Meinhard Miegel
Die Politik war lange unehrlich. Jetzt hat sie ein Glaubwürdigkeitsproblem in Sachen Altersvorsorge, so der "Rentenpapst".
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung und ihre Folgen für Deutschland sprechen einige Wissenschaftler von einem "Raubtier mit Krallen", andere wiederum warnen vor einer Panikmache. Wie lautet Ihre Einschätzung?
Ich kann weder mit der einen noch mit der anderen Position viel anfangen. Natürlich ist es falsch, Panik zu verbreiten. Umgekehrt ist es ziemlich einfältig, so zu tun, als seien die demografischen Veränderungen ein Sonntagsspaziergang. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie sich eine Bevölkerung verhalten wird, in der fast 40 Prozent das 60. und zehn Prozent das 80. Lebensjahr überschritten haben - die deutsche Wirklichkeit in etwa 40 Jahren. Denn dermaßen alte Bevölkerungen hat es in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben.
Bietet das Schrumpfen eines Landes auch Chancen?
Gewiss. Sowohl das Schrumpfen als auch das Altern. Deutschland, vor allem sein Westen, ist im internationalen Vergleich noch immer eine sehr dicht besiedelte Region. Würden hierzulande so viele Menschen pro Quadratkilometer leben wie in Frankreich oder Polen, würde die deutsche Bevölkerung heute nicht 82, sondern nur 41 Millionen zählen. So viele wie zuletzt 1871. Dabei haben weder Franzosen noch Polen das Gefühl, in menschenleeren Ländern zu leben. Zu Recht. Und auch das Altern bietet Chancen. Alte Gesellschaften sind friedfertiger, sicherheitsorientierter, vielleicht auch ein wenig umweltbewusster. Kriege jedenfalls dürften von Völkern mit Altenanteilen, wie wir sie in Kürze haben werden, nicht ausgehen.
Wie wirkt sich die demografische Entwicklung auf die Renten aus?
Ganz eindeutig: Die Kaufkraft der Renten sinkt - anhaltend und spürbar. Was da an Rentenerhöhungen in Aussicht gestellt wird, ist besser als nichts, aber trotzdem Augenwischerei. Denn wenn die Nominalrente um 0,5 Prozent erhöht wird und zugleich der Geldwert um 1,8 Prozent sinkt, dann verliert die Rente 1,3 Prozent ihrer Kaufkraft und das geschieht ständig. Deshalb kann sich der Rentner von heute, der nur von seiner Rente lebt, nicht mehr das leisten, was sich der Rentner des Jahres 1997 leisten konnte und der Rentner von 2017 wird sich nicht mehr leisten können, was sich der Rentner heute leisten kann.
Was ist Ihre Prognose für das Rentenniveau? Ist die Annahme der Regierung von 46,6 Prozent im Jahr 2020 realistisch?
Auf Stellen hinter dem Komma lasse ich mich nicht ein. Aber bis 2020 dürfte die Größenordnung stimmen. Das dicke Ende kommt, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre im Rentenalter befinden - so ab 2030. Dann wird das Rentenniveau auf etwa 40 Prozent und möglicherweise sogar noch darunter sinken.
Die OECD hat jüngst vor der Gefahr von Altersarmut in Deutschland für Geringverdiener gewarnt. Zu Recht?
An der Lage von Geringverdienern wird sich im Vergleich zu heute wenig ändern. Sie werden sich auch künftig im Alter auf Sozialhilfeniveau befinden. Allerdings wird ihr Kreis größer werden. Die eigentlichen Veränderungen werden bei jenen zwei Dritteln der Bevölkerung eintreten, die weder zu den Reichen noch zu den Armen zählen. Dieser Bevölkerungsteil muss erhebliche zusätzliche Vorsorgeanstrengungen auf sich nehmen, wenn er im Alter so gestellt sein will wie derzeitige Rentner ohne private Altersvorsorge gestellt sind.
Die Große Koalition hat als jüngste Rentenreform die Rente mit 67 verabschiedet. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Ich weiß, dass die Bevölkerungsmehrheit das anders sieht. Trotzdem hat der Arbeitsminister Recht. Bis 2029 - erst dann ist das neue Gesetz voll wirksam - wird die Lebenserwartung nochmals um annähernd vier Jahre steigen. Selbst wenn also der Renteneintritt bis dahin um zwei Jahre hinausgeschoben wird, wird sich die Rentenbezugsdauer noch immer überproportional verlängern. Das Gesetz ist deshalb das Mindeste, was geschehen musste. Möglicherweise wird der Renteneintritt sogar noch weiter verschoben werden müssen.
