Jenseits des Seniorenheims
Die 68er gehen in Rente. Und starten ihre zweite Revolution für ein selbstbestimmtes Leben.
Es kann Entwarnung gegeben werden: Wer jemals Angst vor dem Alter verspürt haben sollte, der darf dem Lebensabend nun ganz entspannt entgegen sehen. Zumindest dann, wenn er oder sie bereit und vor allem fähig ist, an jener "Altersrevolution" teil zu nehmen, die Petra und Werner Bruns sowie Rainer Böhme in ihrem gleichnamigen Buch ausgerufen haben. Zu verdanken ist diese Revolution aus Sicht des Autorentrios den rund acht Millionen Menschen der Geburtsjahrgänge zwischen 1940 und 1950, die nunmehr ins Rentenalter vorrücken. Die Rede ist von den 68ern.
"Sie werden das Alter in seiner bisherigen Form abschaffen", kündigen die Autoren vollmundig an. Und nicht nur das: "Einen ganzen Lebenszyklus, ja die Gesellschaft insgesamt" werde diese "protesterfahrene Generationengemeinschaft" umgestalten. Konkret bedeute dies das Ende für den Rückzug in Schrebergärten und Altersheime, Gebisscremes, Venensalben und Spezialunterwäsche für altersbedingte Inkontinenz würden gleich mitentsorgt.
Und wie wird sich das Leben jenseits des Renteneintrittsalters in Zukunft gestalten? Körperlich und geistig fit werden die junggebliebenen Apo-Omas und -Opas das Leben in vollen Zügen genießen. Nicht im Sinne des süßen Nichttuns, sondern anpackend und agil. Sei es, dass sie sich weiterhin in ihrem beruflichen Umfeld betätigen, sei es, dass sie noch einmal ein Studium aufnehmen. Und auch das erotische Privatleben wird nicht zu kurz kommen: So wie im Jahr 1961 das Patent für die Anti-Baby-Pille den pharmazeutischen Grundstein für die sexuelle Revolution legte, die die 68er maßgeblich gestalteten und auslebten, so eröffnet 37 Jahre später eine Pille names "Viagra" die Möglichkeit, "im hohen Alter weiter lustvoll zu lieben" und "die Sexualmoral Zug um Zug neu zu definieren". So sagen es die Autoren Bruns und Böhme voraus.
Warum dies alles so sein wird? Ganz einfach: Schon einmal haben die 68er die Gesellschaft revolutioniert. Was läge also näher, dass sie es wieder tun? "In ihrer Jugend haben die 68er das Alter bekämpft, nun, im Alter, werden sie den Jugendwahn bekämpfen. Unbequem, aufmüpfig, theoriebeladen, konfliktbesessen, rebellisch: So haben sie die Republik geprägt, und so werden sie auch dem Alter ihren Stempel aufdrücken." Die These klingt so einfach, das sie beinahe zu überzeugen mag. Aber eben nur beinahe.
Für die Autoren steht außer Frage, dass die "Altersrevolution" gelingen wird. Nicht zuletzt deswegen, weil die 68er über das benötigte Kapital - und zwar nicht nur im ökonomischen Sinne - verfügen. Bei ihrem vielzitierten "March durch die Institutionen" hätten sie zugleich das "kulturelle und soziale Kapital" gebildet. Gemeint sind die gesammelten Erfahrungen in Parteien, Bürgerbewegungen, Parlamenten, Kirchen, Vorständen und Aufsichtsräten sowie die dort geknüpften Netzwerke.
Und ihre finanzielle Zukunft stelle sich obendrein höchst erfeulich dar: 87 Prozent der 68er-Generation bezögen im Alter eine Rente oder Pension, 36 Prozent würden ihre Alterseinkünfte zudem aus Zinseinnahmen speisen, 33 Prozent aus einer Lebensversicherungsrente, 22 Prozent aus einer betrieblichen Altersversorgung und 18 Prozent aus Einnahmen aus Mieteinnahmen für Häuser, Wohnungen und Grundstücke. Hinzu kämen Erbschaften - laut Angaben des Statistischen Bundesamtes in Höhe von einer Billion Euro -, die auf die 68er zukämen oder bereits übergegangen seien. "Die brilliante Einkommenssituation verschafft der 68er-Generation ein finanzielles Ruhepolster und mehr als nur auskömmliche Lebensverhältnisse. Andere Lebensbereiche werden davon tangiert. Wer im Alter nicht mehr für bessere ökonomische Bedingungen sorgen muss, der kann mehr investieren, um sich gegen das aufzulehnen, was den eigenen Vorstellungen widerspricht", bilanzieren die Autoren.
