Nordrhein-Westfalen
Die schwarz-gelbe Landesregierung hat das Schulsystem umgekrempelt. Jetzt soll der nach Geschlechtern getrennte Unterricht folgen.
Unter ihresgleichen können Sascha und David frei über ihre Sexualität reden. Die beiden 15-jährigen Schüler der Dortmunder Heinrich-Böll-Gesamtschule besuchen ohne Mädchen den Biologieunterricht.
Dort sprechen sie unbekümmert über Schwangerschaft, Pornofilme und die Pille für den Mann. "Wir Jungs verstehen uns untereinander viel besser", sagt Sascha. Mädchen würden da nur stören. Der nach Geschlechtern getrennte Unterricht von David und Sascha ist noch selten in Nordrhein-Westfalen. Aber noch in dieser Woche wird der Landtag in seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause das Dortmunder Konzept fördern: Die regierenden Fraktionen von CDU und FDP wollen Jungen und Mädchen stärker differenziert unterrichten. Ihrer Meinung nach gehören Jungen zu den Bildungsverlierern, Mädchen tendenziell zu den Gewinnerinnen.
Deshalb sollen beide Gruppen unterschiedliche Lehrmaterialien erhalten, öfter mal getrennte Kurse zum Beispiel zur Selbstbehauptung belegen können und nach Geschlechtern schärfer analysiert werden. Lehrerinnen und Lehrer sollen in Fortbildungen erfahren, wie unterschiedlich die Biografien und Lernmöglichkeiten von Jungen und Mädchen sind und dies fortan auch in ihrem Unterricht berücksichtigen.
Diese Neuerung an den Schulen in Nordrhein-Westfalen ist nur eine von vielen, auf die Sascha und David treffen werden. Schon im Landtagswahlkampf 2005 erklärten CDU und FDP die Bildungspolitik zu ihrem Schwerpunkt. Seitdem die schwarz-gelbe Koalition vor zwei Jahren im bevölkerungsreichsten Bundesland an die Regierung kam, verkündet die christdemokratische Schulministerin Barbara Sommer beinahe monatlich eine Novelle. Die ausgebildete Lehrerin avancierte zur bekanntesten - und umstrittensten - Ministerin im Kabinett von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). Sommer vollzog eine ideologische Wende in der seit 39 Jahren von Sozialdemokraten und zuletzt auch von Grünen bestimmten Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen.
Geradezu symbolisch wirkte ihre erste Amtshandlung: Sie nahm gerade erst gefällte rot-grüne Beschlüsse wieder zurück, führte die Halbjahreszeugnisse wieder ein und beendete das Fach "Naturwissenschaften". Fortan wurde es wieder in Biologie, Chemie und Physik unterteilt.
Unter der CDU-Politikerin Sommer werden auch die Kopfnoten in den Zeugnissen wieder eingeführt: In dem in dieser Woche beginnenden Schuljahr werden alle Schülerinnen und Schüler von der dritten Klasse bis zum Abitur sechs zusätzliche Noten zu ihrem Sozialverhalten bekommen. Diese Noten werden etwa auch in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen vergeben. Doch nur in Nordrhein-Westfalen steht die Bewertung der Mitarbeit und des sozialen Verhaltens demnächst auch im Abiturzeugnis. Lehrerinnen und Lehrer an Rhein und Ruhr sollen ihre Zöglinge in den Kategorien Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt sowie Selbstständigkeit bewerten. Zudem müssen sie deren Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit benoten. Die Skala geht von sehr gut bis unbefriedigend.
Schon im Wahlkampf hatten die Christdemokraten in Nordrhein-Westfalen damit geworben, die Leistung der Schülerinnen und Schüler wieder in den Mittelpunkt zu rücken und auch keine Unterrichtsstunden mehr ausfallen zu lassen. "Dies hat für uns absolute Priorität", sagte Sommer. Sie kündigte an, pro Schuljahr 1.000 neue Lehrerinnen und Lehrer einzustellen.
Eine Idee, die Andreas Meyer-Lauber begrüßt. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen lässt ansonsten allerdings kein gutes Haar an der Schulpolitik des Landes. "Es ist ein beispielloser Durchmarsch der Konservativen", moniert Meyer-Lauber. "Lehrer wurden noch nie so an der kurzen Leine gehalten", so der Gewerkschafter. Obwohl die Landesregierung die Selbstständigkeit propagiere, schränke sie die Schulen immer weiter ein. "Die neuen Lehrpläne lassen keinen Freiraum mehr", sagt Meyer-Lauber.
Eine "konservative Wende" in der Bildungspolitik kann Christian Lindner nicht erkennen. Der Generalsekretär der FDP in Nordrhein-Westfalen sagte dieser Zeitung: "Das alte Rechts-Links-Denken funktioniert doch nicht mehr." Die Koalition stelle keine Systemfrage, sondern wolle die Kinder individuell fördern, zum Beispiel durch zusätzlichen Sprachunterricht. Für das kommende Schuljahr verordnet der Generalsekretär der Freidemokraten seiner Koalition eine kleine Verschnaufpause: "Jetzt müssen wir unsere vielen Reformen erst einmal wirken lassen", betonte Lindner.
