbranche bald die Kunden aus?
Wenn weniger Einheimische in die Ferien fahren, müssen eben mehr Gäste aus dem Ausland angezogen werden. Da gibt es für die Deutsche Zentrale für Tourismus viel zu tun. Erst kommen die Russen, dann die Chinesen und bald stehen auch die Inder vor der Tür. Wo ist das Problem? Chinesische Urlauber geben schon heute in Thailand mehr Geld aus als deutsche. Insofern wird die Urlauber-Invasion der Zukunft zu einer großen Herausforderung für den Deutschlandtourismus werden. Im übrigen auch für deutsche Küchenchefs: Denn von sieben Tagen auf Reisen wollen Chinesen nur an einem Tag europäisch essen.
Das scheint eher ungewöhnlich - die meisten Touristen lassen sich doch weder von exotischer Küche noch von Naturkatastrophen und Terroranschlägen wirklich vom Reisen abschrecken…
In der Tat: Die Urlauber haben mit Kriegen und Krisen zu leben gelernt. Sie wissen: Die heile Welt gibt es nicht mehr, Reisen ist immer mit Risiko verbunden. Und nicht für jedes Risiko gibt es eine Versicherung. Schließlich werden weltweit jedes Jahr etwa 150 Menschen durch Kokosnüsse erschlagen! Und auch bei Naturkatastrophen und terroristischen Anschlägen stellen sich trotz ständiger Krisenmeldungen Abstumpfungseffekte ein und die Problemverdrängung setzt sich durch. Touristen haben ein chronisches Kurzzeitgedächtnis, der Zeitfaktor wirkt und heilt. So erholt sich der Tourismus schnell nach jeder Krise.
Und wie sieht es aus mit Hartz IV? Dämpfen hohe Arbeitslosigkeit und steigende Arbeitszeiten den Urlaubsenthusiasmus der Deutschen nicht?
Schon, denn mein 1986 prognostizierter "Trend zu kürzeren Reisen" ist in Deutsch-land längst Wirklichkeit geworden. In wirt-schaftlich schwierigen Zeiten entwickeln die Bundesbürger eine neue geld- und zeitökonomische Reisephilosophie: Ihr traditioneller Drei-Wochen-Urlaub dauert heute keine zwei Wochen mehr. Außerdem machen immer mehr Bundesbürger Urlaub im eigenen Land.
Wenn man diesen Trend einmal weiterdenkt: Heißt das, wir machen alle bald nur noch eine Woche Jahresurlaub?
Wer ist hier wir? Jeder dritte Deutsche kann nicht einmal eine Woche im Urlaub verreisen - häufig aus Zeit- oder Geldnot. Unter den Bürgern, die weniger als 1.000 Euro Netto verdienen, liegt der Anteil der Nichtreisenden sogar bei 49 Prozent, zudem lassen viele Arbeiter ihren Urlaubsanspruch verfallen. Auch Selbstständige und Freiberufler gönnen sich deutlich weniger Urlaub. Man muss also leider sagen: Die Wohlstandsschere zwischen Mobilen und Immobilen, zwischen "Premium" und "Prekariat" öffnet sich weiter und macht auch vor dem Urlaub nicht Halt. In Zukunft wird sich dieser Trend noch verstärken.
Dabei ist in Zeiten von Massentouris-mus und Billigfliegerei das Reisen erschwinglicher denn je!
Ja, so sehr man den Massentourismus kritisieren mag: Er hat eine Demokratisierung des Reisens eingeleitet und ist kein Privileg von Begüterten oder Gebildeten mehr. Eine Urlaubsreise in die Türkei kann mitunter billiger sein als ein Wochenende in Kampen oder Garmisch.
Den Klimaschützern gefällt das gar nicht: Weil Fliegen heute so einfach und billig ist, werden die massenhaften Touristen zu einem ernsthaften Problem…
Die Tourismuskritik ist so alt wie das Rei-sen selbst. Dabei halten sich Licht- und Schattenseiten des Tourismus die Waage: Der Tourismus schafft Arbeit, aber er zer-stört auch die Natur. Der Tourismus bringt den Einheimischen Wohlstand, kann aber auch Selbstwertgefühl und Identität kosten.
Der Schweizer Tourismusforscher Jost Krippendorf ist weniger versöhnlich. Er bezeichnete Reisende als "Landschaftsfresser" - wofür es ja viele Beispiele gibt: Schneekanonen in den Alpen, gigantische Hotelkomplexe, wo einmal Wälder standen, Tauchexpeditionen durch bedrohte Korallenriffs. Üble Klischees, die dem Tourismus nicht gerecht werden?
Der Tourismus muss nicht zwangsläufig zerstörerische Tendenzen in sich tragen. Dem harten Tourismus als "Landschaftsfresser" steht eine sanftere Seite gegenüber, die nachweislich zu einer ökologischen und ästhetischen Aufwertung von Natur und Landschaft führt. Vielfach hat die touristische Entwicklung eine Rückbesinnung auf die eigene kulturelle Herkunft bewirkt. In Nepal etwa wurde der Abriss baufälliger Denkmäler verhindert. In Indonesien ist eine Neubelebung alter Traditionen feststellbar. Und in der Karibik prägt das amerikanische Fernsehen mit seinen Game-Shows und Soap-Operas den Lebensstil der Einwohner mehr als der Tourismus. Die Touristen verlassen die Inseln nach der Saison schnell wieder, während die Massenmedien rund um die Uhr eingeschaltet bleiben.
Der Tourist als Naturschützer und Kulturbewahrer - ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?
Warum nicht? Die Welt jedenfalls wäre ohne Tourismus ärmer. Andererseits stimmt es aber auch: Wir können uns den gedanken- und gewissenlosen Touristen nach dem Motto "Macht das Tor auf - ich habe bezahlt!" auf Dauer nicht mehr leisten. Ein neues Denken ist gefordert, um das Natur zerstörende, massenhafte Reisen zu verhindern - auch im Interesse der Branche. Sonst wird der Spruch Wirklichkeit: Erst geht die Kuh, dann geht der Gast - wen soll man da noch melken?
Das Interview führte Johanna Metz