Wie müsste Politik aussehen, die sich an demografischen Voraussagen und Statistiken orientiert?
Sie müsste alles unternehmen, um das schwächer werdende demografische Fundament zu stärken und zu entlasten. Stärkung heißt vor allem: eine überzeugende Familienpolitik, die bestmögliche Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation, anhaltende Qualifizierung der älteren Bevölkerungsteile, möglichst viele hoch produktive, sprich wissens- und kapitalintensive Arbeitsplätze. Entlastung heißt vor allem: Runter mit den öffentlichen Schulden, Schaffung finanzierbarer sozialer Sicherungssysteme, kein Weiterwälzen von Aufgaben auf die nächste Generation.
Sind die möglichen Versäumnisse der Politik noch aufzuholen?
Ein Stück weit. Aber nicht ganz. Der heute 50-Jährige, der nicht privat vorgesorgt hat, wird sich schwer tun, die Löcher zu stopfen, die in den vor ihm liegenden 30 Jahren im Rentensystem aufreißen werden. Hier hätte das Umsteuern von 25 Jahren beginnen müssen.
War und ist die Politik ehrlich genug?
In der Vergangenheit war die Politik zutiefst unehrlich. Sie hat die Bevölkerung geradezu mutwillig in die Irre geführt. Das wirkt teilweise bis heute nach. Noch immer haben viele ganz falsche Vorstellungen von den Möglichkeiten und Grenzen einer gesetzlichen Alterssicherung. Inzwischen hat sich hier einiges verbessert. Viele Politiker sagen recht deutlich, was künftig zu erwarten ist. Das Paradox ist: Teile der Bevölkerung glauben ihnen nicht. Sie setzen bei der Altersvorsorge noch immer weitgehend auf den Staat, so als sei nichts geschehen.
Was erwartet Ihrer Meinung nach einen Berufseinsteiger von heute Mitte 20 am Ende seines Arbeitslebens?
Der heutige Berufseinsteiger wird am Ende seines Arbeitslebens eine Grundsicherung erhalten, die vielleicht zwei Finger breit über dem Sozialhilfeniveau liegt. Wem das reicht, der braucht sich keine weiteren Gedanken zu machen. Der hat ausgesorgt. Wer mehr haben will, muss schon jetzt anfangen vorzusorgen und zwar erheblich.
Würden Sie den Jungen raten, zu meutern und aus dem Generationenvertrag auszusteigen?
Das mit dem Generationenvertrag ist so eine Formulierung, die immer richtig und falsch zugleich war. Natürlich müssen die Jungen die Brötchen backen, die die Alten essen wollen und sie müssen diesen die Haare schneiden. Die Frage ist doch, wie der Transfer von Jung zu Alt organisiert werden soll. Bisher wurden den Jungen einfach die Mittel entzogen, die in die Taschen der Alten fließen sollten. Künftig werden die Menschen große Teile dessen, was sie im Alter benötigen, im Laufe ihres Lebens selbst ansparen müssen. Der Unterschied zum heutigen System ist beträchtlich. Durch die Ansparleistungen der künftig Alten wird nämlich Kapital gebildet, was wiederum hilft, die Produktivität der Arbeitsplätze zu erhöhen. Die Versorgung des alten Bevölkerungsteils wird dadurch erleichtert.
Sie haben bereits vor geraumer Zeit vor Schwierigkeiten gewarnt. Sind Sie frustriert, dass zu wenig gemacht wurde?
Frustriert ist der falsche Begriff, obwohl ich nicht verhehle, dass mich die Langsamkeit der Politik immer wieder in Erstaunen versetzt. Denn alles, was uns heute beschwert, hat sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt und war über lange Zeiträume vorhersehbar. Doch die Politik rührt immer erst dann die Hände wenn - bildlich gesprochen - die Kinder im Brunnen liegen. Vorausschauende Politik habe ich in all den Jahren nur selten erlebt. Gehandelt wurde immer nur auf kürzeste Sicht. Aber vielleicht liegt dies im Wesen menschlicher Gesellschaft im Allgemeinen und demokratischer Politik im Besonderen.
Das Interview führte Kerstin Münstermann.
Professor Miegel leitet das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn