KIRCHEN
Christliche Religionsgemeinschaften hegten lange Vorbehalte gegenüber den Menschenrechten
Die Menschenrechte seien aus christlichen Wurzeln erwachsen, versichert der Aachener Bischof Franz Mussinghoff. Man ist geneigt, dem Kirchenrechtler und stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zuzustimmen - und doch ist Skepsis geboten, bedenkt man, wie schwer sich die Kirche mit den Menschenrechten tat und tut. "So unbezweifelbar der Gedanke der Menschenrechte sich unter christlichem Einfluss entwickelt hat", stellt auch Bischof Wolfgang Huber fest, "so unbezweifelbar ist zugleich, dass er gegen erheblichen kirchlichen Widerstand durchgesetzt werden musste." Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland(EKD) räumt ein, dass auch die evangelischen Kirchen Europas allzu lange erhebliche Vorbehalte gegenüber den Menschenrechten hegten.
Als Begründung für die historischen klerikalen Widerstände verweisen beide, katholische wie evangelische Kirche, auf die antikirchlichen Auswüchse der Französischen Revolution, die die rechte Einsicht in die Idee der Menschenrechte verhindert hätten. Teufelszeug, mochte sich Gregor XVI. gedacht haben, wenn der Pöbel sich selbst regieren will, wenn Simpel denken und sagen können, was sie mögen, wenn sie gar selbst bestimmen, was sie glauben. Als Papst formulierte er wohlgesetzt 1832 in einem Lehrschreiben: Gewissensfreiheit sei ein "Wahnsinn" und Religionsfreiheit gar die "Pestilenz". Sein Nachfolger Pius IX. bestätigte gut 30 Jahre später diese Einstellung; es widerspreche dem "ewigen natürlichen Gesetz" und der Lehre der Kirche anzunehmen, der Wille des Volkes begründe das oberste Gesetz. Natürlich seien die Menschen vor Gott als seine Geschöpfe alle gleich, aber damit hätten sie noch keineswegs gleiche Rechte. Meinungs- und Pressefreiheit untergrabe bloß die öffentliche Moral.
Die Päpste gaben sich als Hüter staatlicher Ordnung und wollten die hierarchischen Strukturen der Kirche gewahrt wissen. Instinktiv spürten sie wohl, dass sie ihre Autorität und weltliche Macht neu zu begründen hätten, geständen sie den Menschen Freiheit und Selbstbestimmung zu. Aber auch die weltlichen Regenten der evangelischen Landeskirchen mochten auf ihre Leitungsgewalt nichts kommen lassen, trotz der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts und trotz Luthers Lehre, dass den Christenmenschen Freiheit gebühre und Herrschaft in der Kirche nicht sein dürfe.
Nach dem Bannspruch Pius' IX. gegen Demokratie und Gewissensfreiheit dauert es 99 Jahre, ehe ein Papst die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte auf den Schild hob. Die so genannte Friedensenzyklika "Pacem in terris" von Johannes XXIII. aus dem Jahr 1963 gilt heute als die katholische Magna Charta der Menschenrechte: Jedes menschliche Zusammenleben müsse darauf gründen, dass "jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist"; aus seiner Natur heraus habe er Rechte und Pflichten, die allgemein gültig, unverletzlich und unveräußerlich seien. Ein Jahrzehnt später formulierte auch die deutsche Evangelische Kirche in einer Denkschrift: "In ihrem universalen Geltungsanspruch setzen die Menschenrechte voraus, dass Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit allen Menschen in derselben Weise zukommen und dass die Menschen zur Solidarität untereinander aufgerufen sind."
Seitdem gehören die Menschenrechte zum Kern der Lehre und Verkündigung der christlichen Kirchen. Nach ihrer beschämenden Lethargie gegenüber den Menschenrechtsverletzungen des Naziregimes mahnen Kirchenleitungen nun fast überall in der Welt - oft unerschrocken und uneigennützig - deren Achtung und Verwirklichung an. Beherzt setzen sich christliche Gruppen, oft unter eigener Lebensbedrohung, für Mitmenschen ein, wo deren Grundrechte mit Füßen getreten werden - in den von Gewalt bestimmten Gesellschaften Lateinamerikas ebenso engagiert wie gegen die entwürdigende Behandlung von Asylbewerbern in Deutschland.
Die Parteinahme der Kirchen für jene, deren Menschenrechte missachtet werden, richtet sich gegen die Täter: Repräsentanten von Staatsgewalt, Guerillas, Konfliktparteien, Wirtschaftsbosse. Schwerer aber tun sich die Kirchen bis heute, wenn sie selbst als Institutionen angesprochen werden, die grundlegende Rechte ihrer Mitglieder verletzen. Bedeutet doch etwa die Religions- und Gewissensfreiheit, dass den Gläubigen in ihren Kirchen die Selbstbestimmung über ihre Glaubenshaltung, die eigene freie Entscheidung über ihre Zugehörigkeit, mithin auch über einen Austritt zuzubilligen ist. So halten Kirchenrechtler es für ein Problem, wenn ein Katholik in Deutschland seine Kirchenmitgliedschaft nur gegenüber einer staatlichen Instanz, nicht aber vor einer kirchlichen aufkündigen kann. Das bahnbrechende Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" war heftig umstritten. Es begründete zwar die Gewissensfreiheit des Menschen auf seiner Würde und verlangt von den Staaten, die Freiheit aller Religionen zu gewährleisten, spart aber das Thema "Freiheit in der Kirche" völlig aus.
Die Kirchen nehmen sich in ihren Menschenrechtserklärung auffallend selten selbst kritisch in den Blick. Dabei üben die Kirchenleitungen durchaus Macht aus und müssen Konflikte lösen. Ihr Engagement verliert aber an Glaubwürdigkeit, wenn eigenes Handeln dem nicht entspricht, was sie von anderen Institutionen verlangen. Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Huber übersetzt die Trias der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Solidarität - im dritten Glied höchst modern und im demokratischen Sinn mit "Teilhaberschaft" und leitet daraus Konsequenzen für das kirchliche Arbeitsrecht ab. Dennoch verfahren evangelische Dienstgeber oft nach Gutsherrenart mit ihren Dienstnehmern, sodass kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über mangelnde und unwirksame Mitbestimmung in den Kirchen klagen.
Die Leitung der katholischen Kirche wiederum hat noch nicht alle Schatten der menschenrechtsverletzenden Inquisition hinter sich gelassen, vor allem bei Konflikten zwischen Laien und Klerikern. Da verweigert der Vatikan etwa einer hoch qualifizierten Theologin, um die sich vier, fünf Universitäten bemühen, die für die Berufung auf eine Professorenstelle nötige kirchliche Lehrerlaubnis. Und ohne kirchenrechtlich vorgeschriebenes Gehör wird aufgrund windiger Gutachten schließlich gegen die Kandidatin entschieden. Die Theologin legt gemäß dem Kirchenrecht Widerspruch ein, dem wird stattgegeben - doch die rechtswidrige Entscheidung wird nicht zurückgenommen.
Solange die Inhaber kirchlicher Macht sich für gottebenbildlicher halten als normale Gläubige und deren Menschenrechte auch in der Kirche nicht wahren, bleibt der Einsatz der Kirchen für die Würde und Rechte des Menschen nicht über jeden Zweifel erhaben.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Bonn.