In der Tat hat sich die Laufbahn eines durchschnittlichen Schulkindes in Nordrhein-Westfalen seit Beginn der schwarz-gelben Regierungskoalition im Jahr 2005 stark verändert. Tests stehen auf der Tagesordnung. Schon mit vier Jahren prüfen Erzieherinnen und Erzieher die Sprachfähigkeit der Kindergartenkinder in einem einstündigen Spiel. Das ist bundesweit einmalig - und wird von Lehrerverbänden, Gewerkschaften und Parteien gleichermaßen gelobt. In die Kritik gerät nur die Konsequenz aus dem einstündigen Test: Erreicht das Kind nicht die vorgeschriebene Punktezahl, hat es Anspruch auf Sprachförderung. Wie umfangreich sie ausfallen wird und ob tatsächlich jedes schwache Kind gefördert wird, ist jedoch noch offen. Denn offenbar wurde das Ministerium von der hohen Anzahl der sprachlich auffälligen Kinder überrascht.
Nach dem Kindergarten wählen erstmalig die Eltern die Grundschule aus: Die so genannnten Grundschulbezirke, nach denen der Wohnort über die Schule entscheidet, wurden von der schwarz-gelben Landesregierung aufgelöst. Einmal in der ersten Klasse angekommen, sollen die "I-Dötzchen" schon im ersten Halbjahr Englisch lernen. Ihre Erfolge werden dann in der dritten Klasse mit den so genannten Lernstandserhebungen überprüft - ein weiterer neu eingeführter Test, der sich in der achten Klasse noch einmal wiederholen wird. 180.000 Schülerinnen und Schüler wurden im vergangenen Schuljahr in den Fächern Mathematik und Deutsch geprüft. Die Ergebnisse fließen in ihre Halbjahreszeugnisse ein, haben aber ansonsten keine Konsequenzen. "Diagnose ohne Therapie" kritisiert die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Zur mittleren Reife steht eine weitere Neuerung an: Die zentralen Prüfungen in der Klasse zehn. Gehen die Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe, schreiben sie auch dort seit dem vergangenen Schuljahr zentrale Abiturklausuren. Bislang konnten die Abiturienten ihre Noten im Durchschnitt sogar verbessern - auch das ein erklärtes Ziel der Landesregierung. Sie will mit anderen Bundesländern konkurrieren. Ein "Benchmark in der Bildung setzen", sagt Ministerpräsident Rüttgers, sprich: Nordrhein-Westfalen will in der Schulpolitik Maßstäbe setzen, an denen andere Länder nicht vorbeikommen.
Unumstößlich scheint für NRW-Bildungsministerin Barbara Sommer nur eines zu sein: das dreigliedrige Schulsystem. Nach ihrem Willen soll die Hauptschule gestärkt werden, müssen sich Gesamtschulen an den Gymnasien messen lassen. In der "Qualitätsoffensive Hauptschule" wurden insgesamt 135 Hauptschulen auf einen Ganztagsbetrieb umgestellt. "Wir brauchen ein Nebeneinander von Haupt- und Realschulen und Gymnasien", betont Sommer immer wieder.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Helmut Stahl, hält ebenso am bisherigen System fest. "Die Diskussion darüber ist dreißig Jahre alt", sagt Stahl. Seitdem hat es aus seiner Sicht keine neuen Argumente für eine Abschaffung der Hauptschulen und Gymnasien gegeben. "Nicht die Schulform ist entscheidend, sondern das, was im Unterricht passiert", hebt der Christdemokrat hervor.
Diese Überzeugung teilen mit Sommer und Stahl inzwischen nicht mehr alle christdemokratischen Bildungspolitiker in den anderen Bundesländern. Zwar hat der Ministerrat in Baden-Württemberg gerade einem Gesamtpaket zur Stärkung der Hauptschule zugestimmt, das insgesamt Mittel in Höhe von 26 Millionen Euro jährlich umfasst. In Hamburg aber will die CDU beispielsweise ein zweigliedriges Schulsystem einführen, auch Schleswig-Holstein plant, Haupt- und Realschulen zu so genannten Regionalschulen zusammen fassen. Und in Hessen strebt die CDU von Ministpräsident Roland Koch, an, an allen Hauptschulen Ganztagesangebote zu etablieren. Zwar lehnt Koch eine vollständige Abschaffung dieser Schulform ab - in seinem Bundesland gibt es allerdings kaum noch reine Hauptschulen. Die meisten sind mit Realschulen verbunden. Viele entscheiden erst nach der sechsten Klasse über den Bildungsweg eines Kindes.
In Nordrhein-Westfalen sind die Schülerinnen und Schüler ab der fünften Klasse hingegen strikt nach Schulform getrennt. Dagegen macht selbst die CDU-Basis mobil. Zwei christdemokratisch regierte Kommunen aus dem eher konservativen Münsterland wollen ihre Hauptschulen zugunsten einer Gemeinschaftsschule abschaffen. Die Kleinstädte Horstmar und Schöppingen wollen im Schuljahr 2008/2009 mit ihrem Modell starten und zunächst Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur siebten Klasse gemeinsam unterrichten. Die Erlaubnis des Ministeriums hingegen steht noch aus.