Spätestens an dieser Stellle tun sich große Fragezeichen auf: Wo bleiben etwa all die Diskussionen um leere Rentenkassen oder die unterfinanzierte Pflegeversicherung? Wie steht es um die drohende Altersarmut und die deswegen allen Orten angemahnte private Vorsorge? Die Autoren machen es sich einfach: Man behaupte ja nicht, dass es keine Altersarmut unter den 68ern gebe. Punkt. Keine weitere Erläuterung. Nur ein Warnhinweis: Die Kinder der 68er müssten damit rechnen, dass sie nur in den Genuss erheblich kleinerer Erbschaften kommen werden, da ihre konsumorientierten Eltern weniger rigoros sparen und einen größeren Teil ihres Vermögens in neue Autos und Fernreisen, Feriendomizile auf Mallorca und der unvermeintlichen Toskana oder Aktienfonds inves- tieren würden.
Diese eher lapidar eingestreute Hinweis offenbart den Schwachpunkt des gesamten Buches: Der Untertitel "Wir wir in Zukunft alt werden" wird ad absurdum geführt. Denn geliefert bekommt der Leser keine Antwort auf diese brennende Zukunftsfragen, sondern lediglich eine - wenn auch durchaus mögliche - Variante des Älterwerdens, die allenfalls von einer sehr übersichtlichen gesellschaftlichen Gruppe gelebt werden wird. Denn wenn Petra und Werner Brunsund Rainer Böhme von der 68er-Generation schreiben, dann meinen sie offenbar doch nur die Vertreter einer gut situierten und höher gebildeten Schicht. Ob derBauarbeiter oder die Krankenschwester an die Früchte dieser "Altersrevolution" herankommen werden, darf bezweifelt werden.
Und an einem anderen Manko leidet das Buch: Von altersbedingten Krankheiten und Gebrechen scheinen Vertreter der 68er-Generation prinzipiell verschont zu bleiben. Und wenn nicht, dann bleibt ihnen der Ausweg in den selbstgewählten Freitod. Alten- und Pflegeheime spielen deshalb für die 68er auch keine Rolle. Im Gegenteil: "Für viele der neuen Alten wird allein die Vorstellung von einem Dasein in Pflegeheimen oder Sterbehospizen am Ende ihres Lebens unerträglich sein. Ihre Devise lautete stets, ein Leben in Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zu führen. Das wird auch für den Übergang in den Tod gelten." Das klingt dann doch ein wenig sehr einfach. Und so wundert es auch nicht, dass diesem Thema gerade mal sechs Seiten eingeräumt werden, die inhaltlich allenfalls die Oberfläche ankratzen.
Doch das Hauptproblem des Buches liegt weniger in seinen Aussagen. Es ist einfach nur falsch deklariert worden: Denn das Trio Bruns und Böhme haben weniger ein Buch über das zukünftige Leben im Alter vorgelegt, sondern ein in die Zukunft projiziertes und äußerst wohlwollendes Porträt über die 68er. Unter diesem Blickwinkel liest sich das Werk auch durchaus vergnüglich. Allerdings hätten die Autoren - sie selbst gehören den Jahrgängen 1954 bis 1960 an - dann doch ein paar kritische Fragen mehr an den "Alterslifestyle" der Jahrgänge 1940 bis 1950 stellen dürfen. Vielleicht werden diese Fragen in jener Flut von Publikationen auftauchen, die im kommenden Jahr - 40 Jahre nach 1968 - zu erwarten ist.
Wer auf eine handfestere und fundiertere Darstellung über die "Zukunft des Alterns" zurückgreifen möchte, dem sei die gleichnamige Publikation empfohlen, die der Biologe und Präsident der Max-Planck-Gesell- schaft, Peter Gruss, herausgegeben hat. Ein gutes Dutzend international renommierter Wissenschaftler bieten darin einen Überblick, wie sich die Herausforderungen des Alterns mit Hilfe der Medizin und der eigenen Lebensführung meistern lassen und wo die Grenzen liegen.
Einige der insgesamt zwölf Beiträge - vor allem jene über die biologischen Aspekte des Alterns - konfrontieren den Leser dabei allerdings mit den harten Fakten und der nicht gerade leicht verdaulichen Sprache der Wissenschaft. Aber zumindest muss sich dieser Band nicht nachsagen lassen, er sei im Untertitel falsch deklariert worden.
Verlag C. H. Beck, München 2007; 234 S., 16,90 ¤
Die Altersrevolution Wie wir in Zukunft alt werden.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007; 239 S., 19,95 